Schließlich kamen sie erst am Samstagabend dazu, das Bordell an der Meacham Street zu besuchen. Der Türsteher zeigte mit einem freundlichen Kopfnicken an, dass er Quarry wieder erkannte - eine Begrüßung, die dann durch die Puffmutter fortgesetzt wurde, eine breitlippige Frau mit einem ausladenden Hintern, die ein grünes Samtkleid trug und deren Kopf eine überraschend respektabel aussehende, spitzengesäumte Haube zierte, die genau wie ihr Halstuch zu den Spitzeneinsätzen ihres Mieders passte.
»Na, wenn das nicht der hübsche Harry ist!«, rief sie mit einer Stimme aus, die fast genauso tief war wie Quarrys. »Ihr habt uns vernachlässigt, alter Knabe.« Sie versetzte Quarry einen freundschaftlichen Hieb zwischen die Rippen und kräuselte ihre Oberlippe wie ein betagtes Pferd, sodass zwei große, gelbe Zähne zum Vorschein kamen, welche die letzten verbleibenden Exemplare in ihrem Oberkiefer zu sein schienen.
»Aber wir müssen Euch wohl trotzdem verzeihen, nicht wahr, wo Ihr uns doch so'n süßes Kerlchen wie den hier mitgebracht habt!«
Sie wandte Grey ihr merkwürdig sympathisches Lächeln zu, während ihr gewiefter Blick auf Anhieb die Silberknöpfe an seinem Rock und den feinen Kambricstoff seiner Hemdrüschen registrierte.
»Und wie ist Euer Name, Kindchen?«, fragte sie, packte ihn fest beim Arm und zog ihn hinter sich her in einen kleinen Salon. »Ich weiß, dass Ihr noch nie hier gewesen seid; an ein
hübsches Gesicht wie das Eure würde ich mich erinnern!«
»Das ist Lord John Grey, Mags«, sagte Quarry. Er legte seinen Mantel ab und warf ihn über einen Stuhl, als wäre er zu Hause. »Ein guter Freund von mir, klar?«
»Oh, natürlich, natürlich. Nun, nun, ich frage mich, wer wohl zu ihm passen.?« Maggie schätzte Grey mit dem Geschick eines Pferdehändlers am Markttag ab; ihm wurde eng um die Brust, und er wich ihrem Blick aus, indem er vortäuschte, sich für die Ausstattung des Zimmers zu interessieren, die gelinde gesagt exzentrisch war.
Er war schon zuvor in Bordellen gewesen, wenn auch nicht oft. Dieses hier war nobler als der Durchschnittspuff, mit Gemälden an den Wänden und einem guten Orientteppich vor dem prachtvollen Kaminsims, auf dem sich eine Sammlung von Daumenschrauben, Eisen, Zungenbohrern und anderen Gerätschaften befand, deren Zweck er sich lieber nicht vorstellte. Zwischen diesen Dekorationsstücken lag eine gescheckte Katze, die die Augen geschlossen hatte und eine Pfote träge über dem Feuer baumeln ließ.
»Gefällt Euch wohl, meine Sammlung, wie?« Maggies stand neben ihm und wies auf den Kaminsims. »Das da stammt aus Newgate, und die Eisen hab' ich vom Pranger in Bridewell, wo sie letztes Jahr 'nen neuen aufgestellt haben.«
»Sie werden nicht benutzt«, murmelte Quarry ihm in das andere Ohr. »Nur Zierrat. Obwohl, wenn Ihr an so etwas Geschmack habt, gibt es hier ein Mädchen namens Josephine.«
»Was für eine prächtige Katze«, sagte Grey übertrieben laut. Er streckte den Zeigefinger aus und kraulte das Tier unterm Kinn. Es ließ sich diese Zuwendung einen Moment lang gefallen, dann öffnete es die leuchtend gelben Augen und biss ihn fest.
»Mit Batty müsst Ihr vorsichtig sein«, sagte Maggies, als
Grey seine Hand mit einem Schmerzensausruf zurückriss. »Sie ist hinterlistig.« Sie schüttelte den Kopf mit einem wohlwollenden Blick auf die Katze und schenkte zwei große Gläser Portwein ein, die sie ihren Gästen reichte.
»Nun, Nan haben wir leider seit Eurem letzten Besuch verloren«, sagte sie zu Quarry. »Aber ich habe ein liebes Mädchen aus Devonshire namens Peg, die werdet Ihr bestimmt mögen.«
»Blond?«, fragte Quarry interessiert.
»Oh, natürlich! Und Titten wie Melonen.«
Quarry leerte prompt sein Glas und stellte es mit einem leichten Rülpser ab.
»Hervorragend.«
Grey gelang es, Quarrys Blick auf sich zu lenken, als dieser sich umdrehte, um Maggies zur Salontür zu folgen.
»Was ist mit Trevelyan?«, fragte er lautlos.
»Später«, hauchte Quarry zurück und klopfte auf seine Tasche. Mit einem Augenzwinkern verschwand er im Korridor.
Grey saugte mürrisch an seinem verletzten Finger. Quarry hatte zweifelsohne Recht; die Chancen, an Informationen zu gelangen, waren besser, wenn die gesellschaftlichen Gepflogenheiten erst einmal mithilfe von Geld aufgelockert worden waren - und es war natürlich vernünftig, die Huren zu fragen; möglich, dass die Mädchen unter vier Augen Dinge ausplauderten, welche die Puffmutter mit professioneller Diskretion hüten würde. Er hoffte nur, dass Quarry nicht vergessen würde, seine Blondine nach Trevelyan zu fragen.
Er steckte seinen verletzten Finger in das Glas Portwein und warf einen stirnrunzelnden Blick auf die Katze, die sich jetzt auf dem Rücken zwischen den Daumenschrauben räkelte und unachtsame Besucher einlud, ihr den pelzigen Bauch zu streicheln.
»Was man nicht alles für die liebe Familie tut«, murmelte er säuerlich und ergab sich in das Schicksal eines Abends von zweifelhaftem Vergnügen.
Er fragte sich, warum Quarry diesen Ausflug vorgeschlagen hatte. Er hatte keine Ahnung, wie viel Harry von seinen eigenen Vorlieben wusste oder ahnte; im Lauf der Affäre im Hellfire Club war zwar das eine oder andere Wort gefallen... doch er wusste nicht, wie viel Harry bei dieser Gelegenheit mitgehört hatte, oder wenn ja, welche Schlüsse er daraus gezogen hatte.
Andererseits war es angesichts dessen, was er über Quarrys Charakter und Vorlieben wusste, unwahrscheinlich, dass dieser irgendwelche Hintergedanken hatte. Harry mochte Huren einfach gern - nun, eigentlich alle Frauen; er war nicht wählerisch.
Als die Puffmutter kurz darauf zurückkehrte, traf sie Grey bei der faszinierten Betrachtung der Gemälde an. Von mythologischer Natur und mediokrer Ausführung, zeugten die Gemälde dennoch von bemerkenswerter Erfindungsgabe seitens des Künstlers. Grey riss sich von einer großformatigen Studie los, die einen Zentauren bei der amourösen Paarung mit einer äußerst willigen, jungen Frau zeigte, und kam Maggies Vorschlägen zuvor.
»Jung«, sagte er mit fester Stimme. »Sehr jung. Aber kein Kind«, fügte er hastig hinzu. Er zog seinen Finger aus dem Glas, leckte ihn ab und verzog das Gesicht. »Und ordentlichen Wein bitte. In rauen Mengen.«
Zu seiner großen Überraschung war der Wein ordentlich; ein vollmundiger, fruchtiger Rotwein, dessen Herkunft er nicht erkannte. Die Hure war jung, wie er es gewünscht hatte, jedoch ebenfalls eine Überraschung.
»Es macht Euch doch nichts aus, dass sie Schottin ist, Herzchen?« Mags schwang die Zimmertür auf und gab den
Blick auf ein schmächtiges, dunkelhaariges Mädchen frei, das auf dem Bett hockte und in ein wollenes Schultertuch gehüllt war, obwohl im Kamin ein schönes Feuer brannte. »Manche Männer fühlen sich von ihrem barbarischen Akzent abgestoßen, aber sie ist ein liebes Mädchen, unsere Nessie - sie wird staad sein, wenn Ihr das sagt.«
Die Puffmutter stellte Dekanter und Gläser auf einen kleinen Tisch und lächelte der Hure ebenso fröhlich wie drohend zu, wofür sie einen feindselig funkelnden Blick erntete.
»Ganz und gar nicht«, murmelte Grey und verwies die Puffmutter mit einer höflichen Verbeugung des Zimmers.
»Ich bin mir sicher, dass wir prächtig miteinander auskommen werden.«
Er schloss die Tür und wandte sich dem Mädchen zu. Trotz seiner äußerlichen Selbstbeherrschung verspürte er ein seltsames Gefühl in der Magengrube.
»Staad?«, fragte er.
»Es ist ein süddeutsches Wort für still«, sagte das Mädchen und betrachtete ihn mit Argusaugen. Sie wies mit einem Ruck ihres Kopfes zur Tür, hinter der die Puffmutter verschwunden war. »Sie ist Deutsche, obwohl man das nicht denken würde. Ihr Name ist Magda. Aber sie nennt den Türsteher Staadi - und er ist wirklich stumm. Wollt Ihr also, dass ich den Mund halte?« Sie hielt sich eine Hand vor den Mund, und die Schlitzaugen, die darüber hervorlugten, erinnerten ihn an die Katze, kurz bevor sie ihn gebissen hatte.
»Nein«, sagte er. »Ganz und gar nicht.«
In Wirklichkeit hatte der Klang ihres Akzents einen außergewöhnlichen - und vollkommen unerwarteten -Gefühlstumult in ihm entfesselt. Eine verrückte Mischung aus Erinnerung, Erregung und Erschrecken, die nicht unbedingt angenehm war - doch er wünschte, dass sie um jeden Preis weiterredete.
»Nessie«, sagte er, während er ihr ein Glas Wein einschenkte. »Ich habe diesen Namen schon einmal gehört aber nicht als Bezeichnung für eine Person.«
Ihr Blick blieb argwöhnisch, doch sie nahm den Wein an.
»Ich bin aber eine Person, oder? Es ist kurz für Agnes.«
»Agnes?« Er lachte, so sehr erheiterte ihn ihre bloße Gegenwart. Nicht nur ihr Akzent - dieser schlitzäugige Blick voll mürrischen Argwohns war so unnachahmlich schottisch, dass er sich an einen anderen Ort versetzt fühlte. »Ich dachte, so nennen die Einheimischen ein legendäres Monster, das im Loch Ness leben soll.«
Die Schlitzaugen wurden erstaunt aufgerissen.
»Ihr habt davon gehört? Ihr seid schon einmal in Schottland gewesen?«
»Ja.« Er trank einen großen Schluck von seinem Wein, der ihm warm und rau über die Zunge glitt. »Im Norden. Ein Ort namens Ardsmuir. Kennt Ihr ihn?«
Offenbar tat sie das; sie kletterte aus dem Bett und wich vor ihm zurück, das Weinglas in der einen Hand so fest umklammert, dass er glaubte, sie würde es zerbrechen.
»Hinaus mit Euch«, sagte sie.
»Was?« Er starrte sie verständnislos an.
»Hinaus!« Ein mageres Ärmchen schoss aus den Falten ihres Schultertuchs hervor, und ihr Finger wies zur Tür.
»Aber -«
»Soldaten sind eine Sache und wirklich schlimm genug - aber ich nehme keinen von Cumberlands Schlächtern, und damit genug!«
Ihre Hand verschwand wieder unter dem Schultertuch und brachte einen kleinen, glänzenden Gegenstand zum Vorschein. Lord John erstarrte.
»Meine liebe junge Dame«, begann er, während er langsam die Hand ausstreckte, um sein Weinglas abzustellen, ohne das Messer aus den Augen zu lassen. »Ich fürchte, Ihr verwechselt mich. Ich -«
»Oh, nein, ich verwechsele Euch nicht.« Sie schüttelte den Kopf, und ihre dunklen Locken plusterten sich um ihren Kopf wie ein Heiligenschein. Ihre Augen waren jetzt wieder geschlitzt, und ihr Gesicht war bleich. Nur über ihren Wangenknochen brannten zwei hektische Flecken.
»Mein Pa und zwei Brüder sind in Culloden gestorben, duine a galladh! Holt Euren englischen Schwanz aus der Hose, und ich schwöre Euch, ich schneide ihn Euch an der Wurzel ab!«
»Ich habe nicht die geringste Absicht, das zu tun«, versicherte er ihr und hob beide Hände, um ihr zu signalisieren, dass er nicht vorhatte, sie anzurühren. »Wie alt seid Ihr?« Klein und dünn, wie sie war, sah sie aus wie ungefähr elf, doch wenn ihr Vater in Culloden umgekommen war, musste sie etwas älter sein.
Diese Frage schien sie zu verblüffen. Sie schürzte unsicher die Lippen, doch die Hand mit dem Messer blieb, wo sie war.
»Vierzehn. Aber Ihr braucht nicht zu glauben, dass ich nicht weiß, wie man hiermit umgeht!«
»Ich würde Euch niemals der Unfähigkeit in irgendeinem Bereich verdächtigen, das versichere ich Euch, Madam.«
Es folgte ein Moment des Schweigens, das sich in Verlegenheit verwandelte, als sie einander argwöhnisch betrachteten, beide unsicher, wie sie weiter verfahren sollten. Er hätte am liebsten gelacht; sie war so voller Zweifel, und doch war es ihr bitterernst. Gleichzeitig verbat sie sich durch ihre Leidenschaftlichkeit jede Art von Respektlosigkeit. Nessie leckte sich die Lippen und wies mit einer unsicheren Stoßbewegung ihres Messers auf ihn.
»Ich habe gesagt, Ihr sollt gehen!« Ohne seinen argwöhnischen Blick von ihrem Messer abzuwenden, senkte er langsam die Hände und griff nach seinem Weinglas.
»Glaubt mir, Madam, wenn Euch nicht danach ist, bin ich der Letzte, der Euch zu irgendetwas zwingen würde. Es wäre allerdings eine Schande, einen solch exzellenten Wein zu verschwenden. Wollt Ihr nicht wenigstens Euer Glas austrinken?«
Sie hatte das Glas, das sie in der anderen Hand hielt, vergessen. Sie blickte überrascht darauf hinab, dann sah sie zu ihm auf.
»Ihr wollt nicht mit mir ins Bett?«
»Absolut nicht«, versicherte er ihr vollkommen aufrichtig. »Ich wäre Euch allerdings dankbar, wenn Ihr mir die Ehre einer kurzen Unterhaltung erweisen würdet. Das heißt - ich gehe doch davon aus, dass Ihr nicht wünscht, dass ich auf der Stelle Mrs. Madga hole?«
Er wies mit hochgezogener Augenbraue auf die Tür, und sie biss sich auf die Unterlippe. Er mochte ja nicht viel Erfahrung mit Bordellen haben, doch er war sich hinreichend sicher, dass eine Puffmutter eine Hure, die nicht nur ihre Dienste verweigerte, sondern auch noch ohne direkte Provokation mit dem Messer auf ihre Kunden losging, nicht besonders schätzen würde.
»Mmpfm«, machte sie und ließ die Klinge widerstrebend sinken.
Ohne jede Vorwarnung spürte er einen unerwarteten Stoß der Erregung und wandte sich von ihr ab, um dies zu verbergen. Himmel, er hatte dieses wunderliche schottische Geräusch seit Monaten nicht mehr gehört - nicht mehr seit seinem letzten Besuch in Helwater -, und er hatte erst recht nicht damit gerechnet, dass es eine so machtvolle Wirkung ausüben würde, obwohl es in einer weinerlichen Mädchentonlage ausgestoßen wurde, nicht in jenem Tonfall schroffer Bedrohung, den er
gewohnt war.
Er schluckte seinen Wein hinunter und beschäftigte sich, indem er sich ein weiteres Glas einschenkte und dabei über seine Schulter hinweg beiläufig fragte: »Sagt mir, wie es kommt - angesichts der unzweifelhaften Stärke und Berechtigung Eurer Gefühle gegenüber englischen Soldaten -, dass Ihr Euch in London befindet?«
Ihre Lippen pressten sich zu einem Saum zusammen, und sie senkte die dunklen Augenwimpern, doch einen Moment später entspannte sie sich genügend, um ihr Glas zu heben und daran zu nippen.
»Ihr wollt nicht wissen, wie ich zu einer Hure geworden bin -nur, warum ich hier bin?«
»Ich würde sagen, dass die erste Frage, so interessant sie zweifellos sein mag, Eure eigene Angelegenheit ist«, sagte er höflich. »Doch da die zweite Frage meine eigenen Interessen berührt - ja, das möchte ich wissen.«
»Ihr seid wirklich ein seltsamer Vogel.« Sie legte den Kopf zurück und trank den Wein schnell aus, ohne ihren argwöhnischen Blick von ihm abzuwenden. Als sie das Glas sinken ließ, atmete sie zufrieden tief aus und leckte sich die rot befleckten Lippen.
»Das ist kein schlechtes Gesöff«, sagte sie und klang ein wenig verdutzt. »Aus Mrs. Magdas Privatvorrat - deutscher Wein, aye. Dann gebt uns noch ein Glas, und ich erzähl's Euch, wenn Ihr es so unbedingt wissen wollt.«
Er gehorchte und füllte auch sein eigenes Glas nach. Es war ein guter Wein; so gut, dass er einem Magen und Glieder erwärmte, ohne den Verstand übermäßig zu vernebeln. Er spürte, wie die Anspannung, die er seit dem Betreten des Bordells in Hals und Schultern gehabt hatte, unter seinem wohltätigen Einfluss allmählich schwand.
Auf die schottische Hure schien er ähnlich zu wirken. Sie nippte mit einer grazilen Gier, die sie ihr Glas zweimal leeren ließ, während sie ihre Geschichte erzählte - eine Geschichte, die sie, wie er aus den zahlreichen Nebensächlichkeiten und dramatischen Anekdoten schloss, schon öfter erzählt hatte. Doch alles in allem war sie ganz simpel; da sie sich nach Culloden und Cumberlands Verwüstungen in den Highlands nicht mehr ernähren konnten, war ihr überlebender Bruder zur See gegangen, und sie und ihre Mutter waren nach Süden gezogen und hatten um ihr tägliches Brot gebettelt, wobei sich ihre Mutter dann und wann zu der Maßnahme gezwungen gesehen hatte, ihren Körper zu verkaufen, wenn die Bettelei nichts brachte.
»Dann hat sie sich mit ihm eingelassen«, sagte sie und zog bei dem Wort eine mürrische Grimasse, »in Berwick.« Er war ein englischer Soldat namens Harte gewesen, der frisch aus der Armee entlassen war und sie »in seinen Schutz« genommen hatte - eine Formulierung, die Harte in die Tat umsetzte, indem er Nessies Mutter in einer kleinen Kate unterbrachte, wo sie seine Armeekameraden ganz bequem und zurückgezogen unterhalten konnte.
»Er hat gesehen, welchen Profit er damit machen konnte, also ist er dann und wann auf die Jagd gegangen und mit einem armen Mädchen zurückgekommen, das er halb verhungert auf der Straße gefunden hatte. Er hat ihnen freundlich zugeredet, ihnen Schuhe gekauft und sie wieder rund gefüttert, und bevor sie wussten, was ihnen geschah, haben sie dreimal pro Nacht die Beine für die Soldaten breit gemacht, die ihren Ehemännern eine Kugel durch den Kopf gejagt hatten - und innerhalb von zwei Jahren konnte Bob Harte vierspännig umherkutschieren.«
Vielleicht war es ja in etwa die Wahrheit - vielleicht auch nicht.
Da er keinen Grund hatte, sich selbst etwas vorzumachen, war es Grey klar, dass der Beruf einer Hure sich auf Lügen aufbaute. Und wenn man einer Hure schon grundsätzlich nicht glauben konnte, auch wenn darüber nie gesprochen wurde, dann konnte man wohl erst recht kein großes Vertrauen in ihre Worte setzen.
Dennoch, es war eine faszinierende Geschichte - was ja auch beabsichtigt war, dachte er zynisch. Doch er unterbrach sie nicht; abgesehen davon, dass er ihr Vertrauen gewinnen musste, wenn er Informationen von ihr bekommen wollte, war es schlicht und ergreifend so, dass er es genoss, sie reden zu hören.
»Als wir Bob Harte begegnet sind, war ich nicht älter als fünf«, sagte sie und hielt sich die Faust vor den Mund, um einen Rülpser zu unterdrücken. »Er hat gewartet, bis ich elf war - als ich angefangen habe zu bluten -, und dann.« Sie hielt inne und kniff die Augen zu, als suchte sie nach Inspiration.
»Und dann hat Eure Mutter, die Eure Tugend schützen wollte, ihn gemeuchelt, um Euch zu verschonen«, meinte Grey. »Natürlich hat man sie festgenommen und gehängt, woraufhin Ihr Euch durch die Umstände gezwungen saht, genau jenes Schicksal auf Euch zu nehmen, vor dem sie Euch durch ihr Opfer bewahren wollte?« Er hob sein Glas, prostete ihr ironisch zu und lehnte sich auf seinem Sessel zurück.
Zu seiner großen Überraschung brach sie in Gelächter aus.
»Nein«, sagte sie und wischte sich mit der Hand über die Nase, die ganz rot geworden war, »aber das ist gar nicht so schlecht. Besser als die Wahrheit, aye? Ich werd's mir merken.« Sie hob ihr Glas und erwiderte die Geste, dann legte sie den Kopf zurück und leerte es.
Er griff nach der Flasche und stellte fest, dass sie leer war. Verblüfft merkte er, dass die andere ebenfalls leer war.
»Ich hole noch mehr«, sagte Nessie prompt. Sie hüpfte vom Bett und war zur Tür hinaus, bevor er Protest einlegen konnte. Er sah, dass sie das Messer zurückgelassen hatte; es lag auf dem Tisch neben einem zugedeckten Korb. Als er sich hinüberbeugte und das Tuch hob, entdeckte er, dass es ein Gefäß mit einer schlüpfrigen Salbe und diverse interessante Gerätschaften enthielt, deren Funktion bei einigen offensichtlich, bei anderen aber höchst mysteriös war.
Er hatte gerade eins der eindeutigeren Geräte in der Hand und bestaunte seine kunstvolle Ausführung, die bis hin zu den vorstehenden Venen auf der Bronzeoberfläche - bemerkenswert detailliert war, als sie zurückkam, einen Krug an ihre Brust geklammert.
»Oh, ist es das, was Ihr mögt?«, fragte sie und wies kopfnickend auf den Gegenstand in seiner Hand.
Sein Mund öffnete sich, doch zum Glück kamen keine Worte heraus. Er ließ den schweren Gegenstand fallen, der ihn schmerzhaft am Bein traf, bevor er rumpelnd auf dem Teppich landete.
Nessie schenkte zwei frische Gläser Wein ein und trank einen Schluck aus dem ihren, bevor sie sich bückte, um das Gerät aufzuheben.
»Oh, gut, Ihr habt ihn ein wenig vorgewärmt«, sagte sie beifällig. »Die Bronze ist schrecklich kalt.« Sie hielt das Glas vorsichtig in der einen Hand und den künstlichen Phallus in der anderen, während sie auf Knien über das Bett rutschte und es sich auf den Kissen bequem machte. Sie nippte an ihrem Wein und umfasste mit der anderen Hand das Gerät, dessen Spitze sie benutzte, um ihr Nachthemd genüsslich Zentimeter um Zentimeter an ihren dünnen Oberschenkeln hochzuschieben.
»Soll ich etwas sagen?«, erkundigte sie sich in geschäftsmäßigem Tonfall. »Oder wollt Ihr einfach nur zusehen, und ich tue so, als wärt Ihr gar nicht da?«
»Nein!« Grey, der plötzlich aus seinem Zustand der Sprachlosigkeit erwachte, sprach lauter als beabsichtigt. »Ich meine - nein. Bitte. Lasst... das sein.«
Sie machte erst ein verdutztes, dann ein leicht gereiztes Gesicht, ließ den Gegenstand jedoch los und setzte sich auf.
»Nun, was denn dann?« Sie schob ihr wirres Haar zurück und betrachtete ihn spekulativ. »Ich könnte es vielleicht mit dem Mund machen«, sagte sie widerstrebend. »Aber nur, wenn Ihr ihn zuerst gut wascht. Und zwar mit Seife, klar?«
Grey, der plötzlich das Gefühl hatte, eine ganze Menge getrunken zu haben, und zwar sehr viel schneller als beabsichtigt, schüttelte den Kopf und tastete in seinem Rock herum.
»Nein, das auch nicht. Was ich möchte -« Er zog eine Miniatur hervor, die Joseph Trevelyan zeigte und die er aus dem Schlafzimmer seiner Cousine entwendet hatte, und legte sie vor ihr auf das Bett. »Ich möchte wissen, ob dieser Mann krank ist. Kein Tripper - Syphilis.«
Nessies Augen, die bis jetzt zusammengekniffen gewesen waren, wurden rund vor Überraschung. Sie sah zuerst das Bild an, dann Grey.
»Ihr meint, das kann ich seinem Gesicht ansehen?«, erkundigte sie sich ungläubig.
Nachdem sie eine ausführlichere Erklärung erhalten hatte, hockte sich Nessie hin und blinzelte die Miniatur Trevelyans nachdenklich an.
»Ihr wollt also nicht, dass er Eure Cousine heiratet, wenn er die Krankheit hat, wie?«
»So sieht die Sache aus, ja.«
Sie nickte Grey ernst zu.
»Das ist aber sehr liebenswert von Euch. Und das, obwohl Ihr Engländer seid!«
»Engländer sind durchaus zur Loyalität imstande«, versicherte er ihr trocken. »Zumindest ihren Familien gegenüber. Kennt Ihr den Mann?«
»Ich hatte ihn noch nicht als Kunden, aber, aye, ich glaube, ich habe ihn ein- oder zweimal gesehen.« Sie kniff ein Auge zu und betrachtete das Porträt erneut. Sie schwankte leicht, und Grey begann zu fürchten, dass er mit seiner Weinstrategie über das Ziel hinausgeschossen war.
»Hm!«, sagte sie und nickte vor sich hin. Sie steckte die Miniatur in den Halsausschnitt ihres Hemdes - angesichts ihrer mageren Gestalt konnte er sich nicht vorstellen, was das Bild dort festhielt -, dann glitt sie vom Bett und nahm einen weichen, blauen Morgenrock vom Kleiderhaken.
»Ein paar von den Mädchen werden jetzt beschäftigt sein, aber ich werde ein Wort mit denen wechseln, die noch im Salon sind, ja?«
»Im. oh, im Salon. Ja, das wäre sehr hilfreich. Aber könnt Ihr Eure Nachforschungen diskret anstellen?«
Sie richtete sich voll beschwipster Würde auf.
»Natürlich kann ich das. Lasst mir etwas von dem Wein über, aye?« Sie wies auf den Krug, zog den Morgenrock um sich und schwankte auf eine übertriebene Weise aus dem Zimmer, die besser zu einer Frau mit Hüften gepasst hätte.
Grey lehnte sich seufzend in seinem Sessel zurück und schenkte sich noch ein Glas Wein ein. Er hatte keine Ahnung, was der Tropfen ihn kosten würde, doch er war es wert.
Er hielt sein Glas ans Licht und betrachtete es. Wunderbare Farbe, und das Bouquet war exzellent - fruchtig und dunkel. Er trank noch einen Schluck und dachte über seine bisherigen Fortschritte nach. So weit, so gut. Mit etwas Glück würde er seine Antwort in Bezug auf Trevelyan beinahe sogleich erhalten - obwohl es notwendig werden konnte, noch einmal wiederzukommen, falls es Nessie jetzt nicht möglich war, mit den Mädchen zu sprechen, die zuletzt mit ihm zusammengewesen waren.
Die Aussicht auf eine Rückkehr in das Bordell bereitete ihm jedoch keine Gewissensbisse, da es dieses unausgesprochene
Einvernehmen zwischen ihm und Nessie gab.
Er fragte sich, was sie wohl getan hätte, wenn er tatsächlich an Stelle einer Auskunft an einer körperlichen Eskapade interessiert gewesen wäre. Ihre Einwände dagegen, einem von Cumberlands Männern dienstbar zu sein, schienen ihm zutiefst ernst gewesen zu sein - und ganz ehrlich gesagt fand er diese Einwände nicht unverständlich.
Der Feldzug in den Highlands nach der Schlacht von Culloden war sein erster gewesen, und in seinem Verlauf hatte er Dinge gesehen, bei deren Anblick er sich geschämt hätte, Soldat zu sein, wenn er damals in der geistigen Verfassung gewesen wäre, sie zu begreifen. So jedoch war er taub vor Schrecken gewesen, und als er schließlich an wirklichen Kampfhandlungen teilnahm, war er längst in Frankreich und kämpfte gegen einen ehrbaren Feind - und nicht gegen die Frauen und Kinder eines besiegten Gegners.
Culloden war in gewisser Weise seine erste Schlacht gewesen - wenn er auch dort nicht gekämpft hatte, dank der Skrupel seines älteren Bruders, der ihn zwar mitgenommen hatte, damit er Militärluft schnuppern konnte, jedoch bei der Teilnahme an Kampfhandlungen die Grenze zog.
»Wenn du glaubst, ich gehe das Risiko ein, Mutter deine verstümmelte Leiche heimbringen zu müssen, dann bist du von Sinnen«, hatte Hal ihm grimmig mitgeteilt. »Du hast noch kein Offizierspatent; du bist noch nicht verpflichtet, dir den Hintern wegpusten zu lassen, also wirst du es auch nicht tun. Wage dich mit einem Fuß aus dem Lager - und ich werde dich vor dem versammelten Regiment von Sergeant O'Connell auspeitschen lassen, das verspreche ich dir.«
Narr, der er mit sechzehn gewesen war, hatte er dies als monströse Ungerechtigkeit betrachtet. Als man ihm schließlich nach der Schlacht erlaubt hatte, das Schlachtfeld zu betreten, war er mit hämmerndem Puls hinausgegangen, die Pistole kalt
in der verschwitzten Hand.
Er hatte vorher mit Hector darüber gesprochen. Sie hatten in einem Nest aus Frühlingsgras dicht beieinander unter dem Sternenhimmel gelegen, ein wenig abseits von den anderen. Hector hatte zwei Männer Auge in Auge getötet - weiß Gott wie viele andere im Rauch der Schlacht.
»Man kann es nie genau sagen«, hatte ihm Hector erzählt, der ihm immerhin vier beeindruckende Jahre voraus war und schon das zweite Leutnantspatent sein eigen nannte. »Nicht, wenn es nicht Auge in Auge geschieht, zum Beispiel mit einem Bajonett oder Schwert. Ansonsten ist überall schwarzer Rauch und Lärm, und man weiß gar nicht, was man eigentlich tut - man behält nur seinen Offizier im Auge und rennt, wenn er es sagt, feuert und lädt neu - und manchmal sieht man einen Schotten zu Boden gehen, aber man weiß nie, ob es der eigene Schuss war, der ihn erwischt hat. Es ist genauso gut möglich, dass er nur in ein Maulwurfsloch getreten ist!«
»Aber wenn es dicht bei dir passiert - weißt du es.« Er hatte Hektor kräftig mit dem Knie gestoßen. »Wie ist es denn gewesen? Dein Erster? Und sag mir jetzt bloß nicht, dass du dich nicht daran erinnerst!«
Hector hatte nach ihm getastet und seinen Oberschenkelmuskel gedrückt, bis er wie ein Karnickel gequietscht hatte, dann hatte er ihn an sich gezogen und Johns Gesicht in seine Schulterbeuge gedrückt.
»Na gut, ich erinnere mich daran. Aber warte.« Er schwieg einen Moment, und sein warmer Atem bewegte die Haare über Johns Ohr. Es war noch zu früh im Jahr für Mücken, doch der Wind wehte frisch und kühl über sie hinweg und kitzelte ihre Haut mit den Spitzen des wogenden Grases.
»Es ist - na ja, es ist schnell gegangen. Leutnant Bork hatte mich und einen Kameraden um eine Baumgruppe herumgeschickt, um nachzusehen, ob dort etwas los war, und ich bin vorausgegangen. Ich habe eine Art Schlag und ein Husten hinter mir gehört, und ich dachte, Meadows - er war hinter mir -, ich dachte, er sei gestolpert. Ich habe mich umgedreht, um ihm zu sagen, dass er still sein sollte. Und da lag er auf dem Boden, den ganzen Kopf voll Blut, und ein Schotte ließ gerade den Steinbrocken fallen, mit dem er Meadows getroffen hatte, und bückte sich, um sein Gewehr aufzuheben. Sie sind wie Tiere, weißt du; nichts als wilde Bärte und Dreck, meistens barfuß und halb nackt dazu. Dieser hat aufgeblickt und mich gesehen. Er hat also versucht, das Gewehr aufzuheben und es mir über den Schädel zu ziehen, aber Meadows war darauf gefallen und ich - nun, ich habe einfach nur losgebrüllt und mich auf ihn gestürzt. Ich habe nicht eine Sekunde darüber nachgedacht; es war genau wie beim Exerzieren - es hat sich nur ganz anders angefühlt, als das Bajonett ihn durchbohrt hat.«
John spürte, wie ein leichter Schauer den an ihn gepressten Körper durchlief, und er legte den Arm um Hectors Taille und drückte ihn beruhigend.
»War er sofort tot?«, fragte er.
»Nein«, sagte Hector leise, und John spürte, wie er schluckte. »Er ist hintenüber gefallen und im Sitzen auf dem Boden gelandet, und - und ich konnte das Gewehr nicht mehr festhalten, und so saß er dann da, und das Bajonett hat in ihm gesteckt, und der Kolben. er war auf dem Boden und hat ihn abgestützt, fast wie ein Jagdhocker.«
»Und was hast du getan?« Er streichelte Hectors Brust und versuchte ungeschickt, ihn zu trösten, obwohl das im Moment völlig außerhalb seiner Macht lag.
»Ich wusste, dass ich etwas hätte tun sollen - irgendwie versuchen sollte, ihm den Rest zu geben -, aber ich konnte mir nicht vorstellen, wie. Ich konnte einfach nur dastehen wie ein Weichling, und er hat aus diesem dreckigen Gesicht zu mir aufgestarrt, und ich.«
Hector schluckte noch einmal heftig.
»Ich habe geweint«, platzte es aus ihm heraus. »Ich habe immer wieder gesagt, >es tut mir Leid, es tut mir Leide, und dabei geweint. Und er hat irgendwie den Kopf geschüttelt und etwas zu mir gesagt, aber es war in dieser Barbarensprache, und ich konnte nicht verstehen, ob er wusste, was ich gesagt hatte, oder ob er mich verflucht hat, oder ob er etwas wollte, Wasser vielleicht. ich hatte Wasser dabei.«
Hector verstummte, aber John konnte am krampfhaften Klang seines Atems erkennen, dass er auch jetzt dem Weinen nah war. Seine Hand war so fest um Johns Oberarm geklammert, dass er bestimmt einen blauen Fleck bekommen würde, doch John hielt still, ganz still, bis Hectors Atem ruhiger wurde und sein eisenharter Griff sich endlich löste.
»Es ist mir vorgekommen, als hätte es sehr lange gedauert«, sagte er und räusperte sich. »Obwohl das wahrscheinlich gar nicht stimmt. Nach einer Weile ist einfach sein Kopf nach vorn gefallen, ganz langsam, und dort geblieben. «
Er holte tief und seufzend Luft, als wollte er sich von der Erinnerung befreien, und nahm John beruhigend in den Arm.
»Ja, den Ersten vergisst man nicht. Aber ich bin mir sicher, dass es für dich einfacher sein wird - du wirst es besser machen.«
Grey lag auf Nessies Bett, das Weinglas in der Hand, aus dem er langsam trank. Er starrte an die rußfleckige Decke, doch stattdessen sah er die grauen Wolken über Culloden. Es war einfacher gewesen - zumindest, es zu tun, wenn auch nicht, daran zu denken.
»Du gehst mit Windoms Truppe«, hatte Hal gesagt und ihm eine lange Pistole gereicht. »Eure Aufgabe ist es, Überlebenden den Gnadenschuss zu geben. Durch das Auge ist es am sichersten, aber hinter dem Ohr geht es auch, wenn du merkst, dass du den Schuss ins Auge nicht ertragen kannst.«
Das Gesicht seines Bruders war vor Anstrengung verkrampft gewesen, kreidebleich unter den Spuren des Pulverqualms. Hal war erst fünfundzwanzig, sah aber doppelt so alt aus. Der Regen klebte ihm die Uniform an den Körper, und er war mit dem Schlamm des Schlachtfeldes bedeckt. Er erteilte seine Befehle mit ruhiger, klarer Stimme, doch Grey spürte, wie die Hand seines Bruders zitterte, als dieser ihm die Pistole reichte.
»Hal«, sagte er, als sein Bruder sich abwandte.
»Ja?«.Hal wandte sich zurück, geduldig, doch mit leerem Blick.
»Kommst du zurecht, Hal?«, fragte er mit gesenkter Stimme, damit ihn niemand in der Nähe hören konnte.
Hal schien seinen Blick auf irgendetwas weit hinter ihm geheftet zu haben; es kostete ihn sichtlich Mühe, seinen Blick von jenem fernen Ort zurückzuholen, um ihn auf das Gesicht seines jüngeren Bruders zu richten.
»Ja«, sagte er. Sein Mundwinkel zitterte, als wollte er beruhigend lächeln, doch dann schnellte er erschöpft wieder an seinen Platz. Er legte John eine Hand auf die Schulter und drückte fest zu; John hatte das merkwürdige Gefühl, als stütze er seinen Bruder und nicht umgekehrt.
»Vergiss nicht, Johnny - es ist eine Gnade, die du ihnen erweist. Eine Gnade«, wiederholte er leise, dann ließ er seine Hand sinken und ging.
Es fehlten noch etwa zwei Stunden bis zum Sonnenuntergang, als Korporal Windoms Trupp sich zum Schlachtfeld in Bewegung setzte, ein mühsamer Marsch durch Schlamm und Moorpflanzen, die sich im Vorübergehen an ihre Stiefel klammerten. Der Regen hatte aufgehört, doch ein eisiger Wind klebte ihm den feuchten Umhang an den Körper. Er erinnerte sich an die Mischung aus Entsetzen und Aufregung in seiner Magengrube, überlagert von der Taubheit in seinen Fingern und der Angst, dass er nicht mehr in der Lage sein würde, die Pistole
zu laden, falls er sie öfter als einmal benutzen musste.
Zunächst einmal brauchte er sie jedoch eine ganze Weile gar nicht zu benutzen; sämtliche Männer, an denen sie vorbeikamen, waren eindeutig tot. Fast nur Schotten, obwohl hier und dort ein roter Rock wie eine Flamme zwischen den eintönigen Moorpflanzen brannte. Die gefallenen Engländer wurden respektvoll auf Bahren davongetragen. Die Feinde wurden auf Haufen geworfen; die Soldaten hatten blaue Finger und murmelten Flüche in ihre weißen Atemwölkchen, während sie die Leichen wie gefällte Bäume über das Feld schleiften, die nackten Gliedmaßen wie bleiche Äste, steif und schwierig zu handhaben. Er fragte sich, ob er bei dieser Arbeit helfen sollte, doch das schien niemand von ihm zu erwarten; er schlich hinter den Soldaten her, das Schießeisen in der Hand, während ihm mit jeder Minute kälter wurde.
Er hatte schon öfter Schlachtfelder gesehen, in Preston und Falkirk, wenn auch auf keinem davon so viele Leichen gelegen hatten. Doch eine Leiche glich der anderen, und innerhalb kurzer Zeit machten sie ihm nichts mehr aus.
Er war so abgestumpft, dass er kaum auffuhr, als einer der Soldaten rief: »Hey, Kleiner, ich hab' einen für dich!« Sein von der Kälte verlangsamter Verstand hatte keine Zeit gehabt, diese Worte zu interpretieren, als er sich dem Mann, dem Schotten, auch schon gegenübersah.
Er war irgendwie davon ausgegangen, dass jedermann auf dem Feld bewusstlos war, wenn nicht tot; dass die Exekution nicht mehr sein würde als ein Niederknien neben dem Körper, Anlegen der Pistole, abdrücken, zurücktreten und neu laden.
Der Mann saß kerzengerade zwischen den Heidesträuchern, das Gewicht auf seine Handflächen gestützt, das zerschmetterte Bein, das seine Flucht verhinderte, verdreht und mit Blut verschmiert vor seinem Körper. Er starrte Grey an, die dunklen Augen lebhaft und wachsam. Er war jung, vielleicht in Hectors
Alter. Die Augen wanderten von Greys Gesicht zu der Pistole in seiner Hand, dann wieder zu seinem Gesicht. Der Mann hob das Kinn und presste die Lippen fest zusammen.
Hinter dem Ohr geht es auch, wenn du merkst, dass du den Schuss ins Auge nicht ertragen kannst.
Wie? Wie sollte er an die Stelle hinter dem Ohr kommen, wenn der Mann so dasaß? Grey hob ungeschickt die Pistole, trat zur Seite und ging etwas in die Knie. Der Mann wandte den Kopf, seine Augen folgten ihm.
Grey hielt inne - doch er konnte nicht innehalten, die Soldaten beobachteten ihn.
»K-kopf oder Herz?«, fragte er und versuchte, seine Stimme unter Kontrolle zu behalten. Seine Hände zitterten; es war ja kalt, so furchtbar kalt.
Die dunklen Augen schlossen sich kurz, dann öffneten sie sich wieder und durchbohrten ihn.
»Himmel, soll mich das kümmern?«
Er hob die Pistole, deren Mündung leicht wackelte, und zielte sorgfältig auf die Körpermitte des Mannes. Der Mund des Schotten presste sich zusammen, und er verlagerte das Gewicht auf eine Hand. Bevor Grey zurückfahren konnte, hatte er seine freie Hand erhoben, um Greys Handgelenk zu packen.
Dieser erschrak und versuchte erst gar nicht, seine Hand wegzuziehen. Schwer atmend vor Anstrengung, die Zähne vor Schmerz zusammengebissen, führte der Schotte den Pistolenlauf, bis er an seiner Stirn ruhte, genau zwischen den Augen. Und starrte ihn an.
Seine klarste Erinnerung waren nicht die Augen, sondern die Finger, die sich, kälter noch als seine eigene, eisige Haut sanft um sein Handgelenk schlossen. Es lag jetzt keine Kraft mehr in der Berührung, doch sie brachte sein Zittern zur Ruhe. Die Finger drückten ganz sanft zu. Schenkten ihm Gnade.
Eine Stunde später waren sie in der Dunkelheit zurückgekehrt, und er hatte von Hectors Tod erfahren.
Die Kerze tropfte schon seit einiger Zeit. Es lag noch eine auf dem Tisch, doch er machte keine Anstalten, danach zu greifen. Stattdessen starrte er vor sich hin, als die Flamme erlosch, und trank seinen Wein in der stickigen Dunkelheit weiter.
Er erwachte mit stechendem Kopfschmerz, irgendwann in den dunklen Stunden vor der Dämmerung. Einen verwirrenden Moment lang hatte er keine Ahnung, wo er war oder mit wem. Ein warmes, feuchtes Gewicht lag an ihn geschmiegt, und seine Hand ruhte auf nackter Haut.
Möglichkeiten stoben in seinem Kopf auf wie ein aufgescheuchter Wachtelschwarm und verschwanden dann, als er tief Luft holte und billiges Parfüm, teuren Wein und weiblichen Moschus roch. Mädchen. Ja, natürlich. Die schottische Hure.
Er lag einen Moment benebelt still und versuchte, sich in der unvertrauten Dunkelheit zu orientieren. Da - ein dünner, grauer Strich markierte das Fenster mit seinen geschlossenen Läden, einen Hauch heller als die Nacht im Inneren. Tür. wo war die Tür? Er wandte den Kopf und sah ein schwach flackerndes Licht auf den Dielenbrettern, das erschöpfte Leuchten einer tropfenden Kerze im Flur. Er erinnerte sich vage an einen Aufruhr mit Stampfen und Gesang aus der unteren Etage, doch das hatte jetzt aufgehört. Das Bordell war der Stille anheim gefallen, obwohl es ein merkwürdiges, unangenehmes Schweigen war wie der unruhige Schlaf eines Betrunkenen. Apropos. er bewegte seine Zunge und versuchte, seinen staubtrockenen, klebrigen Schleimhäuten so viel Speichel zu entlocken, dass er schlucken konnte. Sein Herz schlug mit einer unangenehmen Beharrlichkeit, die seine Augäpfel anschwellen zu lassen schien, sodass sie sich mit jedem Schlag schmerzhaft vorwölbten. Er schloss hastig die Augen, aber das half auch nicht.
Es war warm und stickig im Zimmer, doch ein schwacher Luftzug vom geschlossenen Fenster her berührte seinen Körper, ein kühler Finger, der ihm die Haare auf Brust und Beinen zu Berge stehen ließ. Er war nackt, erinnerte sich jedoch nicht, sich ausgezogen zu haben.
Sie lag auf seinem Arm. Mit langsamen Bewegungen löste er sich von dem Mädchen, achtsam, um sie nicht zu wecken. Er blieb kurz auf dem Bett sitzen und umklammerte seinen Kopf mit einem lautlosen Stöhnen, dann erhob er sich mit großer Vorsicht, damit er ihm nicht noch abfiel.
Himmel! Was hatte er sich dabei gedacht, so viel von diesem höllischen Gesöff zu trinken? Es wäre besser gewesen, einfach mit dem Mädchen zu schlafen, dachte er, während er sich tastend seinen Weg durch das Zimmer bahnte, begleitet von Explosionen aus gleißend weißem Licht, das das Innere seines Schädels erhellte wie ein Feuerwerk über der Themse. Sein suchender Fuß stieß an das Tischbein und er tastete sich blind darunter vor, bis er das Nachtgeschirr fand.
Etwas erleichtert, aber immer noch furchtbar durstig, stellte er es wieder auf den Boden und suchte nach Krug und Waschschüssel. Das Wasser im Krug war warm und hatte einen schwachen Metallgeschmack, doch er trank es so gierig, dass es ihm über Kinn und Brust lief, bis seine Eingeweide gegen die lauwarme Flut zu protestieren begannen.
Er wischte sich mit der Hand über das Gesicht und verrieb die Feuchtigkeit auf seiner Brust, dann öffnete er die Fensterläden und atmete die kühle, graue Luft in tiefen, erschauernden Zügen ein. Besser.
Er wandte sich um, um nach seinen Kleidern zu suchen, begriff jedoch etwas verspätet, dass er nicht ohne Quarry gehen konnte. Die Vorstellung, das Haus nach seinem Freund zu durchsuchen, Türen aufzureißen und schlaftrunkene Huren mit ihren Kunden zu überraschen, war mehr, als er in seinem gegenwärtigen Zustand ertragen konnte. Nun, bei Tagesanbruch würde die Puffmutter mit Harry kurzen Prozess machen. Ihm blieb nichts anderes übrig als zu warten.
Wenn er schon warten musste, konnte er das genauso gut im Liegen tun; seine Eingeweide rumorten auf ominöse Weise, und seine Beine fühlten sich schwach an.
Das Mädchen war ebenfalls nackt. Sie lag zusammengerollt auf der Seite, mit dem Rücken zu ihm, glatt und kühl wie ein Stint auf dem Hackblock eines Fischhändlers. Er kroch vorsichtig auf das Bett und ließ sich neben ihr nieder. Sie bewegte sich murmelnd, erwachte aber nicht.
Die Luft war viel kühler jetzt, wo die Dämmerung nahte und die Fensterläden einen Spaltbreit offen standen. Er hätte sich gern zugedeckt, doch das Mädchen lag auf dem zerknitterten Laken. Sie regte sich erneut, und er sah, wie eine Gänsehaut über sie hinwegwanderte. Sie war noch dünner, als sie ihm am gestrigen Abend vorgekommen war, ihre Rippen warfen Schatten auf ihre Flanken, und die Schulterblätter stachen scharf wie Flügel aus ihrem knochigen, schmalen Rücken hervor.
Er drehte sich auf die Seite und zog sie an sich, während er mit einer Hand versuchte, das feuchte Laken zu entwirren und es über sie beide zu ziehen - genauso sehr, um sie zu bedecken, als um seiner zweifelhaften Wärme willen.
Ihr offenes Haar war dicht und lockig und lag weich an seinem Gesicht. Die Art, wie es sich anfühlte, verstörte ihn, obwohl es etwas dauerte, bis er begriff, warum. Sie hatte solches Haar gehabt - die Frau. Jamie Frasers Frau. Grey kannte ihren Namen - Fraser hatte ihn ihm gesagt -, und doch weigerte er sich hartnäckig, sie in Gedanken anders als »die Frau« zu nennen. Als wäre es ihre Schuld - und noch dazu allein die Schuld ihres Geschlechtes.
Aber das ist in einem anderen Land gewesen, dachte er und zog die schmächtige Hure dichter an sich, und außerdem, die Frau ist tot. Das hatte Fraser gesagt.
Doch er hatte den Ausdruck in Frasers Augen gesehen. Fraser hatte nicht aufgehört, seine Frau zu lieben, nur weil sie tot war -nicht mehr, als Grey damit aufhören konnte oder würde, Hector zu lieben. Doch die Erinnerung war eine Sache und das Fleisch eine andere; der Körper kannte kein Gewissen.
Er schlang einen Arm um die feinknochige Gestalt des Mädchens und hielt sie fest an sich gedrückt. Fast keine Brüste und ein schmaler Hintern wie ein Junge, dachte er und spürte eine kleine Flamme vom Wein genährten Verlangens über die Innenseiten seiner Oberschenkel züngeln. Warum nicht?, dachte er. Er bezahlte schließlich dafür.
Doch sie hatte gesagt: »Ich bin aber eine Person, oder?« Und sie war keine der Personen, nach denen er sich sehnte.
Er schloss die Augen und küsste sanft die Schulter neben seinem Gesicht. Dann schlief er wieder ein und trieb auf den Sturmwolken ihres Haars dahin.