8

Ich hätte nie gedacht, daß das Leben auf Manderley so geordnet und planmäßig verlief. Ich erinnere mich noch, wie früh Maxim an jenem ersten Morgen nach unserer Ankunft schon aufgestanden war und, bereits völlig angezogen, sogar noch vor dem Frühstück Briefe schrieb. Als ich kurz vor neun, etwas verwirrt von den dröhnenden Schlägen des Messinggongs, ins Eßzimmer hinunterging, sah ich, daß er bereits fertig gefrühstückt hatte und sich gerade einen Pfirsich schälte.

Er blickte zu mir auf und lächelte. «Du mußt dir nichts daraus machen, daß ich nicht auf dich gewartet habe», sagte er. «Daran wirst du dich jetzt gewöhnen müssen. Ich kann es mir nicht leisten, diese Morgenstunden zu vertrödeln. Einen Besitz wie Manderley zu verwalten, ist durchaus keine Halbtagsbeschäftigung. Der Kaffee und die warmen Gerichte stehen auf dem Büffet. Wir bedienen uns beim Frühstück immer selbst.»

Ich sagte irgend etwas, daß meine Uhr nachginge und daß ich zu lange in der Badewanne gelegen hätte, aber er hörte gar nicht zu, sondern las wieder in einem Brief und runzelte über irgend etwas die Stirn.

Ich weiß noch genau, wie beeindruckt ich war, beeindruckt und ziemlich überwältigt von der Üppigkeit des Frühstücks, das für uns angerichtet worden war. Da gab es Tee in einer großen silbernen Kanne, und außerdem noch Kaffee und auf der siedeheißen Wärmeplatte Porzellanpfannen mit Rührei, gebratenem Speck und gebratenen Fischen. Auch ein kleiner Topf mit gekochten Eiern stand da und Haferflocken in einer silbernen Suppenschüssel, beides auf einem besonderen Rechaud. Auf einem Anrichtetisch lagen ein Schinken und ein riesiges Stück Räucherspeck, und auf dem Eßtisch gab es noch Weizengebäck und Toast, mehrere Gläser mit Orangen- und anderer Marmelade und an den beiden Enden zwei Fruchtschalen, jede mit einem kleinen Berg von Obst beladen. Es schien mir merkwürdig, daß Maxim, der in Italien und Frankreich nur ein Hörnchen und etwas Obst gegessen und nur eine einzige Tasse Kaffee getrunken hatte, sich hier tagein, tagaus, wahrscheinlich schon seit Jahren, ein solches Frühstück servieren ließ, an dem sich ein Dutzend Menschen hätte satt essen können, und daß er das offenbar durchaus nicht lächerlich oder verschwenderisch fand.

Ich bemerkte, daß er ein Stückchen von dem Fisch gegessen hatte. Ich nahm mir ein weiches Ei. Und ich fragte mich, was wohl mit all dem übrigen geschehen mochte, dieser Menge Rührei, dem knusprigen Speck, den Haferflocken und dem Rest Fisch. Gab es hier arme Tagelöhner, die ich nie zu Gesicht bekommen würde und die hinter der Küchentür auf die reichhaltigen Abfälle von unserem Frühstück warteten? Oder wurde alles weggeworfen? Ich würde es wohl nie erfahren und bestimmt nicht wagen, mich danach zu erkundigen.

«Gott sei Dank habe ich keine große Verwandtschaft, die dich behelligen könnte», sagte Maxim, «nur meine Schwester, die ich sehr selten sehe, und dann noch meine Großmutter, die nahezu blind ist. Beatrice hat sich übrigens zum Mittagessen eingeladen. Ich war eigentlich schon darauf gefaßt; sie wird dich vermutlich in Augenschein nehmen wollen.»

«Heute?» fragte ich, und mein Stimmungsthermometer sank auf Null.

«Ja, sie hat sich in dem Brief, den ich heute früh von ihr erhielt, angesagt. Aber sie wird nicht lange bleiben, und ich glaube, sie wird dir gefallen. Sie ist sehr offen; sie sagt genau, was sie denkt, und macht gar kein Theater. Wenn sie dich nicht mag, wird sie es dir glatt ins Gesicht sagen.»

Ich fand kaum einen Trost darin und überlegte, ob Unaufrichtigkeit unter Umständen nicht auch eine Tugend sein könne. Maxim stand auf und zündete sich eine Zigarette an. «Ich habe heute morgen noch eine Menge zu erledigen», sagte er, «glaubst du, dir inzwischen allein die Zeit vertreiben zu können? Ich hätte dir so gern den Garten gezeigt, aber ich muß unbedingt mit Crawley, meinem Verwalter, sprechen. Ich bin zu lange fort gewesen. Er wird übrigens auch zum Essen kommen. Es macht dir doch nichts aus, nein? Oder ist es dir sehr unangenehm?»

«Natürlich nicht», erwiderte ich, «ich finde es sehr nett.»

Ich verweilte an jenem ersten Morgen sehr lange am Frühstückstisch, um die Zeit hinauszuziehen, und erst als ich Frith hereinkommen und mir einen verstohlenen Blick zuwerfen sah, bemerkte ich, daß es schon auf elf zuging. Ich sprang sofort schuldbewußt auf und entschuldigte mich, daß ich so lange sitzen geblieben war, und er verbeugte sich, ohne etwas zu erwidern, sehr höflich, sehr korrekt, aber mit etwas erstauntem Gesicht. Ich fragte mich, ob ich wohl etwas Falsches gesagt hätte. Vielleicht war es unpassend, sich zu entschuldigen. Vielleicht setzte es mich in seinen Augen herab. Ob er wohl wie Mrs. Danvers erriet, daß Haltung, Anmut und Sicherheit mir nicht angeboren waren, sondern daß ich mir diese Eigenschaften erst allmählich und mühevoll erwerben mußte?

Ungeschickt, wie ich damals nun einmal war, achtete ich nicht auf meine Füße und stolperte, als ich das Zimmer verließ, über die Türschwelle. Frith, der herbeieilte, um mir behilflich zu sein, hob mir mein Taschentuch auf, während Robert, der junge Diener, sein Gesicht abwandte, um das Lachen zu verbergen.

Als ich durch die Halle ging, hörte ich das Gemurmel ihrer Stimmen und einen von beiden, wahrscheinlich Robert, lachen. Vielleicht lachten sie über mich. Ich ging wieder nach oben in die Geborgenheit meines Schlafzimmers; aber als ich die Tür öffnete, traf ich die beiden Stubenmädchen beim Saubermachen an, die eine fegte den Fußboden, die andere wischte den Staub vom Frisiertisch. Sie sahen mich überrascht an, und ich ging schnell wieder hinaus. Es gehörte sich also nicht für mich, um diese Zeit mein Zimmer aufzusuchen; man erwartete das nicht von mir. Es unterbrach den geregelten Ablauf der Hausarbeit. So schlich ich mich wieder hinunter, ganz leise, nur zu froh, daß meine Pantoffeln auf den Steinfliesen kein Geräusch machten, und verzog mich in die Bibliothek, in der es sehr kühl war, denn die Fenster standen weit auf, und im Kamin, in dem zwar das Holz schon aufgeschichtet lag, brannte kein Feuer.

Ich schloß die Fenster und sah mich nach Streichhölzern um, konnte jedoch keine entdecken. Ich überlegte mir, was ich tun sollte. Klingeln mochte ich nicht. Aber die Bibliothek, die ich vom Abend zuvor mit den brennenden Scheiten so warm und gemütlich in Erinnerung hatte, war jetzt am Morgen beinahe so kalt wie ein Eiskeller. Im Schlafzimmer lagen Streichhölzer, aber ich wollte sie nicht holen, weil ich dann die Mädchen bei der Arbeit gestört hätte. Ich konnte es nicht ertragen, noch einmal so dummdreist von ihnen angestarrt zu werden. Ich beschloß, abzuwarten, bis Frith und Robert das Eßzimmer verlassen hatten, und mir dann die Streichhölzer vom Büffet zu holen. Auf Zehenspitzen ging ich in die Halle und lauschte. Sie waren immer noch mit Abräumen beschäftigt; ich hörte sie miteinander reden und Geschirr klappern. Plötzlich war alles still. Sie mußten durch die Anrichte in die Küchenräume gegangen sein; ich ging also von der Halle noch einmal ins Eßzimmer. Ja, da lag eine Streichholzschachtel auf dem Büffet, wie ich es erwartet hatte. Rasch ging ich darauf zu, nahm die Schachtel an mich, und gerade in dem Moment kam Frith wieder zurück. Ich versuchte, die Schachtel unbemerkt in meine Tasche zu stecken, aber ich sah, daß er erstaunt auf meine Hand blickte.

«Suchen Sie etwas, Madam?» fragte er.

«Oh, Frith», sagte ich verlegen, «ich konnte keine Streichhölzer finden.» Sofort brachte er eine andere Schachtel zum Vorschein und überreichte mir gleichzeitig einen Kasten mit Zigaretten. Ein neuer Grund zur Verlegenheit, denn ich rauchte nicht.

«Nein», sagte ich, «ich wollte sie nur haben, weil ich in der Bibliothek ziemlich fror. Wahrscheinlich bin ich noch so empfindlich, weil ich gerade aus dem Süden komme, und ich dachte, ich könnte mir vielleicht Feuer machen.»

«Der Kamin in der Bibliothek wird gewöhnlich erst am Nachmittag angezündet, Madam», sagte er. «Mrs. de Winter pflegte sich vormittags immer im Morgenzimmer aufzuhalten. Da ist es schön warm. Aber wenn Sie die Bibliothek auch geheizt haben wollen, werde ich natürlich Auftrag geben, daß das Feuer angemacht wird.»

«Oh, nein», entgegnete ich, «das möchte ich auf keinen Fall. Ich werde in das Morgenzimmer gehen. Ich danke Ihnen, Frith.»

«Sie finden dort auch Briefpapier und Federn und Tinte, Madam», sagte er. «Mrs. de Winter hat im Morgenzimmer ihre Korrespondenz und ihre Telephongespräche nach dem Frühstück erledigt. Das Haustelephon befindet sich ebenfalls dort, wenn Sie Mrs. Danvers zu sprechen wünschen.»

«Ja, danke Frith», sagte ich.

Ich ging wieder in die Halle, ein kleines Lied vor mich hinsummend, um Unbefangenheit vorzutäuschen. Ich konnte ihm doch nicht sagen, daß ich das Morgenzimmer noch gar nicht gesehen, daß Maxim vergessen hatte, es mir zu zeigen. Ich wußte, daß er noch in der Tür zum Eßzimmer stand und mir nachsah, wie ich da durch die Halle ging, und daß ich so tun mußte, als wüßte ich Bescheid. Links von der großen Treppe befand sich eine Tür, und ich ging ohne Zögern darauf zu, während ich im stillen betete, sie möge mich doch ja zu meinem Ziel führen. Als ich aber bei ihr angelangt war und sie öffnete, sah ich, daß sie in ein Gartenzimmer führte, in eine Art Abstellraum. In der Mitte stand ein Tisch, auf dem offenbar die Blumen für die Vasen geordnet wurden, an der Wand standen mehrere aufeinandergestapelte Rohrstühle, und an einem Garderobenständer hingen ein paar Regenmäntel. Etwas trotzig machte ich wieder kehrt, sah mich in der Halle um und bemerkte, daß Frith sich nicht vom Fleck gerührt hatte. Ich hatte ihm also nichts vormachen können, nicht eine einzige Minute lang.

«Ins Morgenzimmer gehen Sie am besten durch den großen Salon, Madam», sagte er, «hier rechts durch die Tür, auf der anderen Seite von der Treppe. Geradeaus durch den Salon und dann nach links.»

«Danke schön, Frith», sagte ich gedemütigt und gab es auf, ihn hinters Licht führen zu wollen.

Ich ging durch den großen Salon, wie er mich geheißen hatte. Es war ein sehr schöner Raum, so harmonisch in seinem vollendeten Ebenmaß und mit einer Aussicht auf die Rasenflächen, die sich zum Meer hinunterzogen. Dieses Zimmer wurde vermutlich auch bei den öffentlichen Besichtigungen gezeigt, dachte ich, und wenn Frith die Besucher führte, würde er gewiß die Geschichte der Bilder erzählen und die Zeit nennen können, aus der die Möbel stammten. Ich sah mich aber selbst nicht auf jenen Stühlen sitzen oder vor dem kunstvoll ausgehauenen, steinernen Kaminsims stehen und meine Bücher einfach auf diese Tische legen. Es hatte so etwas Unpersönliches, genau wie ein Saal im Museum, wo die Nischen durch ein Seil abgesperrt sind und ein Wächter vor der Tür sitzt. Ich ging also weiter und dann nach links und gelangte richtig in das mir noch unbekannte kleine Morgenzimmer.

Es freute mich, daß ich die Hunde dort vor dem Kaminfeuer traf. Jasper, der jüngere, kam auch gleich mit wedelndem Schwanz auf mich zu und bohrte seine Nase in meine Hand. Die alte Hündin hob bei meinem Eintritt ebenfalls die Schnauze und blinzelte mit ihren blinden Augen in meine Richtung, doch als sie etwas geschnuppert und gemerkt hatte, daß ich nicht diejenige war, die sie erwartet zu haben schien, drehte sie ihren Kopf mit einem Seufzer zur Seite und fuhr fort, beharrlich ins Feuer zu starren. Dann verließ auch Jasper mich, legte sich neben seine Mutter und begann ihr das Fell zu lecken. Offenbar pflegten sie vormittags immer hierher zu kommen; sie wußten genau wie Frith, daß das Feuer in der Bibliothek erst am Nachmittag angezündet wurde, und suchten aus alter Gewohnheit das Morgenzimmer auf. Irgendwie kam ich auf den Gedanken, daß das Fenster - noch ehe ich darauf zuging - auf die Rhododendren hinaussah. Ja, da waren sie, blutrot und üppig, so wie ich sie am Abend zuvor zum erstenmal erblickt hatte; dichte, hohe Büsche, die sich unmittelbar unter dem Fenster zusammendrängten und sich bis zu der Anfahrt hinunter ausbreiteten. Zwischen den Büschen entdeckte ich eine kleine Lichtung, wie ein Miniaturrasen sah es aus, und mitten auf diesem moosweichen Grasteppich stand die winzige Statue eines nackten Fauns, der seine Flöte an die Lippen hielt. Die roten Rhododendren bildeten einen wirkungsvollen Hintergrund für ihn, und die Lichtung selbst glich einer kleinen Bühne, auf der er tanzen und seine Götterrolle spielen durfte.

Dem Morgenzimmer haftete kein dumpfiger Geruch an wie der Bibliothek. Hier gab es keine alten, abgenutzten Stühle, keine Tische, auf denen Magazine und Zeitungen herumlagen. Dies war das Zimmer einer Frau, zierlich und elegant, das Zimmer eines Menschen, der jeden einzelnen Gegenstand der Einrichtung mit großer Sorgfalt ausgewählt hatte, damit jeder Stuhl, jede Vase, bis auf die kleinste Nippesfigur, harmonisch miteinander und mit der Persönlichkeit der Bewohnerin übereinstimmten. Es machte den Eindruck, als ob die Frau, die sich dieses Zimmer einrichtete, erklärt hätte: «Das will ich haben und das da und das!» während sie sich unter den Schätzen von Manderley Stück für Stück jeden Gegenstand aussuchte, der ihr am besten gefiel, und dabei mit sicherem, untrüglichem Instinkt, indem sie alles Zweitklassige und Mittelmäßige einfach überging, nur die wertvollsten Dinge nahm. Hier gab es keine Uneinheitlichkeit im Stil; alles stammte aus der gleichen Epoche, und das Ergebnis war eine Vollkommenheit, die seltsam erregend wirkte. Und ich bemerkte, daß die Rhododendren sich nicht damit zufriedengegeben hatten, die Kulissen des kleinen Naturtheaters da draußen zu sein, sondern daß sie auch das ganze Zimmer füllten. Selbst die Wände hatten an Farbe durch sie gewonnen und leuchteten kräftig und lebhaft in der Morgensonne. Es waren die einzigen Blumen im Raum, und ich fragte mich, ob dieses Zimmer vielleicht ursprünglich im Hinblick auf diese Blumen eingerichtet worden war, denn nirgendwo sonst im Haus waren die Rhododendren eingedrungen. Im Eßzimmer und in der Bibliothek standen auch Blumen, aber schön geordnet und gleichmäßig geschnitten und mehr im Hintergrund, nicht so aufdringlich wie hier, nicht so im Überfluß. Ich ging ein paar Schritte und setzte mich an den Schreibtisch, und ich dachte, wie merkwürdig es doch war, daß dieses reizende, farbenprächtige Zimmer gleichzeitig so zweckdienlich und so nüchtern wirkte. Denn der Schreibtisch, so schön er auch war, war durchaus nicht das hübsche Spielzeug einer Dame, die daran, gelangweilt am Federhalter kauend, ihre kurzen Briefchen schrieb und sich dann achtlos erhob, gleichgültig, ob das Löschblatt ein wenig schief lag oder nicht. Die einzelnen Fächer trugen Schildchen wie: «Unbeantwortete Briefe», «Aufzubewahrende Briefe», «Haushalt», «Verwaltung», «Speisefolgen», «Verschiedenes» und «Adressen»; jedes in derselben kühnen, schrägen Handschrift beschrieben, die ich bereits kannte. Und es erschreckte mich, ja, entsetzte mich geradezu, ihr hier wieder zu begegnen, denn seitdem ich die Seite mit der Widmung in dem Gedichtbuch verbrannt hatte, war sie mir nicht mehr zu Gesicht gekommen, und ich hatte nicht gedacht, daß ich sie je wiedersehen sollte.

Aufs Geratewohl öffnete ich eine Schublade, und wieder fiel mein Blick auf diese Schrift, und zwar in einem offenen Lederband, dessen Aufschrift «Gäste auf Manderley» mit einer Einteilung in Wochen und Monate sofort zu erkennen gab, welche Gäste dagewesen und wann sie abgereist waren, welche Zimmer sie bewohnt und was sie zu essen bekommen hatten. Ich blätterte die Seiten durch und sah, daß das Buch einen vollständigen Jahresbericht enthielt, so daß die Hausfrau nachträglich bis auf den Tag genau, ja, fast bis auf die Stunde feststellen konnte, welche Nacht der betreffende Gast unter ihrem Dach verbracht, wo er geschlafen und was für Mahlzeiten sie ihm vorgesetzt hatte. Auch ein Notizbuch befand sich in der Schublade, mit dicken, weißen Bogen, und das Briefpapier des Hauses mit dem Familienwappen und aufgedruckter Adresse, und in einer kleinen Schachtel entdeckte ich elfenbeinfarbene Visitenkarten.

Ich nahm eine aus der dünnen Seidenpapierhülle heraus und betrachtete sie. «Mrs. de Winter» stand darauf und unten in der Ecke: «Manderley». Ich legte sie wieder in die Schachtel und schloß die Schublade, weil ich mich plötzlich schuldbewußt fühlte und mir so indiskret vorkam, als wäre ich in einem fremden Haus zu Besuch. Und als dann auf einmal das Telephon vor mir läutete, so unvermittelt und beunruhigend, klopfte mir das Herz, und ich schrak entsetzt hoch, weil ich glaubte, ertappt worden zu sein. Mit zitternden Händen nahm ich den Hörer ab. «Wer ist da?» sagte ich. «Wen wünschen Sie?» Vom anderen Ende der Leitung erklang ein merkwürdiges Summen, und dann vernahm ich eine leise und ziemlich rauhe Stimme, ob von einem Mann oder einer Frau, konnte ich nicht unterscheiden. «Mrs. de Winter?» sagte sie fragend, «Mrs. de Winter?»

«Ich fürchte, Sie haben sich geirrt», sagte ich. «Mrs. de Winter ist schon vor mehr als einem Jahr gestorben.» Abwartend saß ich da und starrte blöde in die Hörmuschel, und erst als der Name mit ungläubiger, leicht erhobener Stimme wiederholt wurde, kam mir, während mir das Blut ins Gesicht stieg, zu Bewußtsein, daß ich einen nicht wiedergutzumachenden Fehler begangen hatte und meine Worte nicht mehr zurücknehmen konnte. «Hier spricht Mrs. Danvers, Madam», sagte die Stimme, «ich spreche vom Haustelephon aus.» Meine Entgleisung war so ungeheuerlich, so idiotisch und so unentschuldbar, daß es mich in ihren Augen zu einem noch größeren Dummkopf ge-stempelt hätte - falls das überhaupt möglich war -, wenn ich schweigend darüber hinweggegangen wäre.

«Es tut mir leid, Mrs. Danvers», sagte ich stammelnd, und meine Worte stolperten förmlich übereinander, «das Klingeln hat mich so erschreckt. Ich wußte gar nicht, was ich sagte. Ich habe mir gar nicht klar gemacht, daß der Anruf mir galt und daß ich in das Haustelephon sprach.»

«Ich bedauere, Sie gestört zu haben», sagte sie, und ich dachte: sie weiß es, sie hat erraten, daß ich die Schublade öffnete. «Ich wollte nur wissen, ob Sie mich zu sprechen wünschen», sprach sie weiter, «und ob Sie mit dem Menü für heute einverstanden sind.»

«Oh», sagte ich, «sicherlich bin ich das, ich meine, ich werde gewiß damit einverstanden sein; machen Sie es nur ganz so, wie Sie es für gut halten, Mrs. Danvers. Sie brauchen mich wirklich nicht danach zu fragen.»

«Ich glaube, es ist doch besser, Sie lesen es sich einmal durch», fuhr die Stimme fort. «Das heutige Menü liegt auf der Schreibunterlage vor Ihnen.»

Hastig suchte ich danach und fand schließlich ein Blatt Papier, das ich bisher nicht gesehen hatte. Ich überflog es rasch: Garnelen in Curry, Kalbsbraten, Spargel, kalte Schokoladenspeise - ob das nun das Mittag- oder Abendessen war, konnte ich nicht erkennen. Ich vermutete, das Mittagessen.

«Ja, Mrs. Danvers», sagte ich, «das finde ich sehr passend, wirklich sehr gut.»

«Wenn Sie etwas geändert haben möchten», entgegnete sie, «sagen Sie es mir bitte gleich, damit ich den entsprechenden Auftrag geben kann. Sie werden wohl gesehen haben, daß ich neben der Sauce eine Zeile frei ließ, damit Sie Ihre besonderen Wünsche dort vermerken. Ich war mir nicht sicher, was für eine Sauce Sie zum Kalbsbraten vor-ziehen. Mrs. de Winter war gerade in dem Punkt sehr eigen, und ich mußte deshalb immer anfragen.»

«Ah, so», sagte ich, «ja ... lassen Sie mich etwas nachdenken, Mrs. Danvers; ich weiß eigentlich nicht recht, halten Sie es doch ruhig so, wie Sie es gewohnt sind, wie Mrs. de Winter es angeordnet haben würde.»

«Sie haben keinen besonderen Wunsch, Madam?»

«Nein», sagte ich, «nein, wirklich nicht, Mrs. Danvers.»

«Ja, Mrs. de Winter hätte wohl eine Weinsauce angeordnet.»

«Dann wollen wir selbstverständlich dabei bleiben», sagte ich.

«Entschuldigen Sie nur bitte, daß ich Sie beim Schreiben gestört habe, Madam.»

«Sie haben mich gar nicht gestört», erwiderte ich, «Sie brauchen sich wirklich nicht zu entschuldigen.»

«Die Post geht mittags ab, und Robert wird Ihre Briefe holen und frankieren», sagte sie darauf; «wenn Sie irgend etwas Dringendes wegschicken wollen, brauchen Sie ihn nur durch das Haustelephon rufen zu lassen. Er wird dann dafür sorgen, daß Ihre Briefe sofort zur Post gebracht werden.»

«Vielen Dank, Mrs. Danvers», antwortete ich. Ich lauschte noch ein Weilchen, aber sie sagte nichts mehr, und dann hörte ich es am anderen Ende leise knacken. Sie hatte also den Hörer aufgelegt, und ich tat es ihr nach. Dann sah ich wieder auf den Schreibtisch, auf das Briefpapier, das auf der Unterlage bereitgelegt war. Die Schildchen auf den Fächern vor mir starrten mich an, und ich empfand die Worte darauf: «Unbeantwortete Briefe», «Verwaltung», «Verschiedenes» wie einen Vorwurf für meine Untätigkeit. Die Frau, die vor mir hier saß, hatte ih-re Zeit nicht so verschwendet wie ich. Sie hatte schnell und bestimmt ihre Befehle für den Tag gegeben, und wahrscheinlich hatte sie das eine oder andere Gericht auf dem Menü durchgestrichen, das ihr nicht gefiel. Sie hatte nicht «Ja, Mrs. Danvers, selbstverständlich, Mrs. Danvers» gesagt, wie ich es getan hatte. Und nachdem sie das erledigt hatte, begann sie ihre Briefe zu beantworten, fünf, sechs, vielleicht sieben an einem Tag, in derselben merkwürdigen schrägen Handschrift, die ich so gut kannte, und zum Schluß hatte sie unter jeden Brief ihrer Privatkorrespondenz ihren Namen geschrieben: «Rebecca», mit dem ausladenden, schrägen R, das die kleineren Buchstaben beiseite drängte.

Ich trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Es fiel mir niemand ein, an den ich hätte schreiben können. Nur Mrs. Van Hopper. Und es lag so etwas Ironisches, geradezu ein Hohn in der Tatsache, daß ich hier vor meinem eigenen Schreibtisch in meinem eigenen Haus saß und nichts Besseres zu tun hatte, als Mrs. Van Hopper zu schreiben, einer Frau, die mir unsympathisch war und die ich nie wiedersehen würde. Ich rückte den Briefblock zurecht und steckte die schmale Feder mit der blanken Spitze in den Halter. «Liebe Mrs. Van Hopper», begann ich. Und als ich so schrieb, langsam und ungelenk, ich hoffte, sie hätte eine angenehme Überfahrt gehabt, daß sie ihre Tochter wohl angetroffen hätte, daß das Wetter in New York schön wäre, fiel es mir zum erstenmal auf, wie steif und unausgeglichen meine eigene Handschrift war, ohne jeden persönlichen Ausdruck, ohne Stil, ja, geradezu ungebildet, die Schrift einer mittelmäßigen Schülerin, die nur eine zweitklassige Schule besucht hatte.

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