9. Königinnen der Nacht

Die Pferde klapperten mit reichlich Tempo über den dunklen Platz, jedoch nicht so schnell, dass er nicht trotzdem die Reihe der Pissoirhäuschen ausmachen konnte oder die vagen Gestalten, die sie umstanden, kaum sichtbar wie die Motten, die bei Anbruch der Nacht durch den Garten seiner Mutter huschten, angezogen vom Parfüm der Blumen. Er atmete bewusst tief durch das geöffnete Fenster ein. Ein ganz anderes Parfüm wehte ihm von den Pissoirs entgegen, säuerlich und beißend. Und schwächer, fast nur Erinnerung, der Schweißgeruch von Panik und Verlangen - auf seine Weise nicht weniger verlockend als es der Duft der Nicotiana für die Motten war.

Die Pissoirs am Lincoln's Inn waren berüchtigt, sogar noch mehr als die dunklen Rückzugsorte der Arkaden an der Royal Exchange. Ein kleines Stück weiter klopfte er mit seinem Stock an die Decke, und die Kutsche kam zum Halten. Er bezahlte den Fahrer und wartete dann, bis die Kutsche völlig verschwunden war, bevor er in die Barbican Street einbog.

Die Barbican Street zog sich in einer Kurve über etwa eine Viertelmeile hin und wurde durch den Fleet geteilt, den eine schmale Brücke überspannte. Dennoch war sie von großer Vielfalt erfüllt, am einen Ende eine Mischung aus Krämerläden und lärmigen Wirtshäusern, die allmählich den Häusern unbedeutender Kaufleute wichen und an der Brücke abrupt vor einer kleinen, halbmondförmig angeordneten Zeile großer Häuser endeten, die mit der Rückseite zur Straße standen und ihre Fassaden hochnäsig einem privaten Park zugewandt hatten.

Eines davon war das »Lavender House«.

Grey hätte problemlos mit der Kutsche bis zu diesem Platz fahren können, doch er hatte am anderen Ende der Barbican Street beginnen und sich seinem Ziel langsamer zu Fuß nähern wollen. Der Weg würde ihm Zeit lassen, sich vorzubereiten -hoffte er zumindest.

Es war fast fünf Jahre her, dass er zuletzt einen Fuß auf die Barbican Street gesetzt hatte, und er hatte sich in der Zwischenzeit sehr verändert. Hatte sich der Charakter dieser Gegend ebenfalls verändert?

Seinem ersten Eindruck nach nicht. Es war sehr dunkel auf der Straße, die nur dann und wann durch Licht, das aus einem Fenster fiel, und den Schimmer des umwölkten Halbmondes beleuchtet wurde, doch es herrschte reges Treiben, zumindest am Anfang der Straße, wo zahlreiche Wirtshäuser für Verkehr sorgten. Menschen - zum Großteil Männer - schlenderten auf und ab, begrüßten und berührten ihre Freunde oder standen in kleinen Gruppen um die Eingänge der Schänken herum. Alegeruch stieg süß und durchdringend auf, vermischt mit den Aromen von Rauch, Roastbeef - und Menschenkörpern, die scharf nach Alkohol und dem Schweiß ihres Tagwerks rochen.

Er hatte sich Straßenkleider von einem Dienstboten seiner Mutter geliehen und trug das Haar in einem schweren Zopf, der mit einem Lederriemchen zusammengebunden war. Ein Schlapphut verbarg seine blonde Farbe. Es gab nichts, was ihn äußerlich von den Färbern und Walkern, Schmieden und Webern, Bäckern und Metzgern unterschieden hätte, die hier ihr Revier hatten, und er schritt unerkannt durch die siedende Menge. Unerkannt, solange er nicht sprach - doch das würde auch kaum nötig sein, bis er das »Lavender House« erreichte. Bis dahin umtoste ihn der Strudel der Barbican Street, dunkel und berauschend wie die biergeschwängerte Luft.

Ein Trio lachender Männer strich an ihm vorüber und zog eine Duftwolke aus Hefe, Schweiß und frischem Brot nach sich - Bäcker.

»Hast du gehört, was die Schlampe zu mir gesagt hat?«, wollte einer in gespielter Entrüstung wissen. »>Wie kann er sich unterstehen!««

»>Ach, komm schon, Betty. Wenn du nicht willst, dass man dir deinen süßen, runden Arsch versohlt, stell ihn nicht so zur Schau!<

>Zur Schau - ich zeig's dir gleich, du.. .!<«

Sie verschwanden in der Dunkelheit, lachten und schubsten einander herum. Grey ging weiter. Allem Ernst seines Vorhabens zum Trotz war ihm plötzlich weniger beklommen zumute.

Königinnen der Nacht. Es gab vier oder fünf Straßen in London, die solchen Männern als Treffpunkt dienten und jenen mit entsprechenden Neigungen gut bekannt waren, doch es war lange her, dass er eine solche Straße nach Einbruch der Dunkelheit betreten hatte. Mindestens drei der sechs Wirtshäuser an der Barbican Street wandten sich gezielt an ein solches Publikum. Ihre Kundschaft waren Männer auf der Suche nach Essen und Trinken und der Freude an der Gesellschaft -und an den Körpern - anderer Männer, ohne Scham und unter Gleichgesinnten.

Gelächter umspülte ihn, während er unbemerkt weiterging. Hier und dort fing er die »Mädchennamen« auf, die die Männer unter sich benutzten und im Scherz oder als beiläufige Anspielung austauschten. Nancy, Fanny, Betty, Mrs. Anne, Miss »Ding«. Er ertappte sich dabei, dass er über die ausgelassenen Neckereien lachte, die er hörte, wenn er auch selbst niemals Neigungen in derartiger Richtung verspürt hatte.

War Joseph Trevelyan einer von ihnen? Er hätte schwören können, dass es nicht so war; selbst jetzt war es ihm absolut unvorstellbar. Andererseits wusste er, dass auch seine

Bekannten in der Gesellschaft und den Militärkreisen Londons so gut wie einstimmig auf die Bibel geschworen hätten, dass Lord John Grey im Leben nicht, unter keinen Umständen.

»Jetzt seht Euch heute Abend unsere Miss Irons an!« Eine laute Stimme, die sich im Tonfall widerwilliger Bewunderung erhob, ließ ihn den Kopf wenden. Auf dem fackelbeschienenen Vorplatz des Wirtshauses »Three Goats« hielt unter großem Lärm »Miss Irons« Hof - ein kräftiger junger Mann mit breiten Schultern und einer Knollennase, der offenbar mit seinen Kameraden auf dem Weg zu einem Maskenball in Vauxhall eine Erfrischungspause eingelegt hatte.

Mit fröhlichem Übermut gepudert und geschminkt, mit einem Kleid aus karmesinrotem Satin und einer gerüschten Kopfbedeckung aus Goldstoff angetan, saß Miss Irons auf einem Fass und wies von diesem Aussichtspunkt aus die Liebeserklärungen mehrerer maskierter Herren zurück - und bediente sich dabei einer Mischung aus Flirtkunst und Verachtung, die jeder Herzogin gut zu Gesicht gestanden hätte.

Grey blieb bei diesem Anblick abrupt stehen, fasste sich dann aber wieder und zog sich hastig auf die andere Straßenseite zurück, um in der Dunkelheit unterzutauchen.

Trotz der Aufmachung erkannte er »Miss Irons« - die bei Tag ein gewisser Egbert Jones war, jener fröhliche junge Schmied aus Wales, der den schmiedeeisernen Zaun repariert hatte, der den Kräutergarten seiner Mutter umgab. Er war überzeugt, dass auch Miss Irons ihn trotz seiner Verkleidung erkennen würde -was angesichts ihres angetrunkenen Zustandes das Letzte war, was er sich jetzt wünschte.

Er erreichte die Zuflucht der Brücke, die hilfreicherweise an beiden Enden von großen Steinpfeilern in Schatten getaucht wurde, und versteckte sich hinter einem davon. Sein Herz klopfte, und das Blut war ihm in die Wangen gestiegen, und zwar nicht vor Anstrengung, sondern vor Schreck. Doch es erklang kein Ruf hinter ihm, und er beugte sich vor, um die Hände auf die Mauer zu stützen und sich das erhitzte Gesicht von der Luft kühlen zu lassen, die vom Fluss aufstieg.

Mit ihr stieg auch ein durchdringender Geruch nach Abwasser und Fäulnis auf. Drei Meter unter dem Brückenbogen kroch das dunkle, stinkende Wasser des Fleet vorbei. Es erinnerte ihn an Tim O'Connells trauriges Ende, und er richtete sich langsam auf.

Was war der Grund für dieses Ende gewesen? Der Lohn eines Spions, in Blut gezahlt, um die Bedrohung des Verrats auszuräumen? Oder etwas Persönlicheres?

Zutiefst persönlich. Dieser Gedanke kam ihm mit plötzlicher Gewissheit, als er jetzt vor seinem inneren Auge erneut den Absatzabdruck auf O'Connells Stirn sah. Jeder hätte den Sergeant umbringen können, aus diversen Motiven - doch diese letzte Entwürdigung war eine gezielte Beleidigung, die als Signatur des Verbrechens hinterlassen worden war.

Scanions Hände waren unverletzt, Francine O'Connells Hände auch. Doch O'Connell war nicht durch die Hand eines Einzelnen gestorben, und die Iren sammelten sich wie Flöhe in der Stadt; fand man einen, waren ein Dutzend weitere in der Nähe. Scanion hatte mit Sicherheit Freunde oder Verwandte. Er hätte furchtbar gern die Absätze von Scanions Schuhen untersucht.

Es standen noch mehr Männer an der Mauer; einer war von ihm abgewandt und zupfte an seiner Hose, als wollte er Wasser lassen, ein anderer schlenderte auf diesen zu. Grey spürte auch jemanden in seiner Nähe und drehte sich abrupt um; er spürte den Mann hinter sich zögern, dann ein pustendes Ausatmen, wie ein hörbares Schulterzucken, als der Fremde sich abwandte.

Besser, wenn er weiterging. Doch er hatte sich kaum wieder auf den Weg gemacht, als er ein paar Meter hinter sich im Schatten einen erschrockenen Ausruf hörte, der von den Geräuschen eines kurzen Gerangeis gefolgt wurde.

»Oh, Ihr unverschämter Kerl!«

»Was wollt - hey! Mmpf!«

»Oh? Nun, wenn's dir anders lieber wäre, Schätzchen.«

»He! Loslassen!«

Grey standen die Nackenhaare zu Berge, als er die aufgeregte Stimme erkannte. Er fuhr auf dem Absatz herum und bewegte sich automatisch auf die Auseinandersetzung zu, bevor sein Verstand begriffen hatte, was er im Begriff war zu tun.

Zwei schattenartige Gestalten rangen schwankend miteinander. Er packte die größere von ihnen knapp oberhalb des Ellbogens und drückte fest zu.

»Lasst ihn in Ruhe«, sagte er im Soldatenton. Dessen Härte ließ den Mann zusammenfahren und zurücktreten, und er schüttelte Greys Hand ab. Der blasse Mondschein gab ein langes Gesicht preis, das zwischen Verwirrung und Wut gefangen war.

»Oh, aber ich hab' doch nur -«

»Lasst ihn in Ruhe«, wiederholte Grey, leiser diesmal, aber nicht weniger drohend. Das Gesicht des Mannes veränderte sich, und er setzte eine Miene voll verletzter Würde auf, während er seine Hose schloss.

»Tut mir wirklich Leid. Wusste ja nicht, dass Ihr schon ein Auge auf ihn geworfen hattet.« Er wandte sich ab und rieb sich demonstrativ den Arm, doch Grey beachtete ihn nicht, da er anderweitig beschäftigt war.

»Was in Gottes Namen macht Ihr hier?«, fragte er mit leiser Stimme.

Tom Byrd schien ihn nicht gehört zu haben; der Mund in seinem runden Gesicht stand vor Erstaunen offen.

»Dieser Kerl ist einfach so angekommen und hat mir sein Ding in die Hand gedrückt!« Er starrte seine offene Handfläche an, als erwartete er, das fragliche Objekt immer noch in seinem Griff vorzufinden.

»Oh.«

»Ja! Ich schwör's bei meiner Christenehre, das hat er getan! Und dann hat er mich geküsst und hat mir die Hand in die Hose geschoben und mich an den Eiern gepackt! Warum in aller Welt hat er das wohl gemacht?«

Grey war versucht zu antworten, dass er nicht die geringste Ahnung hätte, doch stattdessen nahm er Byrd beim Arm und zog ihn außer Hörweite der Neugierigen auf der Brücke.

»Ich wiederhole - was macht Ihr hier?«, fragte er, als sie die Zuflucht eines Hauses erreichten, dessen Tor von zwei Goldregenbüschen geschützt war, deren Blüten im Mondschein weiß leuchteten.

»Oh, ah.« Byrd erholte sich rasch von seinem Schrecken. Er rieb sich die Handfläche an seinem Oberschenkel ab und richtete sich kerzengerade auf.

»Nun, Sir - Mylord, meine ich., ich habe Euch aus dem Haus gehen sehen und dachte, vielleicht hättet Ihr gern Rückendeckung. Ich meine -«, er warf einen raschen Blick auf Greys unorthodoxe Aufmachung, »- ich dachte, Ihr wärt bestimmt irgendwohin unterwegs, wo es gefährlich werden könnte.« Er blickte hinter sich in Richtung der Brücke und hatte offensichtlich ganz den Eindruck, dass die jüngsten Ereignisse dort seinen Verdacht bestätigten.

»Ich versichere Euch, Tom, dass ich mich nicht in Gefahr befinde.« Byrd dagegen schon; die meisten der Männer hier wollten sich zwar nur amüsieren, doch ging es an solchen Orten auch oft genug rau zu, und so mancher ließ sich nicht mit einem Nein abspeisen - von ganz normalen Straßenräubern gar nicht zu reden.

Grey blickte die Straße entlang; er konnte den Jungen nicht an den Wirtshäusern vorbeischicken, nicht allein.

»Nun gut, dann kommt mit mir«, sagte er kurz entschlossen. »Ihr könnt mich zu dem Haus begleiten; von dort werdet Ihr nach Hause gehen.«

Byrd folgte ihm ohne Widerrede; er war gezwungen, den jungen Mann am Arm zu nehmen und ihn an seine Seite zu ziehen - sonst ging der Junge automatisch hinter Grey her, und das war hier zu gefährlich.

Ein Mann in den mittleren Jahren, der einen Hut schräg in der Stirn trug, schlenderte an ihnen vorbei und warf Byrd einen durchdringenden Blick zu. Grey spürte, wie der Junge den Blick auffing und dann abrupt die Augen abwandte.

»Mylord«, flüsterte er.

»Ja?«

»Diese Kerle hier in der Gegend. Sind das. Sodomiten?«

»Viele von ihnen, ja.«

Byrd stellte keine weiteren Fragen. Nach einer Weile ließ Grey den Arm des Jungen los, und sie durchschritten schweigend das weniger geschäftige Ende der Straße. Grey spürte, wie ihn seine vorherige Anspannung erneut überkam, umso unangenehmer jetzt, weil das kurze Zwischenspiel vor Byrds Auftauchen ihm alles wieder in Erinnerung gerufen hatte.

Er hatte es vergessen gehabt. Kaum überraschend; er hatte sich alle Mühe gegeben, jene Jahre nach Hectors Tod zu vergessen. Er hatte das Jahr nach Culloden wie ein Schlafwandler verbracht, in Cumberlands Truppe, während diese die Highlands von den Rebellen säuberte, hatte seinen Soldatendienst getan, allerdings wie im Traum. Doch als er schließlich nach London zurückgekehrt war, hatte er das Erwachen in einer Welt, in der es keinen Hector gab, nicht mehr verhindern können.

In jener schlimmen Zeit war er hierher gekommen und hatte im besten Falle Ablenkung, im schlimmsten das Vergessen gesucht. Letzteres hatte er gefunden, sowohl im Alkohol als auch in körperlicher Lust, und ihm war klar, wie viel Glück er gehabt hatte, beide Erfahrungen unversehrt zu überleben -obwohl damals das Überleben die letzte seiner Sorgen gewesen

war.

Doch was er in den Jahren, die seitdem vergangen waren, vergessen hatte, war der schlichte, unaussprechliche Trost eines Daseins - und mochte es noch so kurz sein - ohne Verstellung. Er hatte das Gefühl, bei Byrds Auftauchen eine Maske aufgesetzt zu haben, sie jetzt aber ein wenig schief zu tragen.

»Mylord?«

»Ja?«

Byrd holte tief und zitternd Luft, sodass er sich nach dem Jungen umsah. Trotz der Dunkelheit war seinen geballten Fäusten anzusehen, wie heftig seine Gefühle waren.

»Mein Bruder. Jack. Glaubt Ihr, er - seid Ihr hier, um ihn zu suchen?«, platzte Byrd heraus.

»Nein.« Grey zögerte, dann berührte er Byrd sanft an der Schulter. »Habt Ihr denn irgendeinen Grund zu der Annahme, dass er hier sein könnte - oder an einem ähnlichen Ort?«

Byrd schüttelte den Kopf, nicht um die Frage zu verneinen, sondern aus schierer Hilflosigkeit.

»Ich weiß es nicht. Ich - ich hätte nie gedacht. ich weiß es nicht, Sir, das ist die Wahrheit.«

»Hat er eine Frau? Ein Mädchen vielleicht, mit dem er ausgeht?«

»Nein«, sagte Byrd elend. »Aber Jack ist ein sparsamer Mensch. Hat immer gesagt, dass er erst heiraten werde, wenn er sich eine Frau leisten könne, warum also vorher den Ärger herausfordern?«

»Klingt, als sei Euer Bruder ein kluger Mann«, sagte Grey mit dem Hauch eines Lächelns in der Stimme. »Und ein Ehrenmann.«

Byrd holte noch einmal tief Luft und wischte sich flüchtig mit dem Handrücken über die Nase.

»Aye, Sir, das ist er.«

»Nun denn.« Grey wandte sich ab, wartete aber noch einen Moment, bis Byrd sich ebenfalls in Bewegung setzte.

Das »Lavender House« war groß, aber alles andere als auffällig. Nur die Marmorkübel mit duftendem Lavendel, die zu beiden Seiten der Tür standen, unterschieden es von den Häusern zur Rechten und zur Linken. Die Vorhänge waren zugezogen, doch dann und wann gingen Schatten dahinter vorbei, und das Murmeln von Männerstimmen und gelegentliches Gelächter sickerte durch den Samt.

»Es hört sich genauso an wie das, was in diesen Herrenclubs an der Curzon Street vor sich geht«, sagte Byrd, der leicht verwundert klang. »Das habe ich schon einmal erlebt.«

»Es ist ja auch ein Herrenclub«, sagte Grey ein wenig grimmig. »Für eine gewisse Sorte von Herren.« Er zog seinen Hut ab, band sein Haar los und schüttelte es aus, sodass es ihm über die Schultern hing; die Zeit für Verkleidungen war vorüber.

»Jetzt müsst Ihr heimgehen, Tom.« Er wies zur anderen Seite des Parks. »Seht Ihr das Licht da hinten am Ende? Gleich dahinter ist eine Gasse; sie führt Euch zu einer Hauptstraße. Hier - nehmt etwas Geld für eine Droschke mit.«

Byrd nahm die Münze in Empfang, schüttelte aber den Kopf.

»Nein, Mylord. Ich gehe mit Euch bis zur Tür.«

Er sah Byrd überrascht an. Aus den zugehängten Fenstern drang so viel Licht, dass er sowohl die getrockneten Tränen in Byrds Gesicht sehen konnte als auch die entschlossene Miene dahinter.

»Ich will, dass diesen sodomitischen Schweinen klar ist, dass jemand weiß, wo Ihr seid. Nur für alle Fälle, Mylord. «

Auf sein Klopfen hin öffnete sich die Tür sofort und gab einen Butler in Livree preis, der Greys Garderobe äußerst geringschätzig musterte. Dann hob sich sein Blick und fiel auf sein Gesicht, und Grey registrierte die kaum merkliche Veränderung seiner Miene. Grey war kein Mensch, der sich auf sein Aussehen verließ, doch er war sich bewusst, dass es bisweilen seine Wirkung nicht verfehlte.

»Guten Abend«, sagte er und überschritt die Schwelle, als gehörte das Haus ihm. »Ich wünsche den derzeitigen Besitzer dieses Etablissements zu sprechen.«

Der Butler trat erstaunt beiseite, und er merkte, wie die Gedankengänge des Mannes angesichts seiner Ausdrucksweise und seiner Manieren, die so gar nicht zu seiner Kleidung passten, rapide die Richtung wechselten. Doch der Mann war gut ausgebildet und ließ sich nicht so leicht überrumpeln.

»In der Tat, Sir«, sagte der Butler, ohne sich zu einer Verbeugung durchzuringen. »Und Euer Name?«

»George Everett«, sagte Grey.

Das Gesicht des Butlers verlor jeden Ausdruck.

»In der Tat, Sir«, wiederholte er hölzern. Er zögerte und war sichtlich unentschlossen, was er tun sollte. Grey erkannte den Mann zwar nicht, doch dieser hatte George eindeutig gekannt -oder wusste von ihm.

»Nennt diesen Namen bitte Eurem Herrn«, sagte Grey freundlich. »Ich werde ihn in der Bibliothek erwarten.«

Er setzte sich nach links in Bewegung, vorbei an dem Tisch mit dem Uhrwerk in Form eines Männerkörpers, in die Richtung, wo sich, wie er wusste, die Bibliothek befand. Der Butler streckte die Hand aus, als wollte er ihn aufhalten, erstarrte dann jedoch, weil ihn etwas vor dem Haus ablenkte.

»Wer ist denn das?«, sagte er, gründlich erschrocken.

Als Grey sich umdrehte, sah er Tom Byrd im Licht stehen, das zur Tür hinausfiel - mit finsterem Blick, die Fäuste geballt und das Kinn so weit vorgeschoben, dass sich seine unteren Schneidezähne in seine Oberlippe gruben. Von seinen

Abenteuern mit Schlamm bespritzt, sah er aus wie ein Wasserspeier, den jemand von seinem Aussichtspunkt gestürzt hatte.

»Das, Sir, ist mein Kammerdiener«, sagte Grey höflich, wandte sich ab und schritt weiter den Flur entlang.

Es befanden sich ein paar Männer in der Bibliothek, die am Kamin auf Sesseln saßen und beim Brandy plauderten, ihre Zeitung auf dem Schoß. Es hätte auch die Bibliothek im »Beefsteak« sein können, nur dass jedes Gespräch bei Greys Eintreten abrupt abbrach und sich ein halbes Dutzend abschätzender Augenpaare unverhüllt auf ihn richtete.

Glücklicherweise kannte er keinen von ihnen, und sie ihn auch nicht.

»Meine Herren«, sagte er und verbeugte sich. »Stets zu Diensten.« Er wandte sich sogleich der Anrichte zu, auf der die Dekanter standen, und goss sich unter völliger Missachtung von Konvention und guten Manieren ein Glas der nächstbesten Flüssigkeit ein, ohne sich Zeit für die Feststellung zu nehmen, was es war. Er wandte sich wieder um und sah, dass sie ihn immer noch anstarrten und versuchten, die Widersprüche zwischen seiner Erscheinung, seinem Auftreten und seiner Stimme unter einen Hut zu bringen. Er starrte zurück.

Einer der Männer erholte sich rasch und erhob sich.

»Willkommen. Sir.«

»Und wie lautet Euer Name, mein süßer Junge?«, fiel ein anderer lächelnd ein und warf seine Zeitung zu Boden.

»Das ist meine Sache. Sir.« Grey erwiderte das Lächeln mit einem rasiermesserscharfen Unterton und trank einen Schluck aus seinem Glas. Portwein - so ein Pech.

Die anderen hatten sich jetzt ebenfalls erhoben und umstellten ihn im Kreis. Sie beschnüffelten ihn wie ein Hund, der ein frisch getötetes Tier riecht. Halb neugierig, halb argwöhnisch, durch und durch fasziniert. Er spürte, wie ihm ein Schweißtropfen über den Nacken rann und sich sein Magen nervös verkrampfte. Sie waren alle ganz gewohnlich gekleidet, obwohl das gar nichts bedeutete. Das »Lavender House« hatte viele Zimmer und bediente viele Vorlieben.

Jeder von ihnen war gut gekleidet, doch keiner trug eine Perücke oder Schminke. Und ein paar hatten die Halsbinden abgelegt und ihre Hemden und Westen geöffnet, um Vertraulichkeiten zu ermöglichen, die im »Beefsteak« niemand dulden würde.

Der blonde Jüngling zu seiner Linken betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen und offensichtlichem Appetit; der kräftige Junge mit den braunen Haaren merkte das, und es gefiel ihm überhaupt nicht. Grey sah, wie er näher kam und Goldlöckchen gezielt anstieß, um ihn abzulenken. Dieser legte seinem Spielkameraden beruhigend die Hand auf das Bein, ohne jedoch den Blick von Grey abzuwenden.

»Nun, wenn Ihr mir schon Euren Namen nicht nennt, so lasst mich meinen freiwillig verschenken.« Ein lockiger, junger Mann mit einem hübschen Mund und sanften, braunen Augen trat lächelnd vor und ergriff seine Hand. »Percy Wainwright - zu Euren Diensten, Ma'am.« Er beugte sich höchst elegant über Greys Hand und küsste ihm den Handrücken.

Als er den warmen Atem des Jungen auf seiner Haut spürte, standen Grey die Haare auf dem Unterarm zu Berge. Zu gern hätte er Percys Hand ergriffen und ihn an sich gezogen, doch das ging nicht, nicht jetzt.

Er ließ seine Hand einen Moment reglos in Wainwrights liegen, gerade so, dass er ihn weder beleidigte noch ermutigte, dann zog er sie zurück.

»Zu Diensten. Madam.«

Das brachte sie zum Lachen, wenn auch immer noch mit einem Hauch von Argwohn. Sie wussten nach wie vor noch nicht genau, ob er nun Fisch oder Fleisch war, und er hatte vor, es so lange wie möglich dabei zu belassen.

Er war jetzt sehr viel vorsichtiger als damals, als George Everett ihn zum ersten Mal hierher gebracht hatte. Damals hatte ihn überhaupt nichts gekümmert - außer George vielleicht. Nun, da er so dicht daran gewesen war, den seinen für immer zu verlieren, besaß er eine gewisse Hochachtung gegenüber dem Wert eines Rufes, und zwar nicht nur seines eigenen, sondern auch des Rufes seiner Familie und seines Regimentes.

»Was führt Euch hierher, Herzchen?« Goldlöckchen trat näher, und seine blauen Augen brannten wie zwei Kerzenflammen.

»Ich suche eine Dame«, sagte Grey gedehnt und lehnte sich mit dem Rücken gespielt lässig gegen die Anrichte. »In einem grünen Samtkleid.«

Darauf folgte eine Lachsalve und sie wechselten Blicke, doch keinem von ihnen schien etwas zu dämmern.

»Grün steht mir nicht«, sagte Goldlöckchen und leckte sich kurz mit spitzer Zunge über die Oberlippe. »Aber ich habe ein reizendes blaues aus Satin mit einer Spitzenschürze, das Euch bestimmt gefallen würde.«

»Oh, natürlich«, sagte der Junge mit den braunen Haaren und betrachtete sowohl Grey als auch Goldlöckchen mit sichtlichem Abscheu. »Du Flittchen, Neil.«

»Achtet auf Eure Wortwahl, meine Damen.« Percy Wainwright schubste Goldlöckchen mit dem Ellbogen fort und lächelte Grey an. »Diese Dame in Grün - wisst Ihr ihren Namen?«

»Josephine, glaube ich«, sagte Grey und blickte von einem Gesicht zum nächsten. »Josephine aus Cornwall.«

Dies hatte einen Chor leicht verächtlicher »Oooh«-Rufe zur Folge, und ein Mann begann, mit kippender Stimme ein anzügliches Lied zu singen. Dann öffnete sich die Tür, und alle drehten sich um, um zu sehen, wer hereingekommen war.

Es war Richard Caswell, der Besitzer des »Lavender House«. Grey erkannte ihn sofort - und auch er erinnerte sich an Grey, das war offensichtlich. Dennoch, Caswell begrüßte ihn nicht mit seinem Namen, sondern nickte nur freundlich.

»Seppings sagt, Ihr wünscht mich zu sprechen. Wenn Ihr mir folgen würdet.?« Caswell trat beiseite und wies zur Tür.

Ein leiser, anzüglicher Pfiff der Bewunderung klang Grey aus dem Zimmer nach, gefolgt von johlendem Gelächter.

»Du Flittchen, Neil«, dachte er und schüttelte dann jeden Gedanken ab, der nicht seinem Vorhaben galt.

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