15. Des einen Gift

Falls Hauptmann von Namtzen überrascht war, Grey und seinen Kammerdiener zu sehen, so ließ er sich nichts davon anmerken.

»Major Grey! Was für eine große Freude, Euch wieder zu sehen! Bitte, nehmt Ihr ein Glas Wein - etwas Gebäck?« Der hünenhafte Hannoveraner ergriff ihn strahlend an Hand und Unterarm und hatte Tom in die Küche geschickt, Grey in den Salon gesetzt und eine Erfrischung vor ihn hinstellen lassen, bevor er höflich verneinen konnte, geschweige denn den Grund seines Besuchs zu erklären. Als ihm dies jedoch schließlich gelungen war, war der Hauptmann die Hilfsbereitschaft in Person.

»Aber gewiss doch, gewiss! Zeigt mir diese Liste.«

Er nahm das Papier von Grey entgegen und ging damit zum Fenster, um es genau zu betrachten. Die Zeit für den Nachmittagstee war schon lange vorbei, doch so kurz vor dem Mittsommer strömte noch Spätnachmittagslicht herein, das von Namtzen mit einem Strahlenkranz umgab wie einen Heiligen in einem mittelalterlichen Gemälde.

Und er sah auch so aus wie einer dieser deutschen Heiligen, dachte Grey ein wenig geistesabwesend, während er die klaren, asketischen Linien im Gesicht des Mannes bewunderte, seine breite Stirn und die großen, ruhigen Augen. Sein Mund war nicht besonders sinnlich, doch die Fältchen rechts und links zeugten von Humor.

»Ich kenne diese Namen, ja. Was genau möchtet Ihr denn

wissen?«

»Alles, was Ihr mir sagen könnt.« Müdigkeit zerrte an ihm, doch Grey erhob sich und trat neben den Hauptmann, um einen Blick auf die Liste zu werfen. »Das Einzige, was ich über diese Leute weiß, ist, dass sie einen bestimmten Wein gekauft habe. Ich kann nicht genau sagen, worin die Verbindung besteht, doch dieser Wein scheint etwas mit einer. vertraulichen Angelegenheit zu tun zu haben. Mehr kann ich, fürchte ich, nicht sagen.« Er zuckte entschuldigend mit den Achseln.

Von Namtzen sah ihn scharf an, nickte aber und wandte dann seine Aufmerksamkeit wieder dem Papier vor ihm zu.

»Wein, sagt Ihr? Nun, das ist seltsam.«

»Was ist seltsam?«

Der Hauptmann tippte mit seinem langen, makellosen Finger auf das Papier.

»Dieser Name - Hungersbach. Es ist der Familienname eines alten Adelshauses; zu Egkh und Hungersbach. Nur sind es gar keine Deutschen; es sind Österreicher.«

»Österreicher?« Grey spürte, wie sein Herz einen Satz machte, und beugte sich vor, als wollte er sich vergewissern, dass dieser Name auf dem Papier stand. »Seid Ihr sicher?«

Von Namtzen machte ein amüsiertes Gesicht.

»Natürlich. Ihr Anwesen in der Nähe von Graz ist berühmt für seine Weine; das ist der Grund, warum ich sage, es ist seltsam, dass Ihr mir diesen Namen bringt und sagt, dass es um Wein geht. Der beste Wein aus St. Georgen so heißt das Schloss dort, St. Georgen - ist berühmt. Sie machen einen sehr guten Rotwein - eine Farbe wie frisches Blut.«

Grey spürte ein seltsames Rauschen in den Ohren, als wiche ihm selbst plötzlich das Blut aus dem Kopf, und er legte eine Hand auf den Tisch, um sich zu stützen.

»Sagt es mir nicht«, sagte er, und seine Lippen fühlten sich ein wenig taub an. »Der Name des Weins ist >Schilcher

»Ja, genau. Woher habt Ihr das nur gewusst?«

Grey machte eine kleine Handbewegung, um anzuzeigen, dass es keine Rolle spielte. Es schien eine Anzahl Mücken im Zimmer zu sein, obwohl sie ihm bis jetzt nicht aufgefallen waren; sie schwärmten im Licht des Fensters umher, tanzende schwarze Flecke.

»Diese - die Familie Hungersbach - dann befinden sich einige von ihnen in London?«

»Ja. Baron Joseph zu Egkh und Hungersbach ist das Familienoberhaupt, doch sein Erbe ist ein entfernter Vetter namens Reinhardt Mayrhofer - er unterhält ein ziemlich großes Haus am Mecklenburgh Square. Ich bin ein paarmal dort gewesen - obwohl angesichts der derzeitigen Lage.« Er zog eine Schulter hoch, um anzuzeigen, wie delikat die diplomatische Lage war.

»Und dieser. Reinhardt. Er - ist er klein? Dunkelhäutig, mit langem. gelockten. H-haar?« Die Mücken waren plötzlich mehr geworden, und sie leuchteten jetzt, eine beinahe feste Masse flackernder Lichter vor seinen Augen.

»Woher wusstet Ihr - Major! Ist Euch nicht gut?« Er ließ das Papier fallen, packte Grey am Arm und führte ihn eilig zum Sofa. »Setzt Euch bitte. Ich lasse Wasser und Brandy holen. Wilhelm, schnell!« Ein Bediensteter tauchte kurz in der Tür auf und verschwand dann auf von Namtzens drängende Geste hin augenblicklich.

»Mir fehlt nicht - nicht das Geringste«, protestierte Grey. »Wirklich, es gibt. nicht. den. geringsten. G-grund -« Doch der Schwabe legte ihm seine große Hand fest auf die Brust und drückte ihn flach auf das Sofa. Er bückte sich schnell, ergriff Greys Stiefel und hob seine Füße ebenfalls hoch, während er unablässig auf Deutsch nach unverständlichen Dingen rief.

»Ich - wirklich, Sir, Ihr müsst -« Und doch spürte er, wie grauer Nebel vor seinen Augen aufstieg, und in seinem Kopf drehte sich alles, sodass er seine Gedanken nur mühselig ordnen konnte. Er konnte Blut in seinem Mund schmecken, wie seltsam. es vermischte sich mit dem Geruch von Schweineblut, und er spürte, wie es ihm hochkam.

»Mylord, Mylord!« Tom Byrds Stimme hallte durch den Nebel, schrill vor Panik. »Was habt ihr mit ihm gemacht, ihr verfluchten Hunnen?«

Ein Gewirr tieferer Stimmen umgab ihn und sprach Worte, die davonschlüpften, bevor er ihre Bedeutung erfassen konnte; ein Krampf schüttelte ihn und verdrehte ihm mit solch brutaler Gewalt die Eingeweide, dass sich seine Knie an seine Brust hoben und vergeblich versuchten, ihn zu unterdrücken.

»O je«, sagte von Namtzens Stimme dicht neben ihm im Tonfall leichter Bestürzung. »Nun, es war sowieso kein besonders schönes Sofa, nicht wahr? He, Junge zwei Häuser weiter wohnt ein Arzt; lauft zu ihm und holt ihn rasch, ja?«

Danach nahmen die Ereignisse ein albtraumhaftes Wesen an, und es wurde sehr laut. Monsterfratzen blickten ihn durch einen perlmuttfarbenen Nebel an, und Worte wie »Emesis« und »Eiklar« schossen an seinen Ohren vorbei wie pfeilschnelle Fische. Er spürte ein furchtbares Brennen in Mund und Kehle, das in Abständen stechenden Krämpfen weiter unten wich, die so heftig waren, dass er dann und wann für einige Augenblicke das Bewusstsein verlor, nur um dann wieder von einer Flut schwefliger Galle geweckt zu werden, die mit solcher Gewalt aufstieg, dass seine Kehle allein nicht genug Raum für ihren Austritt bot und sie ihm als brennender Speier aus den Nasenlöchern schoss.

Diesen Anfällen folgte reichhaltiger Speichelfluss, der ihm zunächst willkommen war, weil er das schweflige Erbrochene verdünnte, dann jedoch zur Quelle des Schreckens wurde, weil er ihn zu ertränken drohte. Einmal war er sich dumpf bewusst, dass er mit dem Kopf über der Sofakante hing und sabberte wie ein tollwütiger Hund, bevor ihn jemand hochzog und versuchte, ihm eine Flüssigkeit einzuflößen. Sie war kühl und klebrig, und als sie seinen Gaumen berührte, revoltierte sein Inneres erneut. Schließlich breitete sich das stickige Parfüm des Mohns wie ein Verband über seine wunden Nasenschleimhäute; er saugte schwach an dem Löffel in seinem Mund und stürzte erleichtert in die flammendurchzogene Dunkelheit.

Er erwachte unvorstellbare Zeit später aus der Orientierungslosigkeit der Opiumvisionen und stellte fest, dass eine der Monsterfratzen aus seinen Träumen immer noch zugegen war und sich über ihn beugte - ein bleiches Antlitz mit vorquellenden Augen und Lippen von der Farbe roher Leber. Eine feuchtkalte Hand machte sich an seiner Intimsphäre zu schaffen.

»Leidet Ihr an einer chronischen Geschlechtskrankheit, Mylord?«, erkundigte sich die Fratze. Ein Daumen piekste ihn vertraulich in den Hodensack.

»Absolut nicht«, sagte Grey, wobei er sich kerzengerade hinsetzte und sich den Hemdschoß schützend zwischen die Beine presste. Das Blut strömte ihm aus dem Kopf, und er schwankte alarmierend. Er packte die Kante eines Tischchens neben dem Bett, um sich aufrecht zu halten, und bemerkte erst jetzt, dass die furchtbare Fratze nicht nur klamme Hände hatte, sondern auch eine übergroße Perücke und einen schrumpeligen Körper, der in schäbiges Schwarz gekleidet war und nach Medikamenten stank.

»Man hat mich vergiftet. Was seid Ihr für ein infamer Quacksalber, dass Ihr einen Aufruhr der inneren Organe nicht von der Syph unterscheiden könnt, zum Kuckuck?«, wollte er wissen.

»Vergiftet?« Der Arzt machte ein etwas verwundertes Gesicht. »Wollt Ihr damit sagen, dass ihr nicht absichtlich eine Überdosis der Substanz genommen habt?«

»Welcher Substanz?«

»Nun, Quecksilbersulfid natürlich. Es wird zur Behandlung der Syphilis verwendet. Das Resultat der Magenspülung. was habt Ihr vor, Sir? Ihr dürft Euch nicht anstrengen, Sir, wirklich, das dürft Ihr nicht!«

Grey hatte die Beine aus dem Bett gestreckt und versuchte aufzustehen, wurde jedoch sofort von einer erneuten Woge der Übelkeit überwältigt. Der Arzt packte ihn am Arm, genauso sehr, um ihn am Umfallen zu hindern, wie um seine Flucht zu verhindern.

»Aber, aber, Sir, legt Euch einfach hin. ja, ja, so ist's richtig, genau. Ihr seid sehr knapp davongekommen, Sir; Ihr dürft Eure Gesundheit nicht aufs Spiel setzen, indem Ihr hastige -«

»Von Namtzen!« Grey widersetzte sich den Händen, die ihn wieder in das Bett schoben, und rief nach Beistand. Seine Kehle fühlte sich an, als hätte man sie mit einer großen Holzraspel bearbeitet. »Von Namtzen, wo in Gottes Namen seid Ihr?«

»Ich bin hier, Major.« Eine große Hand legte sich von der anderen Seite her fest auf seine Schulter, und als er sich umdrehte, sah er das gut aussehende Gesicht des Hannoveraners mit gerunzelter Stirn auf sich herabblicken.

»Ihr seid vergiftet worden, sagt Ihr? Wer würde denn so etwas tun?«

»Ein Mann namens Trevelyan, Ich muss gehen. Würdet Ihr mir meine Kleider besorgen?«

»Aber Mylord.!«

»Aber Major, Ihr seid -«

Grey packte von Namtzens Handgelenk. Seine Hand zitterte, doch er brachte alle Kraft auf, die er hatte.

»Ich muss gehen, und zwar sofort«, sagte er heiser. »Die Pflicht verlangt es von mir.«

Die Miene des Hannoveraners veränderte sich augenblicklich, und er nickte und erhob sich.

»Nun gut. Dann gehe ich mit Euch.«

Diese Absichtserklärung hatte Greys magere Kraftreserven komplett erschöpft, doch zum Glück nahm von Namtzen die Dinge in die Hand, indem er den Arzt nach Hause schickte, seine Kutsche bereitstellen ließ und Tom Byrd herbeirief, der sofort Greys Uniform holte - die zum Glück gereinigt worden war - und ihm hineinhalf.

»Ich bin sehr froh, dass Ihr noch am Leben seid, Mylord, aber ich muss schon sagen, dass Ihr ein Mann seid, der nicht gut mit seinen Kleidern umgeht«, sagte Byrd vorwurfsvoll. »Und dann auch noch Eure beste Uniform! Zumindest war sie das«, fügte er hinzu und warf einen kritischen Blick auf einen kaum sichtbaren Fleck an der Vorderseite der Weste, bevor er sie hochhielt, damit Grey mit den Armen hineinschlüpfen konnte.

Grey, der keine Energie zu verschwenden hatte, sagte nichts, bis sie in von Namtzens Kutsche die Straße entlangratterten. Auch der Hannoveraner trug seine beste Uniform, und er hatte den Helm mit dem Federbusch mitgenommen, der neben ihm auf der Sitzbank lag. Außerdem hatte er eine große Porzellanschüssel mit rohen Eiern dabei, die er sich sorgsam auf die Knie stellte.

»Was -?« Grey wies kopfnickend auf die Eier, denn er war zu schwach, um genauer nachzufragen.

»Der Arzt sagt, Ihr müsst Eiklar essen, häufig und in großen Mengen«, erklärte der Hannoveraner sachlich. »Es ist das Gegenmittel für das Quecksilbersulfid. Und Ihr dürft zwei Tage lang weder Wasser noch Wein trinken, nur Milch. Hier.« Mit einer Geschicklichkeit, die angesichts der schwankenden Kutsche bewundernswert war, nahm er ein Ei aus der Schüssel, schlug es am Rand der Schüssel entzwei und ließ das Weiße in einen kleinen Zinnbecher gleiten. Diesen reichte er Grey, bevor er - ganz der Knauser - den übrig gebliebenen Dotter schlürfte und die Bruchstücke der Eierschale aus dem Fenster warf.

Das Zinn fühlte sich kühl in seiner Hand an, doch Grey betrachtete das Eiklar mit deutlichem Mangel an Begeisterung. Tom Byrd funkelte ihn vom gegenüberliegenden Sitz her an.

»Das trinkt Ihr«, sagte er in drohendem Tonfall. »Mylord.«

Grey funkelte zurück, gehorchte jedoch widerstrebend. Es fühlte sich etwas unangenehm an, doch er stellte erleichtert fest, dass die Übelkeit offenbar endgültig vorüber war.

»Wie lange -?«, fragte er und sah aus dem Fenster. Es war Donnerstag spätnachmittags gewesen; jetzt war es Vormittag -doch welchen Tages?

»Es ist Freitag«, sagte von Namtzen.

Grey entspannte sich ein wenig, als er das hörte. Er hatte jedes Gespür für Zeit verloren und war erleichtert über die Entdeckung, dass sein Erlebnis doch nicht die Ewigkeit gedauert hatte, die er im Gefühl gehabt hatte. Trevelyan würde Zeit gehabt haben, die Flucht zu ergreifen, vielleicht aber nicht so viel, um endgültig zu entkommen.

Von Namtzen hustete taktvoll.

»Eventuell ziemt es sich nicht, dass ich danach frage wenn ja, müsst Ihr mir vergeben -, doch wenn wir Herrn Trevelyan in Kürze begegnen, wäre es womöglich gut zu wissen, warum er versucht hat, Euch umzubringen.«

»Ich weiß nicht, ob er vorhatte, mich umzubringen«, sagte Grey und nahm den nächsten Becher Eiweiß mit einer schwachen Grimasse des Abscheus entgegen. »Es ist möglich, dass er mich nur eine Zeit lang außer Gefecht setzen wollte, um Zeit zur Flucht zu gewinnen.«

Von Namtzen nickte, obwohl sich die Stirn über seinen dichten Augenbrauen in Falten zog.

»Hoffen wir es«, sagte er. »Doch wenn es so ist, hat er nicht sehr gut geschätzt. Wenn Ihr glaubt, dass er fliehen will, wird er dann noch in seinem Haus sein?«

»Wahrscheinlich nicht.« Grey schloss die Augen und versuchte zu denken. Es war schwierig; die Übelkeit war zwar vorbei, doch das Schwindelgefühl kehrte in unregelmäßigen Abständen zurück. Er fühlte sich, als sei sein Gehirn ein Ei, das jemand fallen gelassen hatte - zerbrechlich und breiig. »Tanz, tanz, Quieselchen, dann schenk ich dir ein Ei«, murmelte er. »Nein, sagt das Quieselchen, ich tanz auch nicht für zwei.«

»Oh?«, sagte von Namtzen höflich. »Ganz Eurer Meinung, Major.«

Wenn Trevelyan vorgehabt hatte, ihn umzubringen, war es möglich, dass der Mann noch zu Hause war; denn wenn Grey tot war, hatte er hinreichend Spielraum, um seine Plänen zu verfolgen - wie auch immer diese aussahen. Doch wenn nicht, oder wenn er sich nicht sicher war, ob das Quecksilbersulfid eine tödliche Wirkung haben würde, war es möglich, dass er sogleich geflohen war. In welchem Falle Grey öffnete die Augen und richtete sich auf.

»Sagt dem Kutscher, er soll zum Mecklenburgh Square fahren«, sagte er drängend. »Bitte.«

Von Namtzen stellte die Kursänderung nicht infrage, sondern steckte den Kopf aus dem Fenster und rief dem Kutscher etwas auf Deutsch zu. Die schwere Kutsche schwankte, als sie langsamer wurde und dann wendete.

Sechs Eier später kam sie vor Reinhardt Mayrhofers Haus zum Stehen.

Von Namtzen sprang behände von der Kutsche, setzte seinen Helm auf und schritt kühn wie Achilles mit wehenden Federn auf die Tür des Hauses zu. Auch Grey ergriff seinen Hut, so armselig und bedeutungslos dieser im Vergleich auch erscheinen mochte, und folgte ihm, wobei er sich für den Fall, dass seine Knie nachgaben, fest an Tom Byrds Arm klammerte.

Als Grey die Schwelle erreichte, stand die Tür offen, und von Namtzen ließ eine Flut deutscher Bedrohlichkeit über dem Butler niedergehen. Greys Deutschkenntnisse reichten gerade so weit, dass er etwas Konversation betreiben konnte, doch verstand er, dass von Namtzen den Butler aufforderte, Reinhardt Mayrhofer zu holen, und zwar sofort, wenn nicht schneller.

Der Butler, ein kantiger Mensch in den mittleren Jahren, dessen Stirn einen sturen Ausdruck hatte, widerstand dieser ersten Salve tapfer, indem er darauf beharrte, dass sein Herr nicht zu Hause sei, doch der Mann hatte eindeutig keine Ahnung von der wahren Macht der Armeen, die sich vor ihm aufgebaut hatten.

»Ich bin Stephan Landgraf von Erdberg«, verkündete von Namtzen hochmütig und richtete sich zu voller Größe auf -welche Grey inklusive Federn auf ungefähr zwei Meter zehn schätzte. »Ich werde jetzt eintreten.«

Das tat er auch prompt, wobei er den Kopf nur so weit senkte, dass sein Helm nirgendwo anstieß. Der Butler wich zischend zurück und protestierte mit aufgeregten Handbewegungen. Grey nickte dem Mann im Vorübergehen kühl zu und schaffte es, die Würde der Armee Seiner Majestät zu wahren, indem er die ganze Eingangshalle ohne Unterstützung durchquerte. Beim Erreichen des Morgenzimmers steuerte er auf die erstbeste Sitzgelegenheit zu und brachte es gerade noch fertig, darauf Platz zu nehmen, bevor seine Beine nachgaben.

Von Namtzen hatte die Stellung des Butlers unter Kanonenbeschuss genommen, und sie schien jetzt rapide zu bröckeln, wurde jedoch noch verteidigt. Nein, sagte der Butler, der jetzt sichtlich die Hände rang, nein, der Herr sei ganz bestimmt nicht zu Hause, und nein, das Gleiche gelte leider auch für die Herrin.

Tom Byrd war Grey gefolgt und legte beträchtliche Ehrfurcht an den Tag, als er sich jetzt im Zimmer umsah und die Malachittische mit den goldenen Beinen, die weißen Damastvorhänge und die gigantischen, goldgerahmten Gemälde entdeckte, die sämtliche Wände bedeckten.

Grey schwitzte heftig von der Anstrengung des Gehens, und der Schwindel versetzte seinen Kopf erneut in Bewegung. Doch er brachte sich mit eiserner Hand unter Kontrolle und blieb aufrecht sitzen.

»Tom«, sagte er leise, um die Aufmerksamkeit des belagerten Butlers nicht auf sich zu lenken. »Geht und durchsucht das Haus. Dann kommt zurück und sagt mir, was - oder wen - Ihr gefunden habt.«

Byrd warf ihm einen argwöhnischen Blick zu, denn offenbar hielt er dies für einen Vorwand Greys, ihn loszuwerden, um unauffällig zu sterben - doch Grey hielt sich kerzengerade und biss die Zähne zusammen, und nach ein paar Sekunden nickte der Junge und schlüpfte lautlos aus dem Zimmer, ohne dass ihn der geplagte Butler bemerkte.

Grey atmete tief aus, schloss die Augen und klammerte sich an seinen Knien fest, bis das Schwindelgefühl nachließ. Es schien jetzt schneller zu vergehen; nur ein paar Momente, und er konnte die Augen wieder öffnen.

Unterdessen schien von Namtzen den Butler besiegt zu haben und verlangte jetzt lauthals eine sofortige Versammlung des gesamten Haushalts. Er sah sich nach Grey um und unterbrach seine Tirade für einen Augenblick.

»Oh, und bitte bringt mir das Eiklar von drei Eiern in einem Becher.«

»Wie bitte?«, fragte der Butler schwach.

»Eier. Seid Ihr taub?«, erkundigte sich von Namtzen in beißendem Tonfall. »Nur das Eiweiß. Schnell!«

Peinlich berührt von dieser öffentlichen Sorge um seinen geschwächten Zustand, zwang sich Grey in die Senkrechte und trat neben den Hannoveraner, der jetzt da die Niederlage des Butlers vollständig war - seinen Helm abgenommen hatte und ein sehr selbstzufriedenes Gesicht machte.

»Geht es Euch jetzt besser, Major?«, fragte er und tupfte sich vorsichtig mit einem Leinentaschentuch den Schweiß vom Haaransatz.

»Sehr viel besser, ich danke Euch. Verstehe ich es richtig, dass sowohl Reinhardt Mayrhofer als auch seine Frau nicht da sind?«

Reinhardt, so dachte er, war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht da. Doch seine Frau »Das sagt der Butler. Wenn er nicht unterwegs ist, ist er ein Feigling«, sagte von Namtzen voller Genugtuung und steckte sein Taschentuch ein. »Aber ich werde ihn aus seinem Versteck ziehen wie eine Rübe, und dann - was habt Ihr dann vor?«, erkundigte er sich.

»Wahrscheinlich nichts«, sagte Grey. »Ich glaube, dass er tot ist. Ist das zufällig der fragliche Herr?« Er wies auf ein kleines Porträt in einem mit Perlen besetzten Rahmen auf einem Tisch am Fenster.

»Ja, das sind Mayrhofer und seine Frau Maria. Sie sind Vetter und Cousine«, fügte er hinzu - unnötigerweise angesichts der großen Ähnlichkeit der beiden Gesichter auf dem Porträt.

Beide hatten zwar die gleichen zarten Gesichtszüge mit einem langen Hals und rundem Kinn, doch Reinhardt hatte eine gebieterische Nase und eine aristokratische Miene. Maria dagegen war eine echte Schönheit, dachte Grey; natürlich trug sie auf dem Porträt eine Perücke, hatte aber den gleichen warmen Hautton und die gleichen braunen Augen wie ihr Mann, daher war ihr Haar wahrscheinlich ebenfalls dunkel.

»Reinhardt ist tot?«, fragte von Namtzen interessiert und blickte auf das Porträt. »Wie ist er denn gestorben?«

»Erschossen«, erwiderte Grey kurz. »Sehr wahrscheinlich von dem Herrn, der mich vergiftet hat.«

»Was für ein äußerst umtriebiger Knabe.« An diesem Punkt wurde von Namtzens Aufmerksamkeit durch das Eintreten eines Dienstmädchens abgelenkt, dessen Gesicht vor Aufregung weiß war und das ein Schüsselchen mit dem erbetenen Eiklar trug. Sie sah von einem Mann zum anderen, dann hielt sie von Namtzen zaghaft das Schüsselchen hin.

»Danke«, sagte er. Er reichte Grey das Schüsselchen und machte sich sogleich daran, die Magd auszufragen, und beugte sich so dicht zu ihr hinüber, dass sie sich an die nächstliegende Wand presste, sprachlos vor Schreck und nicht zu mehr imstande, als durch Kopfschütteln Ja und Nein zu signalisieren.

Da er den Einzelheiten dieser einseitigen Unterhaltung nicht folgen konnte, wandte sich Grey ab und betrachtete angewidert den Inhalt seines Schüsselchens. Das Geräusch von Schritten und erregten Stimmen im Flur ließ darauf schließen, dass der Butler in der Tat wie befohlen den Haushalt versammelte. Er stellte die Schüssel hinter einer Alabastervase auf dem Tisch ab und trat in den Korridor hinaus, wo er eine kleine Anzahl von Hausbediensteten antraf, die aufgeregt auf Deutsch durcheinander plapperten.

Bei seinem Anblick hielten sie abrupt inne und starrten ihn mit einer Mischung aus Neugier und Argwohn an, zu der sich in einigen Gesichtern schlichte Angst zu gesellen schien.

»Guten Tag«, sagte er und lächelte freundlich. »Ist jemand von Euch Engländer?«

Es wanderten Blicke hin und her, die sich auf zwei junge Zimmermädchen zu konzentrieren schienen. Er lächelte ihnen beruhigend zu und winkte sie zur Seite. Sie sahen ihn mit weit aufgerissenen Augen an wie zwei Rehe, die sich einem Jäger gegenübersehen, doch ein Blick auf von Namtzen, der hinter ihm aus dem Morgenzimmer trat, überzeugte sie rasch davon, dass Lord John das geringere Übel war, und sie folgten ihm dicht auf den Fersen wieder in das Zimmer, sodass von Namtzen sich mit der Versammlung in der Eingangshalle befassen konnte.

Ihre Namen, so gaben die Mädchen stotternd und errötend zu, waren Annie und Tab. Sie stammten beide aus Cheapside, waren Busenfreundinnen und standen seit drei Monaten in Herrn Mayrhofers Diensten.

»Wenn ich es richtig verstehe, ist Herr Mayrhofer heute nic ht zu Hause«, sagte Grey immer noch lächelnd. »Wann ist er ausgegangen?«

Die Mädchen sahen einander verwirrt an.

»Gestern?«, meinte Grey. »Heute Morgen?«

»Oh, nein, Sir«, sagte Annie. Sie schien die Beherztere der beiden zu sein, wenn sie sich auch nicht dazu durchringen konnte, ihm länger als den Bruchteil einer Sekunde in die Augen zu sehen. »Der Herr ist seit Dienstag f-fort.«

Und Magruders Leute hatten die Leiche am Mittwoch Morgen gefunden.

»Ah, ich verstehe. Wisst Ihr, wohin er gegangen ist?« ;

Natürlich wussten sie das nicht. Allerdings sagten sie nachdem sie eine Weile von einem Fuß auf den anderen gestiegen waren und einander widersprochen hatten -, dass Herr Mayrhofer oft kurze Reisen unternahm und zwei oder dreimal im Monat mehrere Tage lang nicht zu Hause war.

»Aha«, sagte Grey. »Und was bitte macht Herr Mayrhofer geschäftlich?«

Verblüffte Blicke, gefolgt von Achselzucken. Herr Mayrhofer hatte eindeutig Geld; woher es kam, ging sie nichts an. Grey spürte einen zunehmenden Metallgeschmack am hinteren Ende seiner Zunge und schluckte, um ihn hinunterzuzwingen.

»Nun denn. Als er diesmal das Haus verlassen hat, ist er morgens aufgebrochen? Oder später am Tag?«

Die Mädchen runzelten die Stirn und konferierten murmelnd miteinander, bevor sie zu dem Schluss kamen, dass keine von ihnen gesehen hatte, wie Herr Reinhardt das Haus verlassen hatte, und nein, sie hatten nicht gehört, wie die Kutsche vorfuhr, aber »So muss es gewesen sein, Annie«, sagte Tab, die sich jetzt so sehr ereiferte, dass sie einen Teil ihrer Angst verlor. »Denn er war am Nachmittag schließlich nicht in seinem Schlafzimmer, nicht wahr? Herr Reinhardt macht gern einen Mittagsschlaf«, erklärte sie an Grey gewandt. »Ich schlage gleich nach dem Mittagessen das Bett auf und habe es auch an diesem Tag getan - doch es war nicht benutzt, als ich nach dem Tee hinaufgegangen bin. Also muss er doch am Morgen aufgebrochen sein, oder?«

So ging die Befragung noch eine Weile weiter, doch Grey konnte ihnen nur wenige hilfreiche Aussagen entlocken, von denen die meisten verneinender Natur waren.

Nein, sie glaubten nicht, dass ihre Herrin ein grünes Samtkleid besaß, obwohl es natürlich möglich war, dass sie eins hatte anfertigen lassen; das würde ihre Leibdienerin wissen. Nein, die Herrin war heute wirklich nicht zu Hause, zumindest glaubten sie das. Nein, sie wussten nicht mit Gewissheit, wann sie das Haus verlassen hatte - aber ja, gestern war sie hier gewesen, und letzte Nacht, ja. War sie letzten Dienstag zu Hause gewesen? Sie glaubten schon, konnten s.ch aber nicht genau erinnern.

»Ist hier je ein Herr namens Joseph Trevelyan zu Besuch gewesen?«, fragte er. Die Mädchen wechselten achselzuckende Blicke und sahen ihn dann verblüfft an. Woher sollten sie das wissen? Ihr Arbeitsfeld war oben; sie bekamen nur selten Besucher zu Gesicht, es sei denn, diese blieben über Nacht.

»Eure Herrin - Ihr sagt, sie ist letzte Nacht zu Hause gewesen. Wann habt Ihr sie zum letzten Mal gesehen?«

Die Mädchen runzelten gleichzeitig die Stirn. Annie sah Tab an; Tab erwiderte ihren Blick mit einer Miene der Verwunderung. Beide zuckten mit den Achseln.

»Nun. ich weiß es nicht genau, Mylord«, sagte Annie. »Sie ist in letzter Zeit schlecht zurecht gewesen, die Herrin. Sie ist den ganzen Tag in ihrem Zimmer geblieben und hat sich Tabletts bringen lassen. Ich gehe natürlich regelmäßig in ihr Zimmer, um die Bettwäsche zu wechseln, aber sie war dann immer in ihrem Boudoir oder in der Kammer mit dem Nachttopf. Ich glaube, das letzte Mal, dass ich sie selbst gesehen habe, war. Montag?« Sie sah Tab mit hochgezogenen Augenbrauen an, und diese zuckte mit den Achseln.

»Schlecht zurecht«, wiederholte Grey. »Sie ist krank gewesen?«

»Ja, Sir«, sagte Tab, glücklich, eine konkrete Auskunft erteilen zu können. »Der Arzt ist hier gewesen und so weiter.«

Er fragte weiter nach, jedoch ohne Erfolg. Keine von ihnen, so schien es, hatte den Arzt selbst gesehen oder irgendetwas über die Krankheit ihrer Herrin gehört; sie hatten nur durch die Köchin davon reden gehört. oder war es Ilse gewesen, die Kammerzo fe der Herrin?

Grey ließ das Thema fallen, doch die Erwähnung von Gerede brachte ihn darauf, sich weiter nach ihrem Herrn zu erkundigen.

»Natürlich könnt Ihr das nicht aus persönlicher Erfahrung wissen«, sagte er und veränderte den Ausdruck seines Lächelns zu entschuldigender Höflichkeit, »aber eventuell hat der Kammerdiener von Herrn Mayrhofer ja einmal etwas erwähnt. ich frage mich, ob Euer Herr vielleicht irgendwelche besonderen Stellen oder Merkmale hat? An seinem Körper, meine ich.«

Die Gesichter beider Mädchen verloren jeden Ausdruck und liefen dann so schnell rot an, dass sie sich innerhalb von Sekunden in ein Paar zum Bersten reifer Tomaten verwandelten. Sie wechselten kurze Blicke, und Annie gab ein schrilles Quietschen von sich, das ein unterdrücktes Kichern hätte sein können.

Er brauchte an dieser Stelle kaum noch eine Bestätigung, doch nachdem sie eine Reihe von Beinahe-Schreien unterdrückt und sich die Hände vor den Mund gehalten hatten, rückten die Mädchen schließlich damit heraus, dass Waldemar, der Kammerdiener, der Kammerzofe Hilde erklärt hatte, warum er so viel Rasierseife benötigte.

Er entließ die Mädchen, die kichernd aus dem Zimmer gingen, und ließ sich für einen Augenblick der Erholung auf den mit Brokat bestickten Sessel am Schreibtisch sinken und legte den Kopf auf seine verschränkten Arme, während er darauf wartete, dass sein Herz aufhörte, so fest zu schlagen.

Damit war also immerhin die Identität der Leiche festgestellt. Und irgendeine Art von Verbindung zwischen Reinhardt Mayrhofer, dem Bordell an der Meacham Street - und Joseph Trevelyan. Doch diese Verbindung beruhte allein auf dem Wort einer Hure und seiner eigenen Identifikation des grünen Samtkleides, erinnerte er sich.

Was, wenn Nessie sich irrte und der Mann, der das Bordell in Grün gekleidet verließ, nicht Trevelyan war? Doch er war es, rief er sich ins Gedächtnis. Richard Caswell hatte es zugegeben. Und nun war ein betuchter Österreicher tot aufgetaucht, bekleidet mit einem grünen Kleid, das zumindest dem Anschein nach dasselbe Kleid war, das Magda, die Puffmutter von der Meacham Street, getragen hatte - welches wiederum vermutlich das Kleid war, das Trevelyan getragen hatte. Und Mayrhofer war ein Österreicher, der häufig mysteriöse Reisen antrat.

Grey war sich hinreichend sicher, dass er Bowles' großen Unbekannten entdeckt hatte. Und wenn Reinhardt Mayrhofer tatsächlich ein Spion war. dann lag der Schlüssel zu Tim

O'Connells Tod wahrscheinlich im finsteren Reich von Staatskunst und Verräterei, nicht im blutroten Revier von Lust und Rache.

Doch die Scanions waren ja fort, erinnerte er sich. Und welche Rolle in Gottes Namen spielte Joseph Trevelyan bei alledem?

Sein Herzschlag verlangsamte sich wieder; er schluckte den Metallgeschmack in seinem Mund hinunter, und als er dann den Kopf hob, fiel sein Blick auf etwas, das er bis jetzt zwar mit halbem Auge gesehen, jedoch nicht bewusst zur Kenntnis genommen hatte: ein großes Gemälde, das über dem Schreibtisch hing, von erotischer Natur und mittelmäßiger Ausführung - signiert mit den Initialen »RM«, die in der Ecke geschickt in einen Blumenstrauß eingearbeitet waren.

Er erhob sich, wischte sich die verschwitzten Handflächen an den Rockschößen ab und sah sich rasch im Zimmer um. Es gab noch zwei Bilder der gleichen Art - unleugbar von derselben Hand gemalt wie die Bilder, die Magdas Boudoir zierten. Alle mit »RM« signiert.

Dies war ein zusätzlicher Beweis für Mayrhofers Verbindungen, wäre ein solcher noch nötig gewesen. Doch es weckte auch erneute Fragen über Joseph Trevelyan. Er hatte nur Caswells Wort, dass Trevelyans Inamorata eine Frau war -ansonsten wäre er sich sicher gewesen, dass dieser seine Rendezvous mit Mayrhofer abhielt. zu welchem Zweck auch immer.

»Und der Tag, an dem du Dickie Caswell über den Weg traust, du närrischer Tropf.«, knurrte er und zog sich aus dem Sessel hoch. Auf seinem Weg zur Tür fiel ihm das Schüsselchen mit dem gerinnenden Eiklar ins Auge, und er nahm sich eine Sekunde Zeit, um es hastig in die Schublade des Schreibtischs zu schieben.

Von Namtzen hatte die restlichen Dienstboten zur weiteren Befragung in die Bibliothek getrieben. Als er Grey hereinkommen hörte, drehte er sich zu ihm um.

»Sie sind wirklich beide fort. Er schon seit ein paar Tagen, sie irgendwann letzte Nacht - niemand hat es gesehen. Das sage n zumindest diese Dienstboten.« An diesem Punkt drehte er sich um und warf einen unerbittlichen Blick auf den Butler, der zusammenzuckte.

»Fragt sie doch bitte nach dem Arzt«, sagte Grey und blickte von einem Gesicht zum nächsten.

»Arzt? Geht es Euch wieder schlechter?« Von Namtzen schnippte mit den Fingern und wies auf eine kräftige Frau mit einer Schürze, die wohl die Köchin sein musste. »Ihr mehr Eier!«

»Nein, nein! Mir geht es bestens, danke. Die Zimmermädchen haben gesagt, dass es Mrs. Mayrhofer diese Woche nicht gut gegangen ist und dass ein Arzt hier gewesen ist. Ich möchte gern wissen, ob jemand ihn gesehen hat.«

»Ah?« Bei diesen Worten setzte von Namtzen eine interessierte Miene auf und begann sofort, die vor ihm aufgebauten Dienstboten mit Fragen zu bombardieren. Grey lehnte sich unauffällig an ein Bücherregal und täuschte gebannte Aufmerksamkeit vor, während der nächste Schwindelanfall kam und ging.

Der Butler und die Kammerzofe hatten den Arzt gesehen, berichtete von Namtzen, als er sich zu Grey umwandte, um ihn seine Antworten zu übersetzen. Er war mehrmals dagewesen, um nach Frau Mayrhofer zu sehen.

Grey schluckte. Vielleicht hätte er das letzte Eiklar doch trinken sollen; es konnte nicht halb so ekelhaft schmecken wie das Kupferaroma in seinem Mund.

»Hat der Arzt seinen Namen genannt?«, fragte er.

Nein, das hatte er nicht. Er war nicht ganz wie ein Arzt gekleidet, sagte der Butler, war aber selbstsicher aufgetreten.

»Nicht wie ein Arzt gekleidet? Was meint er damit?«, fragte Grey und richtete sich auf.

Weitere Fragen, die der Butler mit hilflosem Achselzucken beantwortete. Er trug keinen schwarzen Anzug, so lautete der Kern seiner Antwort, sondern vielmehr einen groben, blauen Rock und eine Leinenhose. Der Butler zog die Stirn kraus und versuchte sich an weitere Einzelheiten zu erinnern.

»Er hat nicht nach Blut gerochen!«, berichtete von Namtzen. »Stattdessen roch er nach. Pflanzen? Kann das stimmen?«

Grey schloss kurz die Augen und sah getrocknete Krauter in Bündeln von dunklen Deckenbalken hängen und duftenden Goldstaub von ihren Blättern niederdriften, wenn jemand darüber auf den Fußboden trat.

»War der Arzt Ire?«, fragte er und öffnete die Augen.

Jetzt sah selbst von Namtzen etwas verwundert aus.

»Woher sollen sie den Unterschied zwischen einem Iren und einem Engländer kennen?«, sagte er. »Es ist doch dieselbe Sprache.«

Grey holte tief Luft, versuchte jedoch nicht zu erklären, was auf der Hand lag, sondern schlug einen anderen Kurs ein und beschrieb Finbar Scanion knapp. Einmal übersetzt, resultierte diese Beschreibung in eifrigem Kopfnicken seitens des Butlers und der Zofe - sie erkannten ihn.

»Ist das wichtig?«, fragte von Namtzen, der Greys Gesicht beobachtete.

»Sehr.« Grey ballte die Hände zu Fäusten und versuchte nachzudenken. »Es ist von größter Wichtigkeit, dass wir herausfinden, wo Frau Mayrhofer ist. Dieser >Arzt< ist sehr wahrscheinlich ein Spion, der im Auftrag der Mayrhofers arbeitet, und ich habe den starken Verdacht, dass die Dame sich im Besitz von etwas befindet, das Seine Majestät gern zurück

hätte.«

Er überblickte die Ränge der Bediensteten, die angefangen hatten, miteinander zu tuscheln, und den beiden Offizieren Blicke voller Ehrfurcht, Ärger oder Verwunderung zuwarfen.

»Seid Ihr überzeugt, dass sie nichts über den Aufenthaltsort der Dame wissen?«

Von Namtzen kniff die Augen zusammen und überlegte, doch bevor er antworten konnte, wurde sich Grey einer leisen Unruhe unter den Dienstboten bewusst, von denen jetzt mehrere die Blicke auf die Tür hinter ihm gerichtet hatten.

Er drehte sich um und sah Tom Byrd dort stehen, kreidebleich und zitternd vor Aufregung. In den Händen hatte er ein Paar abgetragener Schuhe.

»Mylord!«, sagte er und streckte sie ihm hin. »Seht! Es sind Jacks.«

Grey ergriff die Schuhe, die groß und sehr abgenutzt waren, das Leder an den Zehen abgestoßen und rissig. Und wirklich, die Initialen »JB« waren in die Sohlen eingebrannt. Ein Absatz war lose und hing nur noch mit einem einzigen Nagel am dazugehörigen Schuh fest. Leder, und hinten abgerundet, wie Tom gesagt hatte.

»Wer ist Jack?«, erkundigte sich von Namtzen und blickte mit offensichtlicher Verwunderung von Tom Byrd zu den Schuhen.

»Mr. Byrds Bruder«, erklärte Grey, der die Schuhe immer noch drehte und wendete. »Wir suchen schon seit einiger Zeit nach ihm. Könntet Ihr wohl die Dienstboten nach dem Aufenthaltsort des Mannes fragen, dem diese Schuhe gehören?«

Von Namtzen war in vielerlei Hinsicht ein bewundernswerter Partner, dachte Grey; er stellte selbst keine weiteren Fragen, sondern nickte nur und stürzte sich wieder ins Gewühl. Er wies auf die Schuhe und feuerte seine Fragen scharf, aber gelassen

ab, so als erwarte er ihre prompte Beantwortung.

Sein Auftreten war so Respekt einflößend, dass er diese auch bekam. Zunächst alarmiert und dann demoralisiert, standen die Hausangestellten nun ganz unter von Namtzens Bann und schienen ihn als vorübergehenden Herrn des Hauses und der Lage akzeptiert zu haben.

»Die Schuhe gehören einem jungen Mann, einem Engländer«, berichtete er Grey nach einem kurzen Gespräch mit Butler und Köchin. »Er wurde vor einer Woche von einem Freund Frau Mayrhofers ins Haus gebracht. Diese hat zu Burkhardt gesagt -«, er neigte den Kopf in Richtung des Butlers, der mit einer Verbeugung antwortete, »- der junge Mann solle wie ein Angestellter des Hauses behandelt werden und Verpflegung und Unterkunft bekommen. Den Grund seines Hierseins hat sie nicht erklärt, sondern nur gesagt, dass es vorübergehend sei.«

An diesem Punkt warf der Butler etwas ein; von Namtzen nickte und machte eine Handbewegung, um sich weitere Bemerkungen zu verbitten.

»Burkhardt sagt, dass der junge Mann keine besondere Aufgabe zugeteilt bekam, sondern den Mägden zur Hand gegangen ist. Er hat das Haus nicht verlassen und sich auch niemals weit von Frau Mayrhofers Räumen entfernt. Er hat darauf bestanden, in der Kammer am Ende des Flurs neben ihrer Suite zu schlafen. Burkhardt hat das Gefühl, dass der junge Mann Frau Mayrhofer beschützte - doch wovor, das weiß er nicht.«

Tom Byrd hatte mit sichtbarer Ungeduld zugehört und konnte sich nicht länger beherrschen.

»Zum Teufel mit dem, was er hier getan hat - wo ist Jack jetzt?«, wollte er wissen.

Grey hatte ebenfalls eine drängende Frage.

»Dieser Freund von Frau Mayrhofer - wissen die beiden, wie er heißt? Können sie ihn beschreiben?«

Von Namtzen, der sich strikt an die gesellschaftliche Ordnung hielt, beantwortete Greys Frage zuerst.

»Der Herr hat seinen Namen mit Mr. Josephs angegeben. Allerdings sagt der Butler, er glaubt nicht, dass es sein echter Name ist - der Herr hat gezögert, als man ihn nach seinem Namen fragte. Er war sehr.«, nun zögerte von Namtzen selbst, weil er nach einer Übersetzung suchte, »sehr. fein herausgeputzt.«

»Gut gekleidet, ja«, bestätigte Grey. Es kam ihm sehr warm im Zimmer vor, und der Schweiß rann ihm über den Rücken.

Von Namtzen nickte.

»Ein flaschengrüner Seidenrock mit vergoldeten Knöpfen. Eine gute Perücke.«

»Trevelyan«, sagte Grey mit einem Gefühl der Unvermeidbarkeit, das sich zu gleichen Teilen aus Erleichterung und Bestürzung zusammensetzte. Er holte tief Luft; sein Herz raste wieder. »Und Jack Byrd?«

Von Namtzen zuckte mit den Achseln.

»Fort. Sie nehmen an, dass er Frau Mayrhofer begleitet hat, denn seit gestern Abend hat ihn niemand mehr gesehen.«

»Warum hat er seine Schuhe hier gelassen? Fragt sie danach!« Tom Byrd war so aufgeregt, dass er vergaß, »Sir« anzufügen, doch angesichts der Bestürzung des Jungen sah von Namtzen großzügig darüber hinweg.

»Er hat diese Schuhe gegen ein Paar Arbeitsschuhe eingetauscht, die diesem Hausdiener gehören.« Der Hannoveraner wies auf einen hoch gewachsenen jungen Mann, der das Gespräch gebannt verfolgte und die Stirn kraus zog, während er sich bemühte, etwas zu verstehen. »Er hat nicht gesagt, warum er dies wünschte - vielleicht wegen des beschädigten Absatzes; das andere Paar war auch sehr abgenutzt, aber brauchbar.«

»Warum ist der junge Mann auf den Tausch eingegangen?«, fragte Grey und wies kopfnickend auf den Diener. Das Nicken war ein Fehler; das Schwindelgefühl kam plötzlich aus seinem Versteck gerollt und kreiste langsam an der Innenseite seines Schädels entlang wie ein Stehaufmännchen.

Eine Frage, eine Antwort. »Weil sie aus Leder sind und Metallschnallen haben«, berichtete von Namtzen. »Die Schuhe, gegen die er sie eingetauscht hat, waren einfache Clogs mit hölzernen Sohlen und Absätzen.«

An diesem Punkt gaben Greys Knie den Kampf auf, und er ließ sich auf einen Sessel sinken und bedeckte seine Augen mit den Handballen. Er atmete flach, und seine Gedanken umkreisten ihn langsam wie die Gestirne im Planetarium seines Vaters. Lichtblitze huschten von einem Gedanken zum nächsten, bis er Harry Quarry sagen hörte: »Seeleute tragen immer Holzabsätze; Leder ist rutschig an Deck.« Und dann: »Trevelyan? Vater Baronet, Bruder im Parlament, ein Vermögen in Zinn aus Cornwall, bis über die Ohren an der Ostindischen Handelsgesellschaft beteiligt.«

»Oh, Himmel«, sagte er und ließ die Hände sinken. »Sie sind auf einem Schiff.«

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