Es kostete ihn nicht geringe Mühe, von Namtzen und Tom Byrd davon zu überzeugen, dass er in der Lage war, sich ohne Hilfe zu bewegen und nicht der Länge nach auf die Straße fallen würde - umso mehr, als er sich selbst nicht ganz sicher war. Schließlich kehrte Tom Byrd jedoch widerstrebend zur Jermyn Street zurück, um eine Tasche zu packen. Und von Namtzen ließ sich - noch widerstrebender - davon überzeugen, dass seine Pflicht darin bestand, sich mit dem Inhalt von Mayrhofers Schreibtisch zu befassen.
»Niemand sonst kann die Papiere lesen, die sich dort befinden«, erklärte Grey. »Der Mann ist tot und war sehr wahrscheinlich ein Spion. Ich werde sofort jemanden vom Regiment schicken, um hier das Kommando zu übernehmen -doch wenn Ihr irgendetwas Dringendes in diesen Papieren findet.«
Von Namtzen kniff die Lippen zusammen, nickte aber.
»Ihr passt auf Euch auf?«, fragte er ernst. Er legte Grey seine große, warme Hand in den Nacken und beugte sich nieder, um ihm suchend ins Gesicht zu sehen. Der Blick des Hannoveraners war voller Unruhe, und kleine Sorgenfalten umgaben seine grauen Augen.
»Das werde ich«, sagte Grey und gab sich alle Mühe, beruhigend zu lächeln.
Drei Möglichkeiten, dachte er und holte tief Luft, um das Schwindelgefühl zu bezwingen, als er eine Droschke bestieg. Das Büro der Ostindischen Handelsgesellschaft in Westminster.
Trevelyans Geschäftsführer, ein Mann namens Royce, der sein Büro in Blackfriars hatte. Oder Neil, das Flittchen.
Die Sonne war fast untergegangen, und der abendliche Nebel dämpfte ihr Leuchten wie der Rauch, der eine frisch abgeschossene Kanonenkugel umwabert. Das vereinfachte ihm die Wahl; er konnte nicht darauf hoffen, Westminster zu erreichen, bevor alle Feierabend gemacht hatten. Doch er wusste, wo Stapleton wohnte; nach dem beunruhigenden Gespräch mit Bowles hatte er gesteigerten Wert darauf gelegt, es herauszufinden.
»Ihr wollt was?« Stapleton hatte geschlafen, als Grey an seine Tür hämmerte; er war barfuß und im Hemd. Er rieb sich das eine verquollene Auge, während er Grey mit dem anderen ungläubig betrachtete.
»Die Namen und Abfahrtsdaten aller Schiffe unter Lizenz der Ostindischen Handelsgesellschaft, die England in diesem Monat verlassen. Sofort.«
Jetzt hatte Stapleton beide Augen offen. Er blinzelte langsam und kratzte sich am Ohr.
»Woher soll ich denn so etwas wissen?«
»Ich gehe nicht davon aus, dass Ihr es wisst. Aber irgendjemand, der für Bowles arbeitet, wird es schon wissen, und ich denke doch, dass Ihr herausfinden könnt, wo sich die Information befindet, ohne dass unnötige Zeit verloren geht. Die Sache ist dringend.«
»Ach, ist sie das?« Neil verzog den Mund und schob ein wenig die Oberlippe vor. Sein Gewicht verlagerte sich kaum merklich, sodass er plötzlich dichter bei Grey stand. »Wie. dringend?«
»Viel zu dringend für Spielchen, Mr. Stapleton. Zieht Euch bitte an; meine Kutsche wartet.«
Neil antwortete nicht, sondern lächelte und hob eine Hand. Er berührte Greys Gesicht, umfasste seine Wange und fuhr ihm mit dem Daumen langsam unter dem Mund entlang. Er war sehr warm und roch nach seinem Bett.
»So eilig ist es doch bestimmt nicht, oder, Mary?«
Grey ergriff die Hand und entfernte sie aus seinem Gesicht. Dabei drückte er so fest zu, dass die Fingerknöchel in seiner Umklammerung knackten.
»Ihr werdet sofort mit mir kommen«, sagte er sehr deutlich, »oder ich werde Mr. Bowles offiziell von den Umständen in Kenntnis setzen, unter denen wir uns das erste Mal begegnet sind. Versteht Ihr mich, Sir?«
Er starrte Stapleton Auge in Auge an. Der Mann war jetzt wach, die blauen Augen brennend und voll Zorn. Er befreite sich mit einem Ruck aus Greys Griff und trat einen halben Schritt zurückt, zitternd vor Rage.
»Das würdet Ihr nicht.«
»Ihr könnt es gern darauf ankommen lassen.«
Stapletons Zunge huschte über seine Oberlippe - nicht als Flirtversuch, sondern aus Verzweiflung. Das Licht erlosch jetzt, doch es war noch nicht so dunkel, dass Grey nicht Stapletons Gesicht deutlich sehen und die abgrundtiefe Angst erkennen konnte, die unter der Wut lag.
Stapleton sah sich um, um sicher zu gehen, dass niemand sie hören konnte. Er ergriff Grey am Ärmel und zog ihn in den Schutz des Eingangs. Jetzt, da er so dicht bei ihm stand, war es nicht zu übersehen, dass der Mann nichts unter seinem Hemd trug; Grey konnte seine glatte Brust unter dem Halsausschnitt sehen, deren goldene Haut in den verlockenden Schatten weiter unten abfiel.
»Wisst Ihr, was mit mir geschehen kann, solltet Ihr so etwas tun?«, zischte er.
Grey wusste es. Verlust der Anstellung und gesellschaftlicher Ruin waren das Mindeste; Einkerkerung, öffentliche Auspeitschung und der Pranger waren wahrscheinlich - und falls sich herausstellte, dass Stapletons irreguläre Affären zu einer Verletzung seiner Schweigepflichten geführt hatten - und genau dazu forderte Grey ihn gerade auf -, so konnte er von Glück reden, wenn er nicht wegen Hochverrats gehängt wurde.
»Ich weiß, was mit Euch geschehen wird, wenn Ihr nicht tut, was ich Euch sage«, sagte Grey kalt. Er entzog ihm seinen Ärmel und trat zurück. »Beeilt Euch; ich habe keine Zeit zu verlieren.«
Es dauerte nicht mehr als eine Stunde, bis sie ein heruntergekommenes Sträßchen erreichten und vor einem schäbigen Gebäude hielten, das eine Druckerei beherbergte, deren Fensterläden für die Nacht geschlossen waren. Ohne Grey eines Blickes zu würdigen, sprang Stapleton aus der Kutsche und hämmerte an die Tür. Innerhalb von Sekunden tauchte Licht zwischen den Ritzen der Fensterläden auf, und die Tür öffnete sich. Stapleton murmelte der alten Frau, die im Eingang stand, etwas zu und schlüpfte hinein.
Grey saß tief im Schatten, einen Schlapphut ins Gesicht gezogen, um es zu verbergen. Die Mietdroschke war zwar ein klappriges Gefährt, doch in dieser Gegend fiel sie dennoch auf. Er konnte nur hoffen, dass Stapleton seinen Auftrag schnell genug erledigte, um ihnen Zeit zum Rückzug zu lassen, bevor ein neugieriger Straßenräuber beschloss, sein Glück zu versuchen.
Ein Jauchewagen rumpelte stinkend vorbei, und er schloss das Fenster.
Er war erleichtert, dass Stapleton ohne weitere Gegenwehr aufgegeben hatte; der Mann war mit Sicherheit schlau genug, um zu begreifen, dass das Schwert, das Grey ihm über den Kopf hielt, zweischneidig war. Zwar hatte Grey behauptet, nur zu
Ermittlungszwecken im »Lavender House« gewesen zu sein, und der Einzige, der das Gegenteil beweisen konnte, war der junge Mann mit den dunklen Haaren - doch das wusste Stapleton ja nicht.
Dennoch, wenn es zu widersprüchlichen Anschuldigungen zwischen ihm und Stapleton kam, gab es keinen Zweifel, wem man glauben würde, und das begriff Stapleton offensichtlich.
Was er ebenso offensichtlich nicht begriff, war, dass Richard Caswell eine der Fliegen in Mr. Bowles' Netz war. Grey hätte sein halbes Jahreseinkommen verwettet, dass diese fette kleine Spinne mit den vagen, blauen Augen den Namen jedes Mannes kannte, der je durch die Tür des »Lavender House« geschritten war - und wusste, was er dort getan hatte. Bei diesem Gedanken bildete sich ein eisiger Fleck in seinem Nacken, und er zog erschauernd seinen Umhang fester um sich, obwohl es eine milde Nacht war.
Ein plötzliches Klatschen neben ihm am Fenster ließ ihn auffahren und seine Pistole ziehen. Doch es war niemand da; nur der schmierige Abdruck einer Hand, deren mit Exkrementen verklebte Finger lange, dunkle Streifen auf der Scheibe gezogen hatten. Ein widerlicher Fäkalienklumpen rutschte zäh am Fenster hinunter, und das Feixen der Jauchefahrer vermischte sich mit dem Brüllen des Kutschers.
Die Kutsche schwankte auf ihren Federn, als der Fahrer aufstand, und dann erscholl das Klatschen einer Peitsche, gefolgt vom überraschten Aufjaulen eines Mannes auf dem Boden. So vermied man es, Aufmerksamkeit zu erregen, dachte Grey grimmig und verkroch sich wieder auf seinem Sitz, als nun eine Salve von Fäkalien gegen die Seite der Kutsche rumpelte und die Jauchefahrer johlten und kicherten wie Magotaffen, während der Kutscher sich fluchend an die Zügel klammerte, um sein Gespann am Durchgehen zu hindern.
Ein Klappern an der Tür der Kutsche ließ ihn erneut mit der
Hand zur Pistole fahren, doch es war nur Stapleton, errötet und atemlos. Der junge Mann ließ sich gegenüber von Grey auf die Bank fallen und warf ihm ein Stück bekritzeltes Papier in den Schoß.
»Nur zwei«, sagte er knapp. »Die Antioch segelt in drei Wochen von London ab; die Nampara übermorgen von Southampton. War es das, was Ihr wolltet?«
Sobald der Kutscher hörte, dass Stapleton zurück war, nahm er die Zügel auf und rief seinen Pferden etwas zu. Diese konnten es nicht abwarten, dem Durcheinander zu entkommen, und stürzten vorwärts. Die Kutsche fuhr mit einem Satz an, und Grey und Stapleton landeten zusammen auf dem Boden.
Grey befreite sich hastig, das Papier fest umklammert, und kletterte auf seinen Sitz zurück. Neils Augen schimmerten vom Boden der Kutsche zu ihm auf, wo er auf Händen und Knien hin und her schwankte.
»Ich habe gesagt - war es das, was Ihr wolltet?« Seine Stimme war kaum laut genug, um das Knarren der Kutschenräder zu übertönen, doch Grey hörte ihn sehr gut.
»So ist es«, sagte er. »Ich danke Euch.« Er hätte eine Hand ausstrecken können, um Stapleton aufzuhelfen, tat es aber nicht. Der junge Mann erhob sich aus eigener Kraft, schwankte in der Dunkelheit und warf sich wieder auf seinen Sitz.
Sie sagten nichts auf dem Weg in die Londoner Innenstadt. Stapleton lehnte sich zurück, die Arme vor der Brust verschränkt, den Kopf abgewandt, um aus dem Fenster zu starren. Es war Vollmond, und gedämpftes Licht fiel auf seine Adlernase und den sinnlichen, verwöhnten Mund darunter. Er war wirklich eine Schönheit, dachte Grey - und das wusste er auch.
Ob er versuchen sollte, Stapleton zu warnen?, fragte er sich. Er war nicht ohne Schuldgefühle über die Art, wie er den Mann benutzt hatte - und doch, ihn zu warnen, dass Bowles zweifellos über seine wahre Natur im Bilde war, würde nichts nutzen. Die Spinne würde dieses Wissen für sich behalten und es hüten, bis und falls sie beschloss, es zu benutzen. Und wenn er das tat -ganz gleich, zu welchem Zweck -, konnte keine Macht der Erde Stapleton aus dem Netz befreien.
Die Kutsche kam vor Stapletons Quartier zum Halten, und der junge Mann stieg wortlos aus, warf Grey jedoch noch einen einzigen, wuterfüllten Blick zu, bevor sich die Kutschentür zwischen ihnen schloss.
Grey klopfte gegen die Decke, und die Fahrerklappe glitt zur Seite.
»Zur Jermyn Street«, befahl er und blieb den Rest der Rückfahrt still sitzen. Den Gestank der Fäkalien um ihn herum bemerkte er kaum.