Ich möchte wohl wissen, wie mein Leben heute aussehen würde, wäre Mrs. Van Hopper nicht so ein Snob gewesen.
Komisch, daß meine Zukunft von dieser Eigenschaft abhängen sollte. Ihre Neugier war eine Krankheit, fast eine Manie. Anfangs war ich entsetzt und peinlich berührt; ich fühlte mich wie ein Prügelknabe, der die Leiden seines Herrn auf sich nehmen muß, als ich beobachtete, wie die Leute hinter ihrem Rücken lachten, schleunigst das Zimmer verließen, wenn sie es betrat, oder gar oben im Korridor hinter der Tür, die zu der Treppe für das Personal führte, verschwanden. Seit vielen Jahren kam sie nun schon in das Hotel Cöte d'Azur, und abgesehen vom Bridge bestand ihr hauptsächlichster Zeitvertreib, für den sie in Monte Carlo bereits berüchtigt war, darin, vornehme Reisende als ihre Freunde auszugeben, selbst wenn sie sie nur einmal von weitem in der Post gesehen hatte. Irgendwie brachte sie es fertig, sich bekannt zu machen, und bevor ihr Opfer noch die Gefahr witterte, hatte sie es bereits mit einer Einladung in ihr Appartement überfallen. Ihre Angriffsmethode war so unverfroren und plötzlich, daß sich den Betroffenen nur selten eine Gelegenheit bot, die Flucht zu ergreifen. Im Cöte d'Azur belegte sie ein gewisses Sofa im Gesellschaftszimmer, das sich zwischen der Empfangshalle und dem Durchgang zum Speisesaal befand, mit Beschlag und trank dort regelmäßig nach den Mahlzeiten mittags und abends ihren Kaffee. Jeder, der von dem einen Raum in den anderen ging, mußte an ihr vorbei. Bisweilen benutzte sie mich als Köder für ihre Beute, und widerwillig und unglücklich mußte ich quer durch das Zimmer gehen mit dem mündlichen Auftrag, ein Buch oder eine Zeitung zu entleihen, die Adresse irgendeines Ladens zu erfragen oder Grüße von einem soeben entdeckten gemeinsamen Freund auszurichten. Es schien, daß sie zu ihrem Wohlbefinden Berühmtheiten benötigte, wie Kranke ihre Süppchen, die man ihnen einlöffelt; und obwohl Titel von ihr bevorzugt wurden, tat jedes Gesicht, das sie einmal in einer mondänen Zeitschrift abgebildet gesehen hatte, denselben Dienst. Und ebenso Namen, denen man in der Skandalecke begegnet: Schriftsteller, Schauspieler und Künstler aller Art, selbst zweitrangige, wenn sie ihre Namen nur gedruckt gelesen hatte.
Ich sehe sie noch genau vor mir, als ob es erst gestern gewesen wäre, wie sie an jenem unvergeßlichen Nachmittag - wie viele Jahre das jetzt her ist, tut ja nichts zur Sache - auf ihrem Lieblingssofa im Gesellschaftszimmer saß und sich einen neuen Angriffsplan zurechtlegte. Ihren nervösen, hastigen Bewegungen und der Art, wie sie mit dem Lorgnon gegen ihre Zähne klopfte, konnte ich entnehmen, daß sie verschiedene Möglichkeiten erwog. Und als sie nichts von der Süßspeise nahm und Käse und Obst überstürzt hinunterschlang, wußte ich, daß sie die Mahlzeit vor dem Neuankömmling beenden wollte, um sich rechtzeitig auf ihrem Sofa einzurichten, an dem er ja vorübergehen mußte. Plötzlich wandte sie sich mit einem Funkeln in ihren kleinen Augen mir zu.
«Laufen Sie rasch nach oben und holen Sie mir den Brief von meinem Neffen. Sie wissen schon: den er von seiner Hochzeitsreise schrieb, mit dem Foto. Bringen Sie ihn mir sofort herunter.»
Ich ersah daraus, daß sie ihre Strategie fertig ausgearbeitet hatte und daß der Neffe zur Vermittlung der Bekanntschaft herhalten sollte. Nicht zum erstenmal widerstrebte mir die Rolle, die ich bei der Farce, die sie in Szene setzte, spielen mußte. Wie die Gehilfin eines Jongleurs hatte ich die Requisiten zuzureichen und dann schweigend und aufmerksam auf mein Stichwort zu warten. Dieser Fremde würde ihre Zudringlichkeit nicht begrüßen, dessen war ich sicher. Nach dem Wenigen, das ich während des Essens über ihn gehört hatte - ein Durcheinander von Gerüchten und Klatsch, vor zehn Monaten aus den Tageszeitungen zusammengesucht und ihrem Gedächtnis zur späteren Verwendung einverleibt -, konnte ich mir trotz meiner Jugend und Unerfahrenheit vorstellen, daß er sich über diesen plötzlichen Einbruch in seine Einsamkeit ärgern würde. Warum er in Monte Carlo ausgerechnet auf das Hotel Cöte d'Azur verfallen war, ging uns nichts an; seine Angelegenheiten waren seine eigene Sache, und jeder andere außer Mrs. Van Hopper hätte das auch eingesehen. Takt war eine ihr unbekannte Eigenschaft und Feingefühl ebenso, und da der Gesellschaftsklatsch ihr Lebenselixier war, mußte dieser Fremde ihrer Neugier geopfert werden. Ich fand den Brief in einem Fach ihres Schreibtisches, aber ich zögerte einen Augenblick, bevor ich wieder hinunterging. Ich bildete mir törichterweise ein, daß ich ihm in seiner Zurückgezogenheit dadurch noch ein paar freie Minuten verschaffte.
Ich wünschte mir den Mut, auf dem Umweg über die Angestelltentreppe in den Speisesaal zu gehen und ihn dort vor dem Hinterhalt zu warnen. Mein Begriff von Wohlerzogenheit erwies sich jedoch als zu stark, auch wußte ich nicht, wie ich mich hätte ausdrücken sollen. Es blieb mir wohl nichts anderes übrig, als auf meinem gewohnten Platz neben Mrs. Van Hopper zu sitzen, während sie wie eine dicke, selbstgefällige Spinne den Fremden in ihr zähes Netz von Langeweile einspann.
Ich war länger fortgewesen, als ich annahm, denn als ich in das Gesellschaftszimmer zurückkehrte, sah ich, daß er den Speisesaal bereits verlassen und daß sie, voller Angst, sich die Beute entgehen lassen zu müssen, ihn kaltblütig gestellt hatte, ohne auf den Brief zu warten. Er saß schon neben ihr auf dem Sofa. Ich ging quer durch das Zimmer auf sie zu und reichte ihr stumm den Brief. Er erhob sich sofort, während Mrs. Van Hopper, mit den heißen Wangen des Triumphes, eine flüchtige Handbewegung in meine Richtung machte und meinen Namen murmelte.
«Mr. de Winter wird seinen Kaffee mit uns einnehmen. Sagen Sie dem Kellner, er soll noch eine Tasse bringen», sagte sie in einem Ton, der ihn über meine Stellung aufklären sollte. Damit wollte sie ihm zu verstehen geben, was für ein junges, unbedeutendes Ding ich sei und daß gar keine Notwendigkeit bestehe, mich in die Unterhaltung einzubeziehen. Wenn sie Eindruck machen wollte, sprach sie immer in diesem Ton, und seitdem ich einmal zu unserer beider größten Verlegenheit für ihre Tochter gehalten worden war, stellte sie mich aus einer Art Notwehr stets auf diese Weise vor. Diese unpersönliche Kürze deutete an, daß man mich ruhig übergehen durfte; Frauen pflegten mich nur mit einem Kopfnicken zu bedenken, das zugleich als Begrüßung und Verabschiedung diente, während Männer mit offensichtlicher Erleichterung zur Kenntnis nahmen, daß sie sich, ohne die Gesetze der Höflichkeit zu verletzen, in dem bequemsten Sessel breitmachen durften.
Es war daher eine Überraschung für mich, daß dieser Fremde stehenblieb und daß er den Kellner herbeiwinkte.
«Es tut mir leid, Ihnen widersprechen zu müssen», sagte er zu Mrs. Van Hopper. «Sie beide werden den Kaffee mit mir einnehmen.» Und bevor ich wußte, wie mir geschah, saß ich auf dem Sofa, während er auf meinem harten Stuhl Platz nahm.
Einen Augenblick lang sah Mrs. Van Hopper verärgert aus. Das hatte sie gewiß nicht beabsichtigt; aber sie faßte sich schnell und lehnte sich zu ihm hinüber, indem sie ihre massige Gestalt zwischen mich und den Tisch schob, und sprach, mit dem Brief herumfuchtelnd, laut und eifrig auf ihn ein.
«Wissen Sie, ich habe Sie sofort erkannt, als Sie in den Speisesaal kamen», sagte sie, «und ich dachte gleich: Hierbei warf sie ihm einen neckischen Blick zu und bleckte die Zähne. «Im Gegenteil, ich erinnere mich Ihrer sehr gut», sagte er, und bevor sie ihn auf einen Austausch ihrer Erinnerungen an jenes erste Zusammentreffen festnageln konnte, reichte er ihr sein Zigarettenetui, und die Zeremonie des Anzündens vereitelte ihre Absicht vorläufig. «Ich glaube nicht, daß Palm Beach mir gefallen würde», meinte er, während er das brennende Streichholz ausblies, und ich mußte bei seinem Anblick auch denken, wie unwirklich er sich vor einem Hintergrund wie Florida ausnehmen würde. Er gehörte in eine stark befestigte Stadt aus dem fünfzehnten Jahrhundert, in eine Stadt mit engen, holprigen Gassen und schlanken Türmen, deren Einwohner Schnabelschuhe und Kniehosen trugen. Sein Gesicht war fesselnd, geistvoll, auf eine merkwürdige, unerklärliche Weise mittelalterlich. Es rief mir das Porträt eines Unbekannten ins Gedächtnis, das ich in einer Galerie - ich weiß nicht mehr, wo - gesehen hatte. Könnte man ihn nur in Schwarz kleiden, mit einer Spitzenkrause um Hals und Handgelenke, dann würde er auf uns wie aus einer lang entschwundenen Zeit herniedersehen - einer Zeit, in der die Männer sich des Nachts weite Mäntel überwarfen und im Schatten alter Torwege standen, einer vergangenen Zeit der schmalen Stiegen und finsteren Burgverliese, einer Zeit, in der Flüstern durch die Dunkelheit klang, scharfe Klingen blitzten und Höflichkeit eine stille, vollendete Kunst war. Wenn ich mich doch noch auf den Namen des alten Meisters besinnen könnte, der jenes Porträt gemalt hat. Es hing in einer Ecke des Saales, und die Augen blickten dem Vorübergehenden aus dem düster-braunen Rahmen nach ... Aber sie unterhielten sich, und ich hatte den Faden des Gespräches verloren. «Nein, auch vor zwanzig Jahren nicht», sagte er gerade. «Ich habe derlei Dingen niemals Vergnügen abgewinnen können.» Ich hörte, wie Mrs. Van Hopper in ihr fettes, behäbiges Lachen ausbrach. «Wenn Billy ein Zuhause wie Manderley hätte, würde er sich wohl auch nicht in Palm Beach herumtreiben», sagte sie. «Ich habe mir sagen lassen, es sei ein wahres Paradies, es gebe kein anderes Wort dafür.» Sie hielt inne in der Erwartung, ihn lächeln zu sehen, aber er rauchte schweigend weiter, und ich bemerkte eine Falte zwischen seinen Augenbrauen, kaum mehr als ein hauchdünner Strich. «Ich habe natürlich Bilder davon gesehen» - sie ließ nicht locker - «und ich finde, es sieht ganz reizend aus. Ich erin-nere mich noch, daß Billy einmal sagte, die anderen berühmten englischen Landsitze könnten es an Schönheit gar nicht mit Manderley aufnehmen. Es wundert mich wirklich, daß Sie es übers Herz bringen, nicht immer dort zu sein.» Sein Schweigen tat jetzt geradezu weh und wäre jedem anderen aufgefallen, aber sie ließ ihre Zunge weiterlaufen wie ein dummes Schaf, das in ein fremdes umfriedetes Gehege einbricht und dort herumtrampelt, und ich fühlte das Blut in meine Wangen steigen, wohl oder übel die Demütigung für sie erleidend. «Allerdings seid ihr Engländer euch ja alle gleich, was euer Heim angeht», sagte sie mit immer lauterer Stimme. «Ihr sprecht nur abfällig davon, um nicht stolz zu erscheinen. Gibt es in Manderley nicht einen Kreuzgang und eine sehr wertvolle Gemäldegalerie?» Sie wandte sich mir erklärend zu: «Mr. de Winter ist zu bescheiden, um davon zu reden, aber ich glaube, daß sein wundervoller Besitz schon seit Wilhelm dem Eroberer Eigentum der Familie ist. Der Kreuzgang soll geradezu einzigartig sein. Vermutlich haben Ihre Vorfahren in Manderley früher auch königliche Gäste beherbergt, Mr. de Winter?» Das überstieg alles, was ich bisher von ihr hatte ertragen müssen, aber die scharfe Schlagfertigkeit seiner Antwort enthielt eine unerwartete Zurechtweisung. «Nicht seit Ethelred», entgegnete er, «den man Es geschah ihr natürlich recht, und ich war neugierig, was für ein Gesicht sie machen würde, aber - so unglaublich es auch klingen mag - seine Worte übten nicht die geringste Wirkung auf sie aus, und es blieb mir überlassen, mich an ihrer Statt zu winden. Ich kam mir vor wie ein geschlagenes Kind. «Wirklich? Was Sie nicht sagen!» faselte sie weiter. «Davon hatte ich keine Ahnung. Meine Geschichtskenntnisse sind sehr dürftig, und die Könige von England habe ich immer durcheinandergeworfen. Aber wie interessant, das muß ich meiner Tochter schreiben, sie ist sehr belesen.» Es entstand eine Pause, und ich fühlte, wie meine Wangen glühten. Ich war einfach zu jung, das war das Unglück. Wenn ich älter gewesen wäre, hätte ich seinen Blick erhascht und gelächelt, und ihr unmögliches Benehmen würde ein geheimes Band zwischen uns gebildet haben; aber so schämte ich mich fast zu Tode. Ich glaube, er bemerkte meine Verzweiflung, denn er beugte sich zu mir und fragte mich mit liebenswürdiger Stimme, ob ich noch etwas Kaffee haben wollte, und als ich verneinte und den Kopf schüttelte, spürte ich seinen Blick noch immer betroffen und nachdenklich auf mir ruhen. Wahrscheinlich grübelte er darüber nach, in welchem Verhältnis ich eigentlich zu ihr stand, und überlegte sich, ob er uns wohl beide als hohl und dumm abstempeln müsse. «Wie finden Sie Monte Carlo, oder haben Sie vielleicht noch gar nicht darüber nachgedacht?» sagte er dann. Dadurch, daß er mich in die Unterhaltung einbezog, wurde ich gleich wieder zum linkischen Schulmädchen mit roten Ellbogen und wirrem Haar, und ich sagte irgend etwas Abgeklappertes und völlig Sinnloses darüber, wie unnatürlich mir alles hier vorkomme; bevor ich jedoch mit meinem Stottern zu Ende kam, unterbrach mich Mrs. Van Hopper. «Sie ist nur verwöhnt, Mr. de Winter, das ist ihr Fehler. Die meisten jungen Mädchen würden ihr Augenlicht für einen Blick auf Monte Carlo geben.» «Würde sie das nicht um den Zweck ihres Opfers bringen?» fragte er lächelnd. Sie zuckte die Achseln und blies eine große Rauchwolke in die Luft. Ich bezweifle, daß sie auch nur ein Wort von dem verstand, was er sagte. «Ich bleibe dem Ort treu», sagte sie, «der englische Winter macht mich kaputt, und meine Gesundheit hält ihn einfach nicht aus. Was hat Sie hierher geführt? Sie sind doch keiner von den Stammgästen. Wollen Sie hier Bac spielen, oder haben Sie Ihre Golfschläger mit?» «Ich weiß noch nicht recht, wie ich mir die Zeit vertreiben werde», sagte er. «Ich bin ziemlich überstürzt hergekommen.» Seine eigenen Worte mußten in ihm eine Erinnerung heraufbeschworen haben, denn sein Gesicht verfinsterte sich wieder, und er runzelte leicht die Stirn. Sie schnatterte in ihrer Dickfelligkeit ruhig weiter. «Sie werden natürlich die dunstigen Abende von Manderley vermissen, hier gibt es so etwas ja nicht; Westengland muß im Frühling bezaubernd sein.» Er griff nach dem Aschenbecher und drückte seine Zigarette aus, und ich bemerkte die kaum wahrnehmbare Veränderung in seinem Blick, ein unbestimmbares Etwas, das für eine Sekunde aus seinen Augen leuchtete. Es war etwas, was nur ihm allein gehörte, fühlte ich, etwas, was mich gar nichts anging. «Ja», sagte er kurz, «Manderley war so schön wie nur je.» Ein Schweigen senkte sich für ein paar Augenblicke über uns und rief eine ungemütliche Stimmung wach, und als ich verstohlen zu ihm hinübersah, erinnerte er mich noch stärker als zuvor an meinen Unbekannten, der heimlich und vermummt seinen nächtlichen Wegen folgte. Mrs. Van Hoppers Stimme schrillte wie eine elektrische Klingel in meinen Traum hinein. Sie produzierte ein wirres Gestrüpp von Skandal und Klatsch, ohne zu merken, daß ihm die Namen fremd waren, ihm nichts sagten und daß er immer abweisender und kühler wurde, während sie darauflosplapperte. Er unterbrach sie jedoch nicht und blickte nicht ein einziges Mal auf die Uhr, als habe er sich zu einer übertriebenen Höflichkeit verurteilt, seit er sich das eine Mal hatte gehenlassen und sie vor mir zum Narren gehalten hatte, und wolle lieber eisern diese Strafe erdulden, als sie erneut beleidigen. Endlich erlöste ihn ein Hotelpage, der Mrs. Van Hopper meldete, ihre Schneiderin erwarte sie in ihrem Appartement. Er stand sofort auf und schob seinen Stuhl zurück. «Lassen Sie sich nicht aufhalten», sagte er. «Die Mode wechselt heutzutage so schnell, sie könnte sich schon verändert haben, bevor Sie oben sind.» Sie fühlte den Stich nicht, sie faßte seine Worte nur als einen kleinen Scherz auf. «Ich habe mich so gefreut, Ihnen so unerwartet begegnet zu sein, Mr. de Winter», sagte sie, als wir zum Fahrstuhl gingen, «und ich hoffe, Sie jetzt etwas mehr zu sehen, nachdem ich das Eis so mutig gebrochen habe. Sie müssen mich nächstens besuchen und einen Cocktail bei mir trinken. Morgen abend erwarte ich einige Gäste, wollen Sie uns nicht Gesellschaft leisten?» Ich wandte mich ab, um nicht mit ansehen zu müssen, wie er nach einer Ausrede suchte. «Ich bin untröstlich», sagte er, «morgen werde ich wahrscheinlich nach Sospel hinüberfahren, und ich weiß noch nicht, wann ich zurückkomme.» Sie ließ es nur ungern dabei bewenden, aber sie konnte sich noch nicht losreißen. «Hoffentlich haben Sie ein gutes Zimmer bekommen, das Hotel ist nämlich halb leer; schlagen Sie also tüchtig Krach, wenn Sie nicht zufrieden sind. Hat Ihr Diener Ihre Sachen schon ausgepackt?» Diese Vertraulichkeit war selbst für ihre Verhältnisse ein starkes Stück, und mein hastiger Blick erhaschte seinen Gesichtsausdruck. «Ich habe keinen», sagte er ruhig. «Vielleicht würde es Ihnen Spaß machen, mir dabei zu helfen?» Diesmal saß der Hieb, denn sie errötete und lachte ein wenig verlegen. «Aber - ich weiß nicht ...» begann sie, und dann plötzlich - es war nicht zu glauben - drehte sie sich zu mir um: «Sie könnten vielleicht Mr. de Winter etwas zur Hand gehen, falls er allein nicht zurechtkommt. Sie sind ja in mancher Hinsicht ein ganz anstelliges Kind.» Eine kurze Pause trat ein, während der ich wie vom Schlag getroffen dastand und auf seine Antwort wartete. Er blickte auf uns nieder, spöttisch, etwas ironisch, mit dem Anflug eines Lächelns um die Lippen. «Ein reizender Vorschlag», sagte er, «aber ich halte mich an das Motto der Familie: wer etwas schnell erledigen will, erledigt es am besten allein. Sie kannten es vielleicht noch nicht.» Und ohne eine Entgegnung abzuwarten, wandte er sich um und verließ uns. «Wie komisch!» sagte Mrs. Van Hopper, als wir im Fahrstuhl nach oben fuhren. «Ob dieser brüske Abschied eine Grille von ihm ist? Männer benehmen sich oft so sonderbar.» Der Fahrstuhl hielt mit einem Ruck an. Wir waren in unserem Stockwerk angelangt, und der Liftboy öffnete die Tür. «Übrigens, meine Liebe», sagte sie, als wir den Korridor entlanggingen, «halten Sie mich nicht für unfreundlich, aber ich fand, Sie haben sich heute nachmittag ein ganz klein wenig zu sehr vorgedrängt. Ihr Versuch, die Unterhaltung an sich zu reißen, war mir richtig peinlich, und ich bin überzeugt, daß es ihm nicht anders erging. Männer verabscheuen so etwas.» Ich erwiderte nichts; es schien mir keine passende Antwort darauf zu geben. «Ach, kommen Sie, schmollen Sie nicht», lachte sie und zuckte die Achseln; «schließlich bin ich doch hier für Ihr Benehmen verantwortlich, und Sie dürfen sich ruhig den Rat von einer Frau gefallen lassen, die alt genug ist, um ihre Mutter zu sein. Eh bien, Blaize, je viens ...» und vor sich hin summend betrat sie ihr Schlafzimmer, wo die Schneiderin auf sie wartete. Ich kniete mich auf den Stuhl am Fenster und sah in den Nachmittag hinaus. Die Sonne schien noch ganz hell, und ein übermütiger, frischer Wind wehte. In einer halben Stunde würden wir beim Bridge sitzen, die Fenster fest verschlossen und die Heizung voll aufgedreht. Ich dachte an die Aschenbecher, die ich entleeren mußte, und wie lippenstiftbeschmierte Zigarettenstummel und angebissene Pralinen sich darin häufen würden. Ihre männlichen Bekannten würden mir gegenüber eine gezwungene Jovialität an den Tag legen und witzige Fragen nach meinen Geschichtskenntnissen und meiner Malerei stellen in der Annahme, daß meine Schulzeit noch nicht lange zurücklag und daß man sich mit mir über nichts anderes unterhalten könne. Ich seufzte und kehrte dem Fenster den Rücken zu. Die Sonne schien so viel zu versprechen, und das Meer schäumte weiß unter dem spielenden Wind. Ich mußte an einen Winkel in Monaco denken, wo ich vor ein paar Tagen vorbeigekommen war: jenes baufällige Haus am kopfsteingepflasterten Marktplatz. Hoch oben unter dem eingesunkenen Dach befand sich eine Fensteröffnung, kaum mehr als ein Schlitz, in der man sich gut eine mittelalterliche Gestalt vorstellen konnte. Ich griff nach Bleistift und Skizzenblock und zeichnete spielerisch ein bleiches Gesicht im Profil mit einer Adlernase; aber meine Gedanken waren woanders. Ein finsteres Auge, eine kühne Stirn, ein hochmütiger Mund. Und ich fügte einen Spitzbart und eine Spitzenhalskrause hinzu, wie der Maler es vor langer Zeit in einem vergangenen Jahrhundert getan hatte. Es klopfte, und der Liftboy trat mit einem Briefchen in der Hand ein. «Madame ist in ihrem Schlafzimmer», sagte ich, aber er schüttelte den Kopf, der Brief sei für mich. Ich öffnete den Umschlag und fand darin ein einzelnes Blatt, auf dem in unbekannter Handschrift ein paar Worte standen. «Verzeihen Sie mir. Ich war heute nachmittag sehr unhöflich.» Das war alles. Keine Unterschrift und keine Anrede. Aber mein Name stand auf dem Umschlag und war richtig geschrieben, was nicht oft vorkam. «Irgendeine Antwort?» fragte der Boy. Ich sah von den hingeworfenen Schriftzügen hoch. «Nein», sagte ich, «nein, keine Antwort.» Als er das Zimmer verlassen hatte, steckte ich das Blatt in meine Tasche und wandte mich wieder meiner Zeichnung zu, aber aus irgendeinem Grund gefiel sie mir nicht mehr; das Gesicht kam mir starr und leblos vor, und die Halskrause und der Bart glichen Requisiten eines Amateurtheaters.