Es war längst dunkel, als Grey zum Haus seiner Mutter an der Jermyn Street zurückkehrte. Trotz seines Hungers hatte er sich absichtlich Zeit gelassen, da er weder seine Mutter noch Olivia zu sehen wünschte, bevor er seine Vorgehensweise in Bezug auf Joseph Trevelyan festgelegt hatte.
Allerdings nicht spät genug. Zu seiner Bestürzung sah er in sämtlichen Fenstern helles Licht, und am Säuleneingang stand ein Dienstbote in Livree, der offensichtlich die Aufgabe hatte, eingeladene Gäste vorzulassen und die Ungebetenen abzuweisen. Innen hatte sich eine Stimme zu einem Lied erhoben, begleitet von Flöten- und Cembaloklängen.
»O Gott. Heute ist doch nicht Mittwoch, oder, Hardy?«, sagte er flehend, als er die Treppe hinauf auf den Bediensteten zuging, der bei seinem Anblick lächelte und sich verbeugte, während er die Tür öffnete.
»Doch, Mylord. Schon den ganzen Tag, fürchte ich.«
Normalerweise genoss er die allwöchentlichen Musikabende seiner Mutter sehr. Doch momentan war ihm nicht danach, sich in Gesellschaft zu begeben. Arn besten fuhr er zurück und verbrachte die Nacht im »Beefsteak« - doch das bedeutete einen anstrengenden Weg durch ganz London, und er war kurz vor dem Verhungern.
»Ich schlüpfe nur in die Küche durch«, sagte er zu Hardy. »Sagt der Gräfin nicht, dass ich hier bin.«
»Bestimmt nicht, Mylord.«
Er stahl sich auf leisen Sohlen ins Foyer, wo er kurz stehen blieb, um das Terrain auszukundschaften. Dank des warmen Wetters standen die Flügeltüren zum großen Salon offen, damit die Insassen nicht erstickten. Die Musik - ein melancholisches, deutsches Duett - würde seine Schritte übertönen, doch während der ein oder zwei Sekunden, die er benötigte, um durch das Foyer in den Flur zur Küche zu spurten, würde er für jedermann sichtbar sein.
Er schluckte und das Wasser lief ihm im Mund zusammen, als er die Braten- und Fleischpuddingaromen roch, die aus dem hinteren Teil des Hauses kamen.
Ein anderer Bediensteter, Thomas, war in der halb geöffneten Tür der Bibliothek zu sehen, die dem Salon gegenüberlag. Er stand mit dem Rücken zur Tür und hatte einen deutschen Militärhelm in der Hand, der mit Gold verziert und mit einem enormen, gefärbten Federbusch versehen war. Offenbar fragte er sich, wo er diesen lächerlichen Gegenstand ablegen sollte.
Grey drückte sich an die Wand und rückte weiter ins Foyer vor. Er hatte einen Plan. Wenn er Thomas auf sich aufmerksam machen konnte, konnte er den Dienstboten bei der Durchquerung des Foyers als Schild benutzen, sich so auf der Treppe in Sicherheit bringen und es in den Schutz seines Zimmers schaffen, während Thomas ihm diskret ein Tablett aus der Küche holte.
Dieser Fluchtplan wurde jedoch dadurch vereitelt, dass seine Cousine Olivia oben auf der Treppe erschien, elegant in bernsteinfarbener Seide, das blond glänzende Haar mit einer Spitzenhaube bedeckt.
»John!«, rief sie und strahlte bei seinem Anblick. »Da bist du ja! Ich hatte so gehofft, dass du rechtzeitig kommen würdest.«
»Rechtzeitig wozu?«, fragte er mit einer bösen Vorahnung.
»Um zu singen natürlich.« Sie hüpfte die Treppe herunter und nahm ihn liebevoll beim Arm. »Wir haben einen deutschen Abend - und du singst so schön, Johnny!«
»Schmeicheleien werden dir nicht helfen«, sagte er und lächelte unwillkürlich. »Ich kann nicht singen; ich verhungere. Außerdem muss es doch fast vorbei sein, oder?« Er wies kopfnickend auf die Standuhr an der Treppe, die ein paar Minuten nach elf anzeigte. Das Nachtmahl wurde fast immer um halb zwölf serviert.
»Wenn du singst, warten sie bestimmt, um dich zu hören. Essen kannst du hinterher. Tante Bennie hat einen großartigen Imbiss aufgetischt - den größten Fleischpudding, den ich je gesehen habe, mit Wacholderbeeren, und Lammkoteletts mit Spinat und einen Coq au vin und diese absolut widerlichen Würste - für die Deutschen, weißt du.«
Bei dieser verlockenden Auflistung der Genüsse knurrte Greys Magen laut. Dennoch hätte er abgelehnt, hätte er nicht in dieser Sekunde durch die offene Flügeltür des Salons eine ältere Frau erspäht, die eine Straußenfeder in ihrer Perücke trug.
Die Menge brach in Applaus aus, doch als spürte sie den Ruck, mit dem er sie erkannte, wandte die Dame ihren Kopf zur Tür, und ihr Gesicht leuchtete vor Freude, als sie ihn entdeckte.
»Sie hat gehofft, dass du kommen würdest«, murmelte Olivia hinter ihm.
Es war nicht zu ändern. Mit ausgesprochen gemischten Gefühlen ergriff er Olivias Arm und führte sie die restlichen Stufen hinunter, während Hectors Mutter aus dem Salon eilte, um ihn zu begrüßen.
»Lady Mumford! Stets zu Diensten, Ma'am.« Er lächelte und beugte sich über ihre Hand, doch sie wollte von solcher Förmlichkeit nichts wissen.
»Unsinn, mein Lieber«, sagte sie mit jener warmen, kehligen Stimme, in der ein Echo der Stimme ihres toten Sohnes nachklang. »Kommt und gebt mir einen anständigen Kuss, so ist's ein guter Junge.«
Er richtete sich auf und küsste sie gehorsam auf die Wange.
Sie legte ihre Hände auf seine Wangen und küsste ihn geradewegs auf den Mund. Die Umarmung erinnerte ihn Gott sei Dank nicht an Hectors Kuss, aber sie war auch so enervierend genug.
»Ihr seht gut aus, John«, sagte Lady Mumford und trat einen Schritt zurück, um ihn mit Hectors blauen Augen prüfend anzusehen. »Aber müde. Viel zu tun, nehme ich an, nachdem sich das Regiment auf den Umzug vorbereitet?«
»Sehr viel«, pflichtete er ihr bei und fragte sich, ob wohl ganz London wusste, dass das 47ste einen neuen Posten beziehen würde. Doch natürlich hatte Lady Mumford einen Großteil ihres Lebens im Umfeld des Regiments verbracht; obwohl ihr Mann und ihr Sohn tot waren, hegte sie weiterhin ein mütterliches Interesse.
»Indien, habe ich gehört«, fuhr Lady Mumford fort und runzelte sacht die Stirn, während sie den Stoff seines Uniformärmels befühlte. »Ich hoffe doch, Ihr habt Euch schon neue Uniformen bestellt? Einen schönen, leichten Tropenstoff für Rock und Weste und Leinenhosen. Ihr wollt doch den Sommer unter der indischen Sonne nicht bis zum Hals in englische Wolle gepackt verbringen! Glaubt es mir, mein Lieber; ich habe Mumford begleitet, als er '35 dort stationiert war. Die Hitze, die Fliegen und das Essen haben uns beide fast umgebracht. Ich habe einen ganzen Sommer im Hemd verbracht und mich von unseren Dienern mit Wasser übergießen lassen; der arme, alte Wally hatte weniger Glück und musste in voller Montur vor sich hinschwitzen, hat die Flecken nie herausbekommen. Hat nur Whisky und Kokosmilch getrunken merkt Euch das, mein Lieber, wenn es so weit ist. Nahrhaft und anregend, wisst Ihr, und so viel besser für den Magen als Branntwein.«
Da er begriff, dass er nur der Stellvertreter für die wahren Empfänger ihrer einsamen Zuneigung war - die Schatten Hectors und seines Vaters -, ertrug er diesen Überfall mit
Geduld. Er wusste, dass es für Lady Mumford wichtig war zu reden; wie die Erfahrung ihn jedoch gelehrt hatte, war es eigentlich nicht wichtig, ob er zuhörte.
Er nahm ihre Hand voll Zuneigung zwischen die seinen, nickte und äußerte dann und wann kleine Laute des Interesses und der Zustimmung, während er mit kurzen Blicken über Lady Mumfords in Spitze gehüllte Schultern hinweg den Rest der Anwesenden betrachtete.
Zum Großteil die übliche Mischung aus Gesellschaft und Militär sowie ein paar Außenseiter aus der literarischen Welt Londons. Seine Mutter liebte Bücher und hatte einen Hang zum Sammeln von Schreiberlingen, die in bunten Scharen zu ihren Einladungen strömten und sich mit tintenfleckigen Manuskripten - und dem einen oder anderen gedruckten Buch -, die ihrer großzügigen Schutzherrschaft gewidmet waren, für die Reichhaltigkeit ihrer Tafel revanchierten.
Grey sah sich argwöhnisch nach der langen, ausgemergelten Gestalt Dr. Johnsons um, der das besondere Talent besaß, beim Essen das Wort zu ergreifen, um mit der Deklamation eines neuen, in der Entstehung befindlichen Epos' zu beginnen und dabei sämtliche Tiefen der Komposition mit weiten, Krümel versprühenden Gesten zu untermalen. Doch der Wortkundler war glücklicherweise abwesend. Das war gut, dachte Grey mit vorübergehend aufgefrischten Lebensgeistern. Er liebte Lady Mumford, und er liebte die Musik, doch ein Diskurs über die Etymologie der Vulgärsprache war nach dem Tag, den er hinter sich hatte, schlicht zu viel des Guten.
Er erspähte seine Mutter am anderen Ende des Zimmers, wo sie die Serviertische im Blick behielt und sich dabei mit einem hoch gewachsenen Herrn in militärischer Aufmachung unterhielt - seiner Uniform nach der hannoveranische Besitzer der gefiederten Scheußlichkeit, die Grey in der Bibliothek gesehen hatte.
Benedicta, verwitwete Gräfin Melton, war etliche Zentimeter kleiner als ihr jüngster Sohn, sodass sie etwas unglücklich den mittleren Westenknopf des Hannoveraners auf Augenhöhe hatte. Als sie einen Schritt zurücktrat, um ihren Nacken zu entspannen, erblickte sie John, und ihr Gesicht erhellte sich.
Sie ruckte mit dem Kopf, riss die Augen auf und presste die Lippen in einem Ausdruck mütterlicher Befehlsgewalt zusammen, der klarer als jedes Wort sagte: »Komm her und unterhalte dich mit dieser fürchterlichen Person, sodass ich mich um die anderen Gäste kümmern kann!«
Grey antwortete mit einer ähnlichen Grimasse und einem kaum sichtbaren Achselzucken, um anzuzeigen, dass ihn die Höflichkeit erst einmal an seinen derzeitigen Standpunkt fesselte.
Seine Mutter verdrehte entnervt die Augen und sah sich dann hastig nach einem anderen Opfer um. Er folgte der Richtung ihres drohenden Blickes und sah, dass er sich auf Olivia geheftet hatte, die den Zeusgleichen Befehl ihrer Tante richtig deutete, ihren Begleiter mit einem Wort stehen ließ und der Gräfin gehorsam zur Rettung eilte.
»Ihr solltet allerdings warten und Euch Eure Unterwäsche in Indien anfertigen lassen«, instruierte ihn Lady Mumford gerade. »Man bekommt Baumwolle in Bombay zu einem Bruchteil des Londoner Preises. Und der pure Luxus der Baumwolle direkt auf der Haut, mein Lieber, vor allem, wenn man sehr schwitzt. Ihr wollt Euch doch keinen bösen Ausschlag holen, oder?«
»Nein, natürlich nicht«, murmelte er, obwohl er kaum auf ihre Worte achtete. Denn zu diesem ungünstigen Zeitpunkt fiel sein Blick auf den verlassenen Begleiter seiner Cousine - einen Herrn in grünem Brokadestoff und gepuderter Perücke, der ihr mit nachdenklich gespitzten Lippen nachsah.
»Oh, ist das nicht Mr. Trevelyan?« Als sie sah, dass er seinen Blick starr über ihre Schulter hinweg geheftet hatte, hatte Lady
Mumford sich umgedreht, um den Grund für seine mangelnde Aufmerksamkeit festzustellen. »Warum in aller Welt steht er denn ganz allein da?«
Bevor Grey antworten konnte, hatte Lady Mumford ihn am Arm ergriffen und schleppte ihn entschlossen auf den Herrn zu.
Trevelyan war wie üblich spektakulär herausgeputzt; seine Knöpfe waren vergoldet mit je einem kleinen Smaragd in der Mitte, seine Manschetten mit Goldspitze gesäumt und sein Hemd mit einem zarten Hauch von Lavendel parfümiert. Grey trug nach wie vor seine älteste Uniform, die von seinen Exkursionen arg zerknittert und beschmutzt war, und er trug zwar auch sonst keine Perücke, doch hatte er jetzt nicht einmal die Gelegenheit gehabt, sein Haar zu ordnen, geschweige denn, es ordentlich zusammenzubinden oder zu pudern. Er konnte spüren, dass ihm eine lose Strähne hinter dem Ohr hing.
Grey, der sich eindeutig im Hintertreffen sah, verbeugte sich und murmelte oberflächliche Höflichkeiten, während Lady Mumford begann, Trevelyan einem detaillierten Verhör in Bezug auf seine bevorstehende Eheschließung zu unterziehen.
Angesichts von Trevelyans weltmännischem Gebaren fiel es Grey zunehmend schwerer zu glauben, dass er tatsächlich gesehen hatte, was er über dem Nachtgeschirr zu sehen geglaubt hatte. Trevelyan war freundlich und höflich und legte nicht das geringste Anzeichen innerer Unruhe an den Tag. Vielleicht hatte Quarry ja doch Recht gehabt; eine Täuschung des Lichts, Einbildung, ein harmloser Kratzer, vielleicht ein Muttermal.
»Ho, Major Grey! Wir sind uns, glaube ich, noch nicht begegnet? Ich bin von Namtzen.«
Als bereitete ihm Trevelyans Gegenwart noch nicht genug Kopfzerbrechen, fiel an diesem Punkt ein Schatten auf Grey. Als er aufblickte, stellte er fest, dass der hünenhafte Hannoveraner zu ihnen gestoßen war, die falkengleichen Gesichtszüge zu einer Grimasse der Herzlichkeit verzogen. Hinter von Namtzens
Rücken sah Olivia Grey mit hilflos verdrehten Augen an.
Da Grey sich nicht wohl fühlte, wenn ihn jemand so überragte, trat er höflich einen Schritt zurück, doch es nützte nichts. Der Deutsche näherte sich voller Enthusiasmus und umfing ihn in einer brüderlichen Umarmung.
»Wir sind Verbündete!«, proklamierte von Namtzen dramatisch, sodass es das ganze Zimmer hören konnte. »Wer will vor dem Löwen von England und dem hannoverschen Hengst bestehen?« Er ließ Grey los, und dieser stellte gereizt fest, dass seine Mutter irgendetwas an der Situation sehr witzig zu finden schien.
»Also! Major Grey, ich hatte heute Nachmittag die Ehre, mir in Begleitung Eures Obersten Quarry das Übungsfeuer Eurer Artillerie im Arsenal von Woolrich anzusehen!«
»Ist das so?«, murmelte Grey und stellte fest, dass einer seiner Westenknöpfe zu fehlen schien. Hatte er ihn während der Auseinandersetzung vor dem Gefängnis verloren, fragte er sich, oder durch die Hand dieses federgeschmückten Wahnsinnigen?
»Welch ein Donner! Ich war betäubt, ganz betäubt«, versicherte von Namtzen der versammelten Gesellschaft strahlend. »Ich habe auch schon die russischen Kanonen in St. Petersburg gehört - pah! Sie sind nichts im Vergleich, nur Fürze.«
Eine der Damen kicherte hinter ihrem Fächer. Dies schien von Namtzen zu ermuntern, und er begann mit einer Exegese des soldatischen Charakters und tat seine unverhüllte Meinung über die Tugenden des Militärs verschiedener Nationen kund. Zwar waren die Bemerkungen des Hauptmanns scheinbar an Grey gerichtet und ab und zu mit einem eingeworfenen »Meint Ihr nicht auch, Major?« gewürzt, doch seine Stimme war resonant genug, um jegliche Konversation im näheren Umfeld zu ersticken. In der Folge war er bald von einer Ansammlung aufmerksamer Zuhörer umringt. Grey konnte sich zu seiner
Erleichterung unauffällig zurückziehen.
Diese Erleichterung war jedoch nur von kurzer Dauer; als er ein Glas Wein von einem Tablett nahm, das man ihm hinhielt, stellte er fest, dass er erneut direkt neben Joseph Trevelyan stand und diesmal mit dem Mann allein war, da sich sowohl Lady Mumford als auch Olivia unglücklicherweise zur Essenstafel zurückgezogen hatten.
»Die Engländer?«, deklamierte von Namtzen gerade als Antwort auf eine Frage von Mrs. Haseltine. »Fragt einen Franzosen, was er von der englischen Armee hält, und er wird Euch sagen, dass der englische Soldat zwei linke Hände hat und ein ungehobelter Klotz ist.«
Grey traf Trevelyans Blick mit unerwartetem Mitgefühl, und die beiden Männer waren sich auf der Stelle einig, was ihre unausgesprochene Meinung von dem Hannoveraner anging.
»Man könnte auch einen englischen Soldaten fragen, was er von den Franzosen hält«, murmelte Trevelyan Grey ins Ohr. »Aber ich bezweifle, dass die Antwort das Richtige für einen Salon wäre.«
Grey lachte überrascht. Das war ein taktischer Fehler, weil es von Namtzens Aufmerksamkeit erneut auf ihn lenkte.
»Jedoch«, fügte von Namtzen hinzu und nickte Grey über die Köpfe der Menge hinweg wohlwollend zu, »was man auch immer sonst über sie sagen kann, die Engländer sind. ohne Ausnahme tollkühn.«
Grey hob höflich sein Glas in von Namtzens Richtung, ohne seine Mutter zu beachten, die hochrot angelaufen war, weil sie ihre Gefühle kaum noch unterdrücken konnte.
Er wandte sich halb von dem Schwaben und der Gräfin ab, womit er dann Trevelyan direkt gegenüberstand; unter den gegebenen Umständen eine peinliche Position. Da er einen Vorwand für ein Gespräch brauchte, dankte er Trevelyan dafür, dass er so großzügig gewesen war und ihm Byrd geschickt hatte.
»Byrd?«, sagte Trevelyan überrascht. »Jack Byrd? Ihr habt ihn gesehen?«
»Nein.« Jetzt war Grey verblüfft. »Ich habe Tom Byrd gemeint. Auch einer Eurer Hausdiener - wobei er sagt, dass er Jacks Bruder ist.«
»Tom Byrd?« Trevelyan runzelte erstaunt die Stirn. »Natürlich ist er Jacks Bruder - aber er ist kein Hausdiener. Außerdem. habe ich ihn nirgendwo hingeschickt. Wollt Ihr mir etwa sagen, dass er sich Euch aufgedrängt und behauptet hat, ich hätte ihn geschickt?«
»Er hat gesagt, Oberst Quarry habe Euch eine Nachricht geschickt und Euch von den. jüngsten Ereignissen in Kenntnis zu setzen«, sagte Grey, um Zeit zu schinden, und erwiderte das Kopfnicken eines vorübergehenden Bekannten. »Und daraufhin hättet Ihr ihn zu mir geschickt, um mir bei meinen Ermittlungen behilflich zu sein.«
Trevelyan sagte etwas, wovon Grey annahm, dass es ein Fluch im Dialekt seiner Heimat Cornwall war, und seine hageren Wangen wurden unter dem Gesichtspuder rot. Er sah sich um, dann zog er Grey zur Seite und senkte seine Stimme.
»Harry Quarry hat mir eine Mitteilung geschickt - aber ich habe nichts zu Byrd gesagt. Tom Byrd ist der Junge, der bei uns die Schuhe putzt, zum Kuckuck! Ihn würde ich wohl kaum ins Vertrauen ziehen.«
»Ich verstehe.« Grey rieb sich mit dem Fingerknöchel über die Oberlippe und unterdrückte sein unwillkürliches Lächeln bei der Erinnerung daran, wie sich Tom Byrd zu seiner vollen Größe aufgerichtet hatte, als er behauptete, ein Hausdiener zu sein. »Ich schätze, dann hat er irgendwie selbst davon Kenntnis bekommen, dass ich mit. gewissen Ermittlungen betraut bin. Zweifellos sorgt er sich um das Wohlergehen seines Bruders«, fügte er hinzu, als er an das bleiche Gesicht und die Bedrückung des jungen Mannes dachte, als sie das Gefängnis von Clapham
verlassen hatten.
»Das tut er ohne Zweifel«, sagte Trevelyan, für den dies eindeutig kein mildernder Umstand war. »Aber das ist wohl kaum eine Entschuldigung. Ein solches Benehmen ist einfach unglaublich. Selbst Kenntnis bekommen - Gott, er ist in mein Privatbüro eingedrungen und hat meine Korrespondenz gelesen - welch infernalische Dreistigkeit! Ich sollte ihn festnehmen lassen. Und dann ohne Erlaubnis mein Haus zu verlassen und hierher zu kommen, um Euch etwas vorzuspielen. was für eine Zumutung! Wo ist er? Bringt ihn sofort zu mir! Er wird ausgepeitscht und ohne Zeugnis entlassen!«
Trevelyan wurde mit jeder Sekunde bleicher. Seine Wut war sicherlich gerechtfertigt, und doch stellte Grey fest, dass es ihm seltsam widerstrebte, Tom Byrd der Justiz zu übergeben. Der Junge musste sich darüber im Klaren gewesen sein, dass er durch seine Handlungsweise seine Stellung - und sehr wahrscheinlich auch seine Haut opferte, aber er hatte nicht gezögert zu handeln.
»Einen Moment bitte, Sir.« Er verbeugte sich vor Trevelyan und ging zu Thomas hinüber, der mit einem Getränketablett durch die Menge ging - und das keine Sekunde zu früh.
»Wein, Mylord?« Thomas senkte sein Tablett.
»Ja, wenn Ihr nichts Stärkeres habt.« Grey nahm sich irgendein Glas und leerte es auf eine Weise, die krasse Respektlosigkeit vor dem edlen Tropfen an den Tag legte, aber für seinen Geisteszustand unabdingbar war, und nahm sich dann ein weiteres. »Ist Tom Byrd im Haus?«
»Ja, Mylord. Ich habe ihn gerade in der Küche gesehen.«
»Ah. Nun, würdet Ihr bitte dafür sorgen, dass er dort bleibt?«
»Ja, Mylord.«
Nachdem er Thomas mit seinem Tablett devongeschickt hatte, kehrte Grey langsam zu Trevelyan zurück, in jeder Hand ein
Glas Wein.
»Ich bedaure«, sagte er und bot Trevelyan eines der beiden Gläser an. »Der Junge scheint verschwunden zu sein. Hatte wohl Angst, bei seiner Hochstapelei erwischt zu werden.«
Trevelyan war nach wie vor rot vor Wut, wenn auch seine guten Manieren inzwischen die Oberhand über sein Temperament gewonnen hatten.
»Ich muss mich entschuldigen«, sagte er steif. »Ich bedaure diese abscheuliche Situation zutiefst. Dass einer meiner Bediensteten Euch einen solchen Streich gespielt haben soll -ich finde einfach keine Entschuldigung für eine solch unverzeihliche Aufdringlichkeit.«
»Nun, er hat mir ja keinerlei Schwierigkeiten verursacht«, sagte Grey nachsichtig, »und ist mir sogar in gewisser Weise behilflich gewesen.« Er strich sich unauffällig mit dem Daumen über das Kinn und stellte fest, dass es immer noch glatt war.
»Das spielt keine Rolle. Er ist ab sofort aus meinen Diensten entlassen«, sagte Trevelyan, und sein Mund verhärtete sich. »Und ich bitte Euch, meine Entschuldigung für diese maßlose Aufdringlichkeit anzunehmen.«
Grey war nicht überrascht über Trevelyans Reaktion. Er war überrascht über das, was er über Tom Byrds Verhalten erfahren hatte; der Junge musste seinen Bruder sehr lieben - und unter diesen Umständen war Grey geneigt, Mitgefühl zu empfinden. Außerdem beeindruckte ihn, mit wie viel Fantasie sich der Junge seinen Plan ausgedacht hatte - ganz zu schweigen davon, wie unerschrocken er ihn ausgeführt hatte.
Er tat Trevelyans Entschuldigung mit einer Geste ab und versuchte, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken.
»Hat Euch die Musik heute Abend gefallen?«, fragte er.
»Musik?« Trevelyans Miene war verständnislos, dann fand er seine Manieren wieder. »Ja, natürlich. Eure Mutter hat einen
exquisiten Geschmack - richtet ihr das doch bitte von mir aus.«
»Natürlich. Ehrlich gesagt bin ich etwas erstaunt, dass meine Mutter die Zeit für solche gesellschaftlichen Zerstreuungen findet«, sagte Grey freundlich und winkte dem Harfenisten zu, der wieder zu spielen begonnen hatte und jetzt die Konversation beim Abendessen untermalte. »Die Damen in meiner Verwandtschaft sind in letzter Zeit so besessen von den Hochzeitsvorbereitungen, dass ich gedacht hatte, sie würden jede andere Art von Beschäftigung von sich weisen.«
»Oh?« Trevelyan runzelte die Stirn, in Gedanken sichtlich noch mit den Byrds beschäftigt. Dann klärte sich seine Miene auf, und er lächelte, was sein Gesicht völlig verwandelt aussehen ließ. »Oh, ja, so ist es wohl. Frauen lieben Hochzeiten sehr.«
»Das Haus ist vom Dachboden bis zum Keller mit Brautjungfern, feinen Spitzenballen und Näherinnen angefüllt«, fuhr Grey sorglos fort und suchte Trevelyans Gesicht mit scharfem Blick nach irgendwelchen Anzeichen von Schuld oder Zurückhaltung ab. »Ich kann mich nirgendwo hinsetzen, ohne befürchten zu müssen, dass ich von einer verirrten Nadel aufgespießt werde. Aber bei Euch sieht es doch wahrscheinlich nicht anders aus, oder?«
Trevelyan lachte, und Grey konnte sehen, dass er trotz seiner gewöhnlichen Gesichtszüge einen gewissen Charme besaß.
»So ist es«, gab er zu. »Mit Ausnahme der Brautjungfern. Wenigstens das bleibt mir erspart. Aber es wird ja bald alles vorüber sein.« Während er das sagte, blickte er zu Olivia hinüber, und ein Hauch von Sehnsucht in seinem Gesichtsausdruck überraschte Grey genauso sehr, wie er ihn beruhigte.
Das Gespräch endete mit einem Austausch von Höflichkeiten, und Trevelyan verabschiedete sich freundschaftlich, um dann das Zimmer zu durchqueren und vor seinem Aufbruch noch mit
Olivia zu sprechen. Grey sah ihm nach und bewunderte widerstrebend die Eleganz seiner Manieren, während er sich fragte, ob ein Mann, der wusste, dass er die Franzosenkrankheit hatte, wohl mit solcher Unbekümmertheit über seine bevorstehende Hochzeit plaudern konnte. Doch andererseits hatte Quarry das Haus an der Meacham Street gefunden - ein Fund, der in krassem Widerspruch zu Trevelyans frommem Versprechen am Sterbebett seiner Mutter stand.
»Gott sei Dank, endlich ist er fort.« Seine eigene Mutter war näher gekommen, ohne dass er es bemerkt hatte, und stand jetzt neben ihm und befächerte sich voller Genugtuung, während sie zusah, wie Hauptmann von Namtzens Federn aus der Bibliothek zur Eingangstür entschwebten.
»Entsetzlicher Hunne«, bemerkte sie, während sie sich lächelnd vor Mr. und Mrs. Hartsell verneigte, die ebenfalls aufbrachen. »Hast du gerochen, was für eine grässliche Pomade er benutzt hat? Was war das nur, ein widerliches Parfüm wie Patchouli? Zibet vielleicht?« Sie hob ihren blauen Samtärmel an ihre Nase und schnüffelte argwöhnisch daran. »Der Mann riecht, als sei er frisch aus dem Bordell gekommen, das schwöre ich. Und er hat mich dauernd berührt, der Schweinehund.«
»Was weißt du denn von Bordellen?«, wollte Grey wissen. Dann sah er den Schabernack in den Augen der Gräfin aufblitzen, und ihre Lippen kräuselten sich sacht. Nichts, was seine Mutter lieber tat, als rhetorische Fragen zu beantworten.
»Nein, sag's mir nicht«, sagte er hastig. »Ich will es gar nicht wissen.« Die Gräfin zog einen hübschen Schmollmund, dann schloss sie klatschend ihren Fächer und presste ihn als Zeichen der Verschwiegenheit an ihre Lippen.
»Hast du etwas gegessen, Johnny?«, fragte sie und öffnete den Fächer wieder.
»Nein«, sagte er, und plötzlich fiel ihm wieder ein, dass er dem Verhungern nahe war. »Ich hatte noch keine Gelegenheit
dazu.«
»Nun denn.« Die Gräfin winkte einen Bediensteten herbei, wählte ein Pastetchen von seinem Tablett und reichte es ihrem Sohn. »Ja, ich habe gesehen, wie du dich mit Lady Mumford unterhalten hast. Lieb von dir, das gute alte Ding hängt sehr an dir.«
Das gute alte Ding. Lady Mumford war höchstens ein Jahr älter als die Gräfin. Grey murmelte eine Antwort, bei der ihm jedoch die Pastete im Weg war. Steak mit Pilzen in köstlichem Blätterteig.
»Aber worüber hast du dich denn so angeregt mit Joseph Trevelyan unterhalten?«, fragte die Gräfin und hob ihren Fächer als Abschiedsgeste von den Damen Humber. Sie wandte sich wieder ihrem Sohn zu und zog eine Augenbraue hoch, dann lachte sie. »Oh, du bist ja ganz rot geworden, Johnny - man könnte glauben, Mr. Trevelyan hätte dir einen zweideutigen Antrag gemacht!«
»Haha«, sagte Grey mit belegter Stimme und schob sich den Rest seiner Pastete in den Mund.