23

Ich saß wieder in dem kleinen Wartezimmer. Derselbe Polizist beugte sich über mich und reichte mir ein Glas Wasser, und jemand hatte seine Hand auf meinen Arm gelegt. Ich saß ganz still und ließ den Fußboden, die Wände und die Gestalten von Frank und dem Polizisten wieder feste Form vor meinen Augen annehmen.

«Wie dumm von mir», sagte ich. «Aber es war so heiß da drinnen.»

«Ja, die Luft verbraucht sich da drinnen sehr schnell», sagte der Polizist. «Es ist schon oft über die mangelhafte Lüftung geklagt worden, aber getan wurde bisher nichts dagegen. Es ist schon mehr als eine Dame in dem Zimmer in Ohnmacht gefallen.»

«Fühlen Sie sich jetzt besser, Mrs. de Winter?» fragte Frank.

«Ja, danke, viel besser. Mir wird gleich wieder ganz wohl sein. Warten Sie bitte nicht hier auf mich.»

«Ich werde Sie nach Manderley zurückfahren.»

«Nein.»

«Doch, Maxim hat mich darum gebeten.»

«Nein, Sie müssen bei ihm bleiben.»

«Maxim bat mich, Sie nach Manderley zurückzubringen.»

Er nahm meinen Arm und half mir auf. «Glauben Sie, daß Sie bis zum Wagen gehen können, oder soll ich lieber vorfahren?»

«Oh, gehen kann ich schon, aber ich möchte hier bleiben. Ich will auf Maxim warten.»

«Maxim wird aber vielleicht noch längere Zeit aufgehalten werden.»

Warum sagte er das? Was meinte er damit? Warum sah er mich nicht an? Er führte mich einfach durch den Korridor und die Stufen hinunter auf die Straße. Maxim wird vielleicht noch längere Zeit aufgehalten werden .

Ohne zu sprechen, gingen wir zum Marktplatz. Frank öffnete die Tür seines kleinen Morris', half mir hinein, setzte sich hinter das Steuer und ließ den Motor an. Wir fuhren durch die leeren Straßen aus dem Städtchen hinaus, bis wir auf die offene Landstraße kamen, die nach Kerrith führte.

«Warum kann es noch lange dauern? Was kann denn jetzt noch geschehen?»

«Es ist möglich, daß die verschiedenen Zeugen noch einmal aussagen müssen.» Frank blickte starr vor sich auf die staubigweiße Straße.

«Aber da ist doch gar nichts mehr zu sagen, ich verstehe das nicht.»

«Man kann nicht wissen», entgegnete Frank. «Der Vorsitzende kann vielleicht noch irgendwelche Fragen haben. Tabbs Aussage hat der ganzen Sache eine neue Wendung gegeben. Der Vorsitzende muß infolgedessen seine Fragen aus einem neuen Gesichtswinkel stellen.»

«Wieso eine neue Wendung? Was meinen Sie damit?»

«Sie haben doch Tabbs Aussage gehört und was er von dem Zustand des Bootes sagte. Man zweifelt jetzt natür-lich daran, daß es sich um einen Unglücksfall gehandelt hat.»

«Aber das ist doch töricht, Frank, das ist doch geradezu albern. Die hätten diesen Tabb gar nicht anhören sollen. Wie kann er denn nach so vielen Monaten feststellen, wo die Löcher herrühren? Was soll denn damit bewiesen werden?»

«Ich weiß nicht.»

«Dieser Horridge wird noch so lange auf Maxim herumhacken, bis er seine Selbstbeherrschung verliert und Dinge sagt, die er gar nicht meint. Maxim wird sich das bestimmt nicht gefallen lassen, Frank, diese sinnlose Fragerei.»

Frank antwortete nicht. Er fuhr so schnell, wie sein kleiner Morris es zuließ. Zum erstenmal, seit ich ihn kannte, hatte er keine konventionelle Phrase zur Hand. Das konnte nur bedeuten, daß er sich große Sorgen machte. Und sonst war er auch ein so übertrieben vorsichtiger Fahrer, hielt an jeder Kreuzung an, sah sich nach rechts und links um und hupte vor jeder Kurve.

«Der Mann, der damals Mrs. Danvers besuchte, war übrigens auch da», sagte ich.

«Sie meinen Favell?» sagte Frank. «Ja, ich habe ihn gesehen.»

«Er saß neben Mrs. Danvers.»

«Ja, ich weiß.»

«Warum war er bloß da? Was hatte er bei dieser Verhandlung zu suchen?»

«Er ist ja schließlich Rebeccas Vetter.»

«Aber ich finde es nicht richtig, daß er und Mrs. Danvers da sitzen und sich die Aussagen mit anhören. Ich traue den beiden nicht, Frank.»

«Nein.»

«Womöglich hecken sie sich etwas aus, und dann gibt es nur noch mehr Schwierigkeiten.»

Wieder antwortete Frank nicht. Ich verstand, daß seine Freundschaft zu Maxim so weit ging, daß er sich nicht einmal mit mir in eine Diskussion einlassen wollte. Er konnte ja nicht wissen, wie weit ich von Maxim eingeweiht worden war, und ich konnte ja auch nicht mit Gewißheit sagen, wieviel er wußte. Wir waren zwar Verbündete und zogen am gleichen Strang, aber wir wagten es nicht, einander anzusehen. Wir wagten beide nicht, dem anderen zu viel anzuvertrauen.

Endlich kamen wir zum Haus und nahmen die letzte Kurve. «Kann ich Sie jetzt allein lassen?» fragte Frank. «Vielleicht legen Sie sich ein bißchen hin.»

«Ja, vielleicht tue ich das», sagte ich.

«Ich will nach Lanyon zurück», sagte er. «Maxim wird mich vielleicht brauchen.»

Das war alles, was er sagte. Er stieg rasch in seinen Wagen und fuhr wieder los. Maxim konnte ihn vielleicht brauchen. Warum glaubte er, daß Maxim ihn brauchen könnte? Vielleicht würde der Vorsitzende Frank auch noch ausfragen wollen. Ihn über jenen Abend vor mehr als einem Jahr befragen, an dem Maxim bei ihm zu Abend gegessen hatte. Er würde sich nach der genauen Zeit erkundigen, zu der Maxim sein Haus verlassen hatte. Er würde wissen wollen, ob irgend jemand ihn nach Hause habe kommen sehen. Ob die Dienstboten gewußt hatten, daß er da war. Ob jemand bezeugen konnte, daß Maxim unverzüglich in sein Zimmer gegangen war. Vielleicht würde dieser Horridge auch Mrs. Danvers vernehmen. Und Maxim, der sich kaum noch hatte beherrschen können, Maxims weißes Gesicht ...

Ich trat in die Halle und ging in mein Zimmer hinauf und warf mich auf mein Bett, wie Frank es mir geraten hatte. Ich bedeckte meine Augen mit den Händen, aber ich sah immer noch jenen Raum mit den vielen starrenden Gesichtern vor mir, das runzlige, aufreizende Pedantengesicht des Vorsitzenden mit dem goldenen Kneifer auf der Nase.

Andere Frauen hatten so etwas schon durchgemacht, Frauen, über die ich in den Zeitungen gelesen hatte. Sie schickten Briefe an den Innenminister, aber es nützte nichts. Der Innenminister pflegte immer zu antworten, der Gerechtigkeit müsse Genüge getan werden. Die Freunde sammelten Unterschriften für ein Gnadengesuch, aber der Innenminister konnte nicht helfen. Und der kleine Bürger, der von dem Fall in der Zeitung gelesen hatte, sagte sich: warum soll denn so ein Kerl straflos ausgehen? Schließlich hat er doch seine Frau umgebracht. An die arme Ermordete denkt wohl keiner, wie? Diese sentimentalen Leute, die die Todesstrafe abschaffen wollen, leisten dem Verbrechen ja geradezu Vorschub.

Mein Gott, laß mich nicht mehr daran denken! Laß mich an etwas anderes denken. An Mrs. Van Hopper in Amerika zum Beispiel. Sie wird jetzt bei ihrer Tochter sein. Sie haben ein Sommerhaus auf Long Island. Wahrscheinlich spielen sie viel Bridge und besuchen Pferderennen. Mrs. Van Hopper war eine leidenschaftliche Rennbesu-cherin. Ob sie wohl noch den kleinen gelben Hut trägt? Er war ihr viel zu klein, viel zu klein für ihr breites Gesicht. Mrs. Van Hopper in ihrem Garten auf Long Island mit Romanen, Magazinen und Zeitungen auf ihrem Schoß. Mrs. Van Hopper, die ihr Lorgnon an die Augen hebt und ihrer Tochter zuruft: «Hör mal zu, Helen, hier steht, daß Max de Winter seine erste Frau umgebracht hat. Ich habe ja immer gesagt, daß er etwas Unheimliches an sich hatte. Und ich habe diese kleine Närrin auch gewarnt, daß sie ei-ne große Dummheit begehe. Aber sie wollte ja keine Vernunft annehmen. Na, die hat sich eine schöne Suppe eingebrockt. Aber wahrscheinlich bekommt sie schon Riesenangebote aus Hollywood.»

Etwas berührte meine Hand. Es war Jasper, der seine kalte, feuchte Nase in meine Hand bohrte. Er war mir aus der Halle nach oben gefolgt. Warum kamen einem eigentlich die Tränen, wenn man einen Hund ansah? Sie bewiesen ihr Verständnis und Mitgefühl auf eine so rührend hilflose Art. Jasper wußte, daß etwas nicht in Ordnung war. Hunde spüren das. Wenn Koffer gepackt werden, das Auto vorfährt, dann stehen die Hunde mit eingekniffenem Schwanz und melancholischen Augen dabei und schleichen mit gesenktem Kopf in ihren Korb zurück, sobald das Geräusch des Motors in der Ferne verklingt.

Ich mußte wohl eingeschlafen sein, denn beim ersten Donnerschlag schrak ich plötzlich hoch. Ich sah auf die Uhr. Es war fünf. Ich erhob mich und ging ans Fenster. Kein Lüftchen rührte sich. Die Blätter hingen regungslos, wie erwartungsvoll, an den Zweigen. Der Himmel war schiefergrau. Ein zackiger Blitz zerriß die Wolkenwand. Es grollte leise; das Gewitter war noch weit weg. Noch regnete es nicht. Ich trat auf den Flur hinaus und lauschte. Nichts war zu hören. Ich ging zur Treppe. Niemand war zu sehen. Die drohenden Gewitterwolken hatten die Halle verfinstert. Ich ging hinunter auf die Terrasse. Ein neuer Donnerschlag ertönte. Ein Regentropfen fiel auf meine Hand, ein einziger Tropfen, nicht mehr. Es war sehr dunkel. Das Meer lag wie ein schwarz glänzender See hinter der Talsenke. Noch ein Tropfen berührte jetzt meine Hand, und wieder donnerte es. Ich hörte, wie die Mädchen oben die Fenster schlossen. Robert kam und machte die Glastüren im Salon hinter mir zu.

«Die Herren sind noch nicht zurück, nicht wahr, Robert?» fragte ich.

«Nein, Madam, noch nicht. Ich dachte, Sie wären mit ihnen fortgefahren.»

«Ich bin schon eher zurückgekommen.»

«Soll ich Ihnen Ihren Tee bringen, Madam?»

«Nein, ich warte noch etwas.»

«Ich glaube, mit dem schönen Wetter ist es jetzt vorbei, Madam.»

«Ja.»

Noch immer kein Regen, nur die beiden Tropfen auf meiner Hand. Ich ging in die Bibliothek und setzte mich. Um halb sechs kam Robert ins Zimmer.

«Der Wagen ist gerade vorgefahren, Madam», sagte er.

«Welcher Wagen?»

«Mr. de Winters Wagen, Madam», sagte er.

«Hat Mr. de Winter selbst gesteuert?»

«Ja, Madam.»

Ich versuchte mich zu erheben, aber meine Beine knickten ein, als ob sie aus Stroh wären. Ich lehnte mich gegen das Sofa. Mund und Kehle waren wie ausgetrocknet. Gleich darauf kam Maxim herein und blieb an der Tür stehen.

Er sah erschöpft und alt aus. Um seinen Mund hatten sich Falten gebildet, die ich vorher nie gesehen hatte.

«Es ist alles vorüber», sagte er.

Ich wartete. Ich konnte noch immer nicht sprechen oder mich bewegen.

«Selbstmord», sagte er. «Ohne Anhaltspunkte für den Beweggrund. Die Geschworenen waren natürlich völlig am Ende ihrer Weisheit und wußten schließlich gar nicht mehr, was sie sagen sollten.»

Ich setzte mich auf das Sofa. «Selbstmord!» sagte ich. «Ohne Begründung? Was hat man denn als Begründung angenommen?»

«Gott weiß», sagte er. «Sie schienen eine Begründung nicht für notwendig zu halten. Der alte Horridge sah mich mißtrauisch an und wollte wissen, ob Rebecca vielleicht Geldsorgen gehabt habe. Geldsorgen - du guter Gott!» Er trat ans Fenster und blickte auf den Rasen hinaus. «Es wird gleich regnen», sagte er. «Gott sei Dank, daß wir endlich Regen bekommen.»

«Wie war es denn?» fragte ich. «Was hat Horridge denn noch alles gefragt? Warum hat es noch so lange gedauert?»

«Er ist immer wieder auf jede Einzelheit zurückgekommen», sagte Maxim. «Auf Nebensächlichkeiten, die keinen Menschen interessierten. Ob die Flutventile schwer aufzudrehen seien? Wo sich das erste Loch im Verhältnis zum zweiten befinde? Woraus der Ballast bestehe? Welche Wirkung es auf die Stabilität des Bootes habe, wenn man den Ballast verschiebe? Ob eine Frau das allein tun könne? Ob die Tür der Kajüte fest geschlossen werden konnte? Welcher Wasserdruck notwendig sei, um die Kajütentür aufzubrechen? Ich dachte, ich würde wahnsinnig. Aber ich hielt mich im Zaum. Dein Anblick dort an der Tür erinnerte mich an meine Pflicht. Wenn du nicht ohnmächtig geworden wärst, hätte ich es niemals bis zum Ende durchgehalten. So aber riß ich mich zusammen. Ich wußte genau, was ich sagen mußte. Ich wandte meine Augen nicht eine Sekunde von Horridge ab, von diesem spitzen, kleinlichen Gesicht und dem goldenen Kneifer. An das Gesicht werde ich mein Lebtag denken. Aber jetzt bin ich müde, Liebste, so müde, daß ich kaum noch sehen oder hören und fühlen kann.»

Er ließ sich schwer auf die Bank am Fenster fallen und stützte den Kopf in die Hände. Ich eilte an seine Seite.

Nach ein paar Minuten erschienen Frith und Robert mit dem Tee. Die feierliche Zeremonie nahm ihren alltäglichen Verlauf, die Tischklappen wurden hochgestützt, das schneeweiße Tuch wurde aufgelegt, die silberne Teekanne griffbereit hingestellt und der Wasserkessel über das Spiri-tusflämmchen gehängt. Dazu wie üblich Sandwiches, Teegebäck und dreierlei Kuchen. Jasper saß auf seinem gewohnten Platz neben dem Tisch, klopfte dann und wann mit dem Schwanz auf den Boden und sah mich erwartungsvoll an. Komisch, dachte ich, wie das tägliche Leben weiterläuft, ganz gleich, was geschieht. Wir tun immer dasselbe: wir essen, wir waschen uns, wir schlafen. Kein noch so kritisches Ereignis kann die Macht der Gewohnheit brechen. Ich schenkte Maxim Tee ein, brachte ihm die Tasse und etwas Gebäck zum Fenster und nahm mir selbst ein Sandwich.

«Wo ist denn Frank?» fragte ich.

«Er ist zum Pfarrer gefahren. Ich hätte ihn vielleicht begleiten sollen, aber ich wollte so schnell wie möglich zu dir zurückkommen. Ich mußte immer an dich denken, wie du hier allein saßest und dir Gedanken machtest.»

«Warum zum Pfarrer?» fragte ich.

«Heute findet eine kleine Feier in der Kirche statt», sagte er.

Ich starrte ihn verständnislos an. Dann begriff ich plötzlich. Rebecca sollte heute abend begraben werden. Rebecca würde nach Manderley zurückkehren.

«Um halb sieben», sagte er. «Außer Frank, Oberst July-an, dem Pfarrer und mir weiß niemand davon. Es wird also keine Neugierigen geben. Wir haben das gestern so besprochen; die Gerichtsverhandlung hätte daran in keinem Fall etwas geändert.»

«Wann mußt du denn fort?»

«Wir wollen uns um fünfundzwanzig Minuten nach sechs in der Kirche treffen.»

Ich fragte nicht weiter und trank schweigend meinen Tee. Maxim legte sein Sandwich wieder auf den Teller zurück. «Es ist noch furchtbar heiß, nicht wahr?» sagte er.

«Ja, Gewitterstimmung. Es scheint sich nicht entschließen zu können, anzufangen. Nur ein paar Tropfen hier und da. Deshalb ist es so drückend.»

«Als ich aus Lanyon fortfuhr, donnerte es schon», sagte er, «und der Himmel war schwarz wie Tinte. Wenn es doch nur endlich regnen wollte!»

Die Vögel in den Bäumen waren verstummt. Es war immer noch sehr dunkel.

«Ich wünschte, du müßtest nicht noch einmal fort», sagte ich.

Er antwortete nicht. Er sah so müde, so todmüde aus.

«Wir wollen heute abend, wenn ich wieder da bin, über alles sprechen», sagte er schließlich. «Wir haben so viel nachzuholen, nicht wahr? Wir müssen ja ganz von vorn anfangen. Ich bin dir wirklich ein sehr schlechter Ehemann gewesen.»

«Nein», protestierte ich, «nein.»

«Doch. Aber wir wollen einen ganz neuen Anfang machen, sobald dies alles hinter uns liegt. Wir sind ja nicht mehr allein; du und ich zusammen werden es schon schaffen. Wenn wir zusammen sind, kann uns die Vergangenheit nichts mehr anhaben. Und Kinder wollen wir auch haben.» Nach einer Weile sah er auf die Uhr. «Es ist schon zehn nach sechs», sagte er. «Ich muß jetzt gehen. Aber es wird nicht lange dauern, höchstens eine halbe Stunde. Wir gehen gleich in die Familiengruft hinunter.»

Ich faßte nach seiner Hand. «Ich werde dich begleiten, es macht mir wirklich nichts aus. Laß mich mitkommen.»

«Nein», sagte er. «Ich möchte nicht, daß du mitkommst.»

Er ging aus dem Zimmer, und gleich darauf hörte ich den Wagen starten; allmählich verklang das Geräusch.

Robert kam, um den Teetisch abzuräumen. Es war ein Tag wie jeder andere. Alles lief seinen gewohnten Gang. Unwillkürlich fragte ich mich, ob sich auch dann nichts geändert hätte, wenn Maxim nicht aus Lanyon zurückgekehrt wäre. Ob Robert dann auch mit diesem hölzernen Ausdruck in seinem jungen Gesicht die Krumen vom Tischtuch gefegt, den Tisch dann zusammengeklappt und in die Ecke gestellt hätte?

Es war sehr still in der Bibliothek, nachdem er gegangen war. Ich dachte an die vier Männer dort in der Kirche, wie sie durch die kleine Tür die Stufen der Gruft hinuntergingen. Ich war nie drinnen gewesen; ich hatte nur die Tür gesehen. Ich überlegte mir, wie es wohl in der Gruft aussehen mochte. Ob viele Särge drin standen? Maxims Vater und Mutter. Und ich fragte mich auch, was mit dem Sarg jener anderen Frau geschehen würde, der unrechtmäßig dort aufgestellt worden war. Wer sie wohl gewesen war, diese arme Seele, die niemand vermißt hatte? Jetzt würde noch ein Sarg darin stehen. Rebecca würde bei den anderen de Winters in der Familiengruft ruhen. Vielleicht las der Pfarrer gerade die Totenmesse, Maxim, Frank und Oberst Julyan neben sich? Asche zu Asche, Staub zu Staub. Rebecca war nur noch ein Name; die Rebecca, die ich gefürchtet hatte, war gestorben, als man die Leiche in der Kajüte fand. Das, was dort in der Gruft im Sarg lag, war nicht Rebecca, es war nur Staub.

Kurz nach sieben fing es an zu regnen. Zuerst nur ein schwaches leises Tropfen in den Bäumen, so dünn, daß es kaum zu sehen war. Dann immer lauter und schneller, ein Sturzbach, der sich sturmgetrieben aus den schiefergrauen Wolken ergoß wie das Wasser über ein Wehr. Ich öffnete die Fenster weit und atmete tief die kalte klare Luft ein. Der Regen sprühte mir ins Gesicht und auf die Hände. Ich konnte gerade noch den Rasen unterscheiden; der Wolkenbruch legte sich wie eine Wand zwischen mich und die Außenwelt. Ich hörte es oben in den Regenrinnen pladdern und auf die Terrasse herunterrauschen. Aber es blitzte und donnerte nicht mehr.

Ich hatte Frith nicht kommen hören. Ich stand am Fenster und sah in den Regen hinaus und bemerkte ihn erst, als er neben mir stand.

«Verzeihung, Madam», sagte er. «Können Sie mir sagen, ob Mr. de Winter sehr lange fortbleiben wird?»

«Nein», sagte ich, «nicht sehr lange.»

«Ein Herr wünscht ihn nämlich zu sprechen, Madam», sagte Frith etwas zögernd, «und ich weiß nicht recht, was ich ihm sagen soll. Er ist so hartnäckig, er läßt sich nicht abweisen.»

«Wer ist es denn?» fragte ich. «Jemand, den Sie kennen?»

Frith sah verlegen aus. «Jawohl, Madam», sagt er. «Es ist ein Herr, der früher, als Mrs. de Winter noch lebte, häufig zu Besuch kam. Ein gewisser Mr. Favell.»

Ich kniete mich auf die Fensterbank und zog das Fenster zu. Der Regen hatte die Kissen durchnäßt. Dann wandte ich mich um und sah Frith an.

«Führen Sie Mr. Favell nur herein», sagte ich.

Ich ging zum Kamin hinüber, in dem heute kein Feuer brannte. Vielleicht war es mir möglich, Favell loszuwerden, bevor Maxim zurückkam. Ich wußte noch nicht, was ich sagen würde, aber ich hatte keine Angst.

Frith führte Favell gleich darauf herein. Er sah genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte, nur etwas unordentli-cher. Auch trat er noch polternder auf. Er gehörte zu den Männern, die Sommer und Winter ohne Hut herumlaufen, und sein Haar war von der Sonne gebleicht und sein Gesicht ganz braungebrannt. Seine Augen sahen so blutunterlaufen aus, daß ich mich fragte, ob er getrunken hatte.

«Maxim ist leider nicht zu Hause, und ich weiß auch nicht, wann er wiederkommt», sagte ich. «Wäre es nicht das beste, Sie riefen ihn morgen im Büro an und verabredeten sich?»

«Oh, mir macht es nichts aus zu warten», entgegnete Favell. «Und ich hab so 'ne Ahnung, ich werde gar nicht lange zu warten brauchen. Ich hab nämlich eben einen Blick ins Eßzimmer geworfen und gesehen, daß dort schon für Maxim gedeckt ist.»

«Ja», sagte ich. «Aber Maxim mußte plötzlich noch einmal wegfahren, und es ist durchaus möglich, daß er heute abend gar nicht mehr nach Hause kommt.»

«Davongelaufen, wie?» fragte Favell mit einem spöttischen Lächeln, das mir unangenehm war. «Ich bezweifle, ob das stimmt. In seiner Lage wäre es allerdings das Gescheiteste, was er tun könnte. Es gibt nun mal Leute, die gegen Klatsch sehr empfindlich sind; es ist auch bequemer, sich dem nicht auszusetzen.»

«Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen.»

«Sie wollen das nicht wissen? Sie können doch nicht im Ernst von mir verlangen, daß ich Ihnen das glauben soll. Aber sagen Sie, fühlen Sie sich jetzt besser? Es hat mir so leid getan, daß Sie heute bei der Verhandlung ohnmächtig wurden. Ich wollte Ihnen gerade zu Hilfe eilen, da sah ich, daß sich schon ein anderer Ritter Ihrer angenommen hatte. Ich wette, daß es Frank Crawley großen Spaß gemacht hat. Durfte er Sie auch nach Hause fahren? Zu mir wollten Sie damals nicht in den Wagen steigen.»

«Weswegen wollten Sie Maxim sprechen?» fragte ich.

Favell beugte sich über den Tisch und nahm sich eine Zigarette. «Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich rauche? Ihnen wird doch hoffentlich nicht übel davon? Bei jungen Frauen kann man das ja nie wissen.»

Er betrachtete mich mit zusammengekniffenen Augen, während er seine Zigarette ansteckte. «Sie sind ja ganz erwachsen geworden seit dem letztenmal», sagte er. «Wie haben Sie das denn fertiggebracht? Mondscheinspaziergänge mit Frank Crawley?» Er blies eine Rauchwolke in die Luft. «Sagen Sie, würde es Ihnen etwas ausmachen, Frith einen Whisky und Soda für mich holen zu lassen?»

Ich läutete, ohne etwas zu erwidern. Er saß mit übergeschlagenen Beinen auf der Sofalehne und wippte mit dem Fuß und fuhr fort, mich spöttisch anzulächeln. Robert kam auf das Klingeln herein. «Ein Whisky Soda für Mr. Favell», sagte ich.

«Hallo, Robert», sagte Favell. «Ich habe Sie ja ewig nicht gesehen. Knicken Sie immer noch fleißig Mädchenherzen in Kerrith?»

Robert errötete und sah mich in tödlicher Verlegenheit an.

«Schon gut, alter Freund, ich verrate nichts. Gehen Sie und holen Sie mir einen doppelten Whisky, und zwar ein bißchen plötzlich.»

Robert verschwand, und Favell lachte und ließ seine Asche auf den Boden fallen.

«Ich bin einmal an seinem freien Abend mit ihm ausgegangen», erzählte er. «Rebecca hatte um fünf Pfund mit mir gewettet, daß ich es nicht wagen würde, ihn aufzufordern. Ich habe die fünf Pfund gewonnen und einen der komischsten Abende meines Lebens verbracht. Mein Gott, hab ich gelacht! Robert auf dem Kriegspfad ist einfach nicht zu überbieten. Aber das muß ihm der Neid lassen, in Weiberdingen kennt er sich aus. Von dem ganzen Mädchenhaufen, mit dem wir uns an dem Abend umgaben, ist er mit der Hübschesten verschwunden.»

Robert brachte den Whisky auf einem Tablett herein. Er sah immer noch sehr rot und verlegen aus. Favell beobachtete ihn lächelnd, während er ihm einschenkte, und lehnte sich dann lachend zurück. Er pfiff ein paar Takte eines Liedes, ohne Robert aus den Augen zu lassen.

«Die Melodie war es doch, was?» sagte er. «So ging sie doch. Haben Sie immer noch eine Schwäche für rotes Haar, Robert?»

Robert versuchte ein geradezu mitleiderregendes Lächeln. Favell lachte noch lauter, während Robert sich umdrehte und aus dem Zimmer ging.

«Der arme Bursche», sagte Favell. «Es war wahrscheinlich das letzte Mal, daß er über die Stränge schlagen durfte. Frith, dieser alte Esel, läßt ihn jetzt nicht mehr vom Gängelband.»

Er hob das Glas an die Lippen, sah sich im Zimmer um und warf mir hin und wieder einen Blick zu.

«Wenn ich es mir recht überlege, dann ist es mir gar nicht so unangenehm, wenn Max nicht zum Essen nach Hause kommt», sagte er. «Was meinen Sie?»

Ich antwortete nicht. Ich stand mit den Händen auf dem Rücken vor dem Kamin. «Sie würden doch das zweite Gedeck im Eßzimmer nicht unbenutzt lassen wollen?» fragte er und sah mich mit schräggeneigtem Kopf aus den Augenwinkeln an.

«Mr. Favell», sagte ich, «ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich bin wirklich sehr müde. Ich habe einen sehr langen und ziemlich anstrengenden Tag hinter mir. Wenn Sie mir nicht sagen können, was Sie von Maxim wollen, dann hat es gar keinen Sinn, noch länger hier zu bleiben.

Sie täten viel besser daran, ihn morgen früh im Verwaltungsbüro aufzusuchen.»

Er glitt von der Lehne herunter und kam mit dem Glas in der Hand auf mich zu. «Nein, nein», sagte er, «so gemein dürfen Sie nicht sein. Ich habe auch einen anstrengenden Tag hinter mir. Sie dürfen mich jetzt nicht allein lassen. Ich bin wirklich ein ganz harmloser Mensch, ich schwöre es Ihnen. Ich habe so das Gefühl, als ob Maxim Ihnen wunder was für Märchen über mich erzählt hat.»

Ich schwieg. «Sie glauben wahrscheinlich, ich sei der große böse Wolf, nicht wahr?» fuhr er fort. «Aber das stimmt gar nicht; ich bin ein ganz gewöhnlicher harmloser Bursche. Und ich finde Ihre Haltung in dieser Angelegenheit wirklich bewundernswert, ganz fabelhaft; da kann man nur den Hut vor Ihnen abnehmen, wirklich, meine Hochachtung!» Seine letzten Worte wollten ihm schon kaum mehr über die schwere Zunge. Ich wünschte jetzt, ich hätte ihn nicht hereinführen lassen.

«Hier kommen Sie als junge Frau nach Manderley», sagte er mit einer schlappen Handbewegung. «Sie übernehmen diesen großen Haushalt, treffen Hunderte von fremden Gesichtern, nehmen es mit Max und seinen Launen auf, pfeifen auf die ganze Welt und leben Ihren eigenen Stiebel. Eine verdammt gute Leistung nenne ich das, und es ist mir ganz egal, wer mich das sagen hört. Eine verdammt gute Leistung!» Er schwankte ein wenig, wie er da vor mir stand. Dann riß er sich zusammen und stellte sein Glas hin. «Das kann ich Ihnen verraten, diese Angelegenheit ist mir verflucht an die Nieren gegangen, höllisch nahe ist sie mir gegangen. Rebecca war nämlich meine Cousine, und ich habe sie verdammt gern gehabt.»

«Ja», sagte ich, «es tut mir auch sehr leid für Sie.»

«Wir sind zusammen aufgewachsen», redete er weiter, «immer riesig gute Freunde gewesen, haben dieselben Sa-chen und dieselben Menschen gern gehabt, haben jeden Schmerz miteinander geteilt. Ich habe Rebecca bestimmt lieber gehabt als irgend jemand sonst. Und sie hat mich auch gemocht. Verdammt noch mal, was das für ein Schlag für mich gewesen ist!»

«Ja», sagte ich, «das kann ich verstehen.»

«Und was ich wissen will, ist, was Max jetzt zu tun gedenkt. Glaubt er etwa, er kann den lieben Gott so ganz einfach einen guten Mann sein lassen, jetzt, wo diese Verhandlungskomödie überstanden ist? Können Sie mir das sagen?» Er lächelte jetzt nicht mehr und beugte sich zu mir vor.

«Ich werde dafür sorgen, daß Rebecca zu ihrem Recht kommt», sagte er mit immer lauterer Stimme. «Selbstmord ... Jesus Christus, dieser alte Tapergreis von einem Vorsitzenden bringt es wahrhaftig fertig, den Geschworenen Selbstmord einzureden. Aber Sie und ich wissen, daß es kein Selbstmord war, nicht wahr?» sein Gesicht kam immer näher. «Oder wissen wir das etwa nicht?» fragte er lauernd.

In diesem Augenblick ging die Tür auf, und Maxim trat ins Zimmer, Frank dicht hinter ihm. Maxim blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen und starrte Favell an. «Was zum Teufel hast du denn noch hier zu suchen?» sagte er.

Favell drehte sich um und steckte die Hände in die Hosentaschen. Und dann fing er an zu lächeln. «Das will ich dir sagen, Max, alter Freund. Ich wollte dich zu der schönen Verhandlung heute nachmittag beglückwünschen.»

«Möchtest du gütigst mein Haus verlassen», sagte Maxim. «Oder ziehst du es vor, rausgeworfen zu werden?»

«Moment mal, Moment mal», sagte Favell. Er zündete sich noch eine Zigarette an und setzte sich wieder auf die Sofalehne. «Du willst wohl unbedingt Frith mit anhören lassen, was ich dir jetzt sagen werde, wie? Das wird er nämlich, wenn du die Tür nicht zumachst.»

Maxim rührte sich nicht. Ich sah, wie Frank die Tür leise schloß.

«So, nun hör mal her, Max», fing Favell an. «Du hast dich da glänzend aus der Affäre gezogen, viel besser, als du es erwartet hattest. Ja, ich war heute nachmittag auch dort; ich nehme an, du hast mich gesehen. Ich war von Anfang an dabei und habe auch deine Frau ohnmächtig werden sehen, gerade, als es kritisch wurde, und das kann ich ihr auch nicht verübeln, denn da hing es an einem Faden, mein lieber Max, zu welcher Auffassung sich das Gericht entschließen würde. Du hast verdammtes Glück gehabt, daß es so gegangen ist. Oder hast du etwa diese Holzköpfe, die sich als Geschworene aufspielten, geschmiert? Es hat verdammt danach ausgesehen.»

Maxim machte eine Bewegung auf Favell zu, aber Favell hielt seine Hand abwehrend hoch.

«Warte doch, was soll denn die Hast», sagte er. «Ich bin noch lange nicht fertig. Du bist dir doch darüber klar, mein guter Max, daß ich dir die Hölle verdammt heiß machen kann, wenn's mir Spaß macht, so heiß, daß es brenzlig für dich werden dürfte.»

Ich saß auf dem Stuhl neben dem Kamin und umklammerte krampfhaft die Lehne. Frank kam herüber und stellte sich hinter mich. Maxim rührte sich noch immer nicht. Er wandte den Blick nicht von Favell ab.

«So?» sagte er kühl. «Du machst mich ja beinahe neugierig.»

«Hör mal her, Max», sagte Favell. «Ich nehme an, zwischen dir und deiner Frau gibt es keine Geheimnisse, und nach Crawleys Gesicht zu schließen, ist er der Dritte im glücklichen Bunde. Ich kann also so offen reden, wie es mir paßt. Ihr wißt ja alle über Rebecca und mich Bescheid und daß wir ein Verhältnis hatten. Das habe ich nie geleugnet und werde ich auch nie leugnen. Also gut. Bis vor kurzem glaubte ich noch wie all die anderen Idioten, daß Rebecca beim Segeln in der Bucht ertrank und daß es ihre Leiche war, die Wochen später in Edgecoombe an Land geschwemmt wurde. Es traf mich damals verflucht hart, aber ich sagte mir, das ist genau der Tod, den Rebecca sich gewünscht hätte.» Er hielt inne und sah uns alle der Reihe nach an. «Und dann las ich vor ein paar Tagen in der Zeitung, daß der Taucher zufälligerweise Rebeccas Boot entdeckt habe und daß sich eine Leiche in der Kajüte befinde. Ich konnte es einfach nicht fassen. Wen sollte Rebecca sich denn an dem Abend als Segelpartner mitgenommen haben? Es wollte mir gar nicht in den Kopf. Ich reiste her und stieg in einem kleinen Gasthof kurz vor Ker-rith ab und setzte mich mit Danny in Verbindung. Sie erzählte mir, daß die Leiche in der Kajüte Rebeccas Leiche war. Selbst da glaubte ich noch wie alle anderen, daß die erste Identifizierung nur auf einem Irrtum beruhte und daß Rebecca nicht rechtzeitig genug aus der Kajüte herausgekommen war, und alles ging auch wunderbar glatt, bis Tabb seine Aussage machte. Und dann - also frei heraus, Max, wie erklärst du dir diese Löcher im Schiffsrumpf und die aufgedrehten Hähne nun wirklich?»

«Bildest du dir etwa ein», sagte Maxim langsam, «daß ich mich nach dem Nachmittag noch in eine Diskussion einlassen werde und dazu noch mit dir? Du hast die Aussagen gehört, und du hast das Urteil gehört. Der Vorsitzende hat sich damit zufriedengegeben, da wirst du dich wohl auch damit zufriedengeben müssen.»

«Ja, Selbstmord», sagte Favell, «Rebecca und Selbstmord begehen! Genau das, was man von ihr erwartet hätte, wie? Von dem Zettelchen hast du wohl noch nichts gehört, was? Ich habe es aufgehoben, weil es das Letzte war, was sie mir geschrieben hatte. Ich werde es dir mal vorlesen. Ich glaube, es wird dich interessieren.»

Er nahm ein Stück Papier aus seiner Brieftasche. Selbst aus der Entfernung konnte ich die auffallend schräge Schrift erkennen. «Ich versuchte, Dich von meiner Wohnung aus anzurufen, aber niemand antwortete», las Favell. «Ich fahre jetzt wieder nach Manderley zurück. Ich bin heute abend im Bootshaus, und wenn Du das hier beizeiten erhältst, komme mir bitte im Wagen nach. Ich werde heute nacht auch im Bootshaus schlafen und die Tür für Dich offenlassen. Ich muß Dir etwas Wichtiges sagen und möchte Dich so bald wie möglich sehen. Rebecca.»

Er steckte das Zettelchen wieder ein. «So etwas schreibt man doch wohl nicht, wenn man Selbstmord begehen will, oder was meinst du?» sagte er. «Ich fand den Zettel erst morgens um vier, als ich nach Hause kam, vor. Ich hatte keine Ahnung, daß Rebecca an dem Tag nach London kommen wollte, sonst hätte ich mich natürlich für sie freigehalten. Aber wie der Zufall es wollte, war ich am Abend auf einer Gesellschaft. Als ich den Zettel dann las, war es ja schon zu spät, um die Sechsstundenfahrt nach Mander-ley zu unternehmen. Ich ging zu Bett und beschloß, Rebecca am Vormittag anzurufen. Das tat ich auch gegen zwölf Uhr und erfuhr, daß Rebecca ertrunken war.» Er starrte Maxim an, und keiner von uns sprach.

«Wenn nun der alte Horridge heute nachmittag diesen Zettel zu Gesicht bekommen hätte, glaubst du dann nicht auch, daß die Sache nicht ganz so reibungslos verlaufen wäre?» sagte Favell schließlich.

«Warum hast du ihm den Zettel denn nicht gegeben?» entgegnete Maxim.

«Immer mit der Ruhe, alter Junge, nur nichts überstürzen. Ich will dich ja nicht ruinieren, Max. Du bist zwar nie mein Freund gewesen, weiß Gott, aber das trage ich dir nicht nach. Alle Ehemänner, die eine hübsche junge Frau haben, sind eifersüchtig, und einige von ihnen spielen dann eben mal den Othello. Sie sind nun mal so gebaut, und man kann es ihnen nicht verübeln. Mir tun sie höchstens leid. In gewisser Hinsicht bin ich nämlich Sozialist, weißt du; ich verstehe nicht, warum solche Männer ihre Frauen lieber umbringen, als sie mit anderen zu teilen. Was macht das schon aus? Man kann ja trotzdem seinen Spaß an ihnen haben. So, Max, ich hab jetzt alle meine Karten aufgedeckt. Sollten wir nicht zu irgendeiner Verständigung kommen können? Ich bin kein reicher Mann, dazu wette und spiele ich zu gern. Aber was mich stört, ist, daß ich nicht einmal einen kleinen Notgroschen im Hintergrund habe. Sollte ich aber eine Lebensrente von jährlich, sagen wir, zwei- bis dreitausend Pfund erhalten, dann würde ich damit schon auskommen. Und ich würde dich nie wieder behelligen. Ich schwöre es dir bei Gott!»

«Ich habe dich eben schon einmal gebeten, das Haus zu verlassen», sagte Maxim, «und ich werde dich nicht ein drittes Mal bitten. Da ist die Tür, ich werde sie dir hoffentlich nicht selbst öffnen müssen.»

«Eine Sekunde, Maxim», sagte Frank. «So einfach läßt sich das vielleicht doch nicht abmachen.» Er wandte sich an Favell. «Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Leider stimmt es, daß Sie die Geschichte so verdrehen können, daß es für Maxim jedenfalls weitere Unannehmlichkeiten gäbe. Ich glaube, er überblickte das nicht so wie ich. Wie hoch ist die Summe, die Sie verlangen?»

Ich sah, wie Maxim leichenblaß wurde und wie das Blut durch seine kleine Stirnader pulste. «Misch dich nicht hier ein, Frank», sagte er. «Das ist einzig und allein meine An-gelegenheit. Ich denke gar nicht daran, mich erpressen zu lassen.»

«Ich kann mir nicht denken, daß deine Frau Wert darauf legt, als die Witwe eines Mörders herumzulaufen, eines Gehängten», sagte Favell. Er lachte und warf einen Blick auf mich.

«Du glaubst wohl, du kannst mich einschüchtern, Favell?» sagte Maxim. «Da hast du dich aber getäuscht. Du kannst tun, was du willst, mich interessiert es nicht. Dort nebenan ist das Telephon. Soll ich Oberst Julyan anrufen und ihn herüberbitten? Er ist ja unser Polizeirichter. Ihn dürfte deine Geschichte schon eher interessieren.» Favell starrte ihn sprachlos an, dann zuckte er die Achseln.

«Guter Bluff», sagte er. «Zieht aber bei mir nicht. Du würdest es nicht wagen, Julyan anzurufen. Ich habe genügend Beweise, um dich an den Galgen zu bringen, Max.» Maxim ging langsam durch die Bibliothek und verschwand in dem kleinen Nebenraum. Ich hörte das kleine , als er den Hörer abhob.

«Hindern Sie ihn daran, Frank», flüsterte ich. «Um Himmels willen, hindern Sie ihn daran!»

Frank erwiderte meinen Blick und ging hastig auf die Tür zum Nebenzimmer zu.

Ich hörte Maxims Stimme sehr ruhig und gelassen. «Ich möchte Kerrith 17», sagte er. Favells Blick war mit einer merkwürdigen Spannung auf die Tür gerichtet.

«Laß mich zufrieden», hörte ich Maxim zu Frank sagen, und dann gleich darauf: «Ist dort Oberst Julyan? Ja, hier spricht de Winter. Ich möchte Sie bitten, sofort hierher zu kommen; jawohl, nach Manderley. Es ist sehr dringend. Ich kann es Ihnen nicht am Telephon erklären, aber hier erfahren Sie alles Nähere. Tut mir sehr leid, Sie noch einmal stören zu müssen. Jawohl. Vielen Dank. Auf Wiedersehen.»

Er kam wieder zurück. «Julyan wird in wenigen Minuten hier sein», sagte er. Er durchquerte den Raum und öffnete das Fenster. Es regnete noch in Strömen. Er stand mit dem Rücken zu uns da und atmete in vollen Zügen die kühle Luft ein.

«Maxim», sagte Frank leise, «Maxim!»

Er reagierte gar nicht darauf. Favell lachte laut auf und zündete sich wieder eine Zigarette an. «Wenn du unbedingt gehängt werden willst, lieber Freund, soll es mir auch recht sein», sagte er. Er nahm eine Zeitung vom Tisch und ließ sich auf das Sofa fallen, schlug die Beine übereinander und fing an, die Seiten umzublättern. Frank blickte zögernd von mir zu Maxim. Dann trat er zu mir.

«Können Sie denn nicht irgend etwas tun?» flüsterte ich ihm zu. «Können Sie nicht Oberst Julyan entgegengehen und ihn bitten, umzukehren, es beruhe alles auf einem Irrtum?» Maxim unterbrach mich, ohne sich umzudrehen.

«Frank wird dieses Zimmer jetzt nicht verlassen», sagte er. «Ich werde mit dieser Angelegenheit allein fertig. Oberst Julyan wird in genau zehn Minuten hier sein.»

Darauf schwiegen wir alle. Favell las weiter in seiner Zeitung. Von draußen drang das monotone Geräusch des niederrauschenden Regens herein; er fiel pausenlos, senkrecht, in schweren Tropfen. Ich fühlte mich hilflos, ohne Kraft. Ich konnte nichts tun. Auch Frank konnte nichts mehr ausrichten. Ich durfte nicht einmal zu Maxim gehen und ihn auf den Knien anflehen, Favell das Geld zu geben. Ich mußte mit den Händen im Schoß sitzen bleiben, dem Regen lauschen und Maxim ansehen, der mir den Rücken zukehrte.

Der heftige Regen übertönte das Geräusch des vorfahrenden Wagens. Wir wußten nicht, daß Oberst Julyan schon angekommen war, bis die Tür sich öffnete und Frith ihn anmeldete.

Maxim wandte sich rasch um und ging ihm entgegen. «Guten Abend», sagte er. «Es ist noch nicht lange her, seit wir uns verabschiedeten. Sie müssen sehr schnell gefahren sein.»

«Ja», sagte Oberst Julyan. «Da Sie mir sagten, es sei dringend, bin ich sofort aufgebrochen. Glücklicherweise hatte mein Chauffeur den Wagen noch nicht eingestellt. Was für ein Wetter!»

Er warf einen forschenden Blick auf Favell, trat dann auf mich zu und gab mir die Hand, während er Frank mit einem Nicken begrüßte. «Es war aber auch höchste Zeit», sagte er, «daß wir Regen bekamen, er hatte schon reichlich lange auf sich warten lassen. Ich hoffe, es geht Ihnen wieder besser?»

Ich murmelte irgendeine Antwort, ich weiß nicht mehr, was, und er sah von einem zum anderen und rieb sich die Hände.

«Es wird Ihnen natürlich klar sein», sagte Maxim, «daß ich Sie an einem solchen Abend nicht aus dem Haus gelockt habe, um eine halbe Stunde vor dem Essen mit Ihnen verplaudern zu können. Das ist Jack Favell, der Vetter meiner ersten Frau. Ich weiß nicht, ob Sie sich schon kennen.»

Oberst Julyan nickte. «Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor. Vermutlich habe ich Sie früher einmal hier getroffen.»

«Sehr wahrscheinlich», sagte Maxim. «Also schieß los, Favell.»

Favell erhob sich vom Sofa und warf die Zeitung auf den Tisch zurück. Er schien in den zehn Minuten, die wir auf Oberst Julyan gewartet hatten, etwas nüchterner geworden zu sein; er schwankte nicht mehr und lächelte jetzt auch nicht. Ich hatte den Eindruck, daß ihm diese unerwartete Wendung nicht recht gefallen wollte und daß ihn das Erscheinen von Oberst Julyan unvorbereitet traf. Er fing mit lauter, übertrieben selbstsicherer Stimme zu sprechen an. «Hören Sie zu, Oberst», sagte er, «ich will gar nicht wie die Katze um den heißen Brei herumreden. Der Grund meines Hierseins ist kurz gesagt der, daß das Ergebnis der heutigen Gerichtsverhandlung mich nicht befriedigt hat.»

«Ach», sagte Oberst Julyan, «ist das nicht eine Äußerung, zu der nur Mr. de Winter berechtigt ist?»

«Nein, ich glaube nicht», erwiderte Favell. «Ich habe das gleiche Recht, nicht nur als Vetter der Verstorbenen, sondern auch als ihr zukünftiger Mann, wenn sie am Leben geblieben wäre.»

Oberst Julyan machte ein verdutztes Gesicht. «Ach so», sagte er, «dann allerdings. Stimmt das, Mr. de Winter?»

Maxim zuckte mit den Achseln. «Das erste, was ich höre.»

Oberst Julyan ließ einen mißtrauischen Blick von dem einen zum anderen gehen. «Also heraus damit, Mr. Favell», sagte er, «was haben Sie auf dem Herzen?»

Favell starrte ihn einen Augenblick an, ohne zu antworten. Ich sah ihm an, daß er sich einen Plan zurechtzulegen versuchte, aber noch nicht nüchtern genug war, um mit sich ins reine zu kommen. Er steckte seine Hand langsam in die Innentasche seiner Jacke und holte Rebeccas Zettel hervor. «Das hier hat Rebecca mir geschrieben, und zwar nur wenige Stunden, bevor sie ihre angeblich selbstmörderische Segelfahrt antrat. Hier haben Sie den Zettel. Bitte lesen Sie ihn und sagen Sie mir dann, ob Sie der Meinung sind, daß sich die Frau, die ihn schrieb, mit Selbstmordabsichten trug.»

Oberst Julyan nahm seine Brille heraus, setzte sie umständlich auf und las den Zettel. Dann gab er ihn Favell zurück. «Nein», sagte er, «der äußere Anschein spricht dagegen. Aber ich weiß nicht, wovon darin die Rede ist. Vielleicht können Sie es mir sagen. Oder vielleicht Mr. de Winter?»

Maxim antwortete nicht. Favell rollte das Stück Papier um seinen Finger und sah Oberst Julyan überlegen an. «Meine Cousine hat doch wohl eine ganz unmißverständliche Verabredung mit mir treffen wollen», sagte er. «Sie hat mich ausdrücklich gebeten, möglichst noch am selben Abend nach Manderley zu kommen, weil sie mir etwas Wichtiges mitzuteilen hatte. Worum es sich gehandelt hat, werden wir wahrscheinlich nie erfahren, aber das ist jetzt auch unwesentlich. Sie bat mich um meinen Besuch und wollte die Nacht im Bootshaus verbringen, ausdrücklich zu dem Zweck, mich allein zu sprechen. Daß sie abends noch hinaussegelte, hat mich nicht weiter überrascht. Das war so ihre Gewohnheit nach einem heißen Tag in London. Aber das Boot anzubohren und sich vorsätzlich in den Grund zu segeln - das mag irgendein hysterisches Weib im Affekt tun, aber sie - o nein, Oberst, sie doch nicht.» Das Blut war ihm ins Gesicht gestiegen, und die letzten Worte schrie er fast. Sein Benehmen sprach nicht eben für ihn, und Oberst Julyans zusammengepreßte Lippen verrieten mir, daß Favell sein Mißfallen erregt hatte.

«Mein lieber Mr. Favell», sagte er. «Es hat gar keinen Zweck, mich anzuschreien. Ich bin weder der Vorsitzende, der heute nachmittag die Verhandlung leitete, noch einer der Geschworenen, die den Urteilsspruch fällten. Ich bin nur der Polizeirichter von Kerrith. Selbstverständlich will ich Ihnen helfen, genau wie Mr. de Winter. Sie sagen also, Sie glauben nicht an den Selbstmord Ihrer Cousine. Andererseits haben Sie ebenso wie wir die Aussage des Bootsbauers gehört. Die Flutventile waren offen, der Bootsrumpf war angebohrt. Das steht fest. Wie ist denn Ihrer Ansicht nach der Unglücksfall zu erklären?»

Favell drehte sich zu Maxim um. Er spielte immer noch mit dem Zettel in seiner Hand. «Rebecca hat nie im Leben die Flutventile geöffnet und auch nicht die Löcher in die Planken geschlagen. Rebecca hat nicht Selbstmord begangen. Sie haben mich nach meiner Meinung gefragt, und Sie sollen sie bei Gott jetzt auch hören: Rebecca ist ermordet worden. Und wenn Sie jetzt auch wissen wollen, wer der Mörder ist - da steht er, dort am Fenster, mit seinem gottverfluchten hochmütigen Gesicht. Er hatte nicht einmal den Anstand, ein Jahr zu warten, bevor er das erste beste Mädchen heiratete, das ihm unter die Augen kam. Da steht er, ihr Mörder, Mr. Maximilian de Winter! Sehen Sie sich ihn genau an. Er wird sich gut ausnehmen am Galgen, wie?»

Und Favell brach in Lachen aus, in das gellende, krampfhafte und blöde Lachen eines Betrunkenen, und nicht einen Augenblick hörten seine Finger auf, mit Rebeccas Zettel zu spielen.

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