Epilog


London

18. August 1757


Der erste Böllerschuss erschütterte die Wände, sodass die kristallenen Weingläser klingelten und ein Spiegel aus der Zeit Ludwigs XIV. zu Boden stürzte.

»Das macht nichts«, sagte die verwitwete Gräfin Melton und klopfte einem weißgesichtigen Hausdiener, der direkt daneben gestanden hatte, tröstend auf den Arm. »Er war ein hässliches Ding; ich habe schon immer wie ein Nagetier darin ausgesehen. Holt einen Besen, bevor jemand in die Scherben tritt.«

Sie trat durch die Glastür auf die Terrasse hinaus, fächelte sich Luft zu und machte ein glückliches Gesicht.

»Was für ein Abend!«, sagte sie zu ihrem jüngsten Sohn. »Meinst du, sie haben inzwischen die richtige Flugbahn heraus?«

»Ich würde mich nicht darauf verlassen«, sagte Grey und blickte argwöhnisch flussabwärts zum Tower Hill, wo der für das Feuerwerk verantwortliche Offizier wahrscheinlich gerade seine Berechnungen überprüfte und seine Untergebenen anherrschte. Das erste Probegeschoss war direkt über ihren Köpfen vorbeigepfiffen, nicht mehr als fünfzig Meter über der am Fluss gelegenen Stadtvilla der Gräfin. Mehrere Bedienstete standen für den Fall des Falles mit feuchten Besen bewaffnet auf der Terrasse und suchten den Himmel ab.

»Nun, sie sollten das öfter machen«, sagte die Gräfin tadelnd, den Blick auf den Tower Hill gerichtet. »Damit sie nicht aus der Übung kommen.«

Es war ein klarer, windstiller Abend Mitte August. Zwar hing die heiße, feuchte Luft wie eine erdrückende Decke über London, doch so dicht am Wasser wehte etwas, das fast eine Brise war.

Ein wenig flussaufwärts konnte er die Vauxhall Bridge sehen, die so voller Zuschauer war, dass die Brücke selbst ein lebendiges Wesen zu sein schien, das sich über dem sanft schimmernden, dunklen Fluss wand und krümmte. Dann und wann wurde eine angetrunkene Person von der Brücke geschubst und landete unter dem begeisterten Gejohle ihrer Kameraden platschend wie eine Kanonenkugel im Wasser.

Noch war die Stadtvilla nicht ganz so überfüllt, aber nur gemach, dachte Grey, während er seiner Mutter hinein folgte, um weitere Neuankömmlinge zu begrüßen. Die Musiker am anderen Ende des Zimmers waren gerade mit dem Aufbauen fertig; sie würden auch die Falttür zum Nebenzimmer öffnen müssen, um Platz zum Tanzen zu schaffen - obwohl die Gäste erst nach dem Feuerwerk damit beginnen würden.

Die Temperaturen hielten die Londoner nicht davon ab, die Nachricht von Clives Sieg bei Plassey zu feiern.

Seit Tagen flossen die Wirtshäuser vor Kundschaft über, und die Leute riefen sich auf der Straße herzliche Begrüßungen zu, in denen sie die Vorfahren, das Aussehen und das Benehmen des Nawabs von Bengalen zur Hölle wünschten.

»Missgeborener schwarzer Schurke!«, bellte der Herzog von Cirencester beim Eintreten und tat damit die Meinung seiner Mitbürger von Spitalfields bis Stepney kund. »Schiebt ihm eine Rakete in den Hintern und seht zu, wie weit er fliegt, bevor er explodiert, was? Benedicta, meine Liebste, kommt und gebt mir einen Kuss!«

Die Gräfin, die vorausschauenderweise durch mehrere Gäste vom Herzog getrennt war, blies ihm einen Handkuss zu, bevor sie an Mr. Pitts Arm verschwand, und Grey lenkte das überschäumende Temperament des Herzogs taktvoll zur Witwe des Vicomte Bonham um, die wunderbar in der Lage war, mit ihm fertig zu werden. Hieß der Herzog mit Vornamen Jacob?, fragte er sich dumpf. Ja, er glaubte schon.

Von den weiteren Probeschüssen vom Tower Hill wurde kaum Notiz genommen, da der Geräuschpegel aus Stimmen und Musik mit jeder neu geöffneten Flasche Wein, mit jedem ausgeschenkten Becher Rumpunsch zunahm. Selbst Jack Byrd, der seit ihrer Rückkehr so schweigsam gewesen war, dass es an Stummheit grenzte, schien aufgeheitert zu sein; Grey sah, wie er einem jungen Dienstmädchen zulächelte, das mit einem Berg von Umhängen vorbeikam.

Tom Byrd, der aus gegebenem Anlass mit einer ordentlichen Livree ausgestattet worden war, stand neben der Bambuswand, hinter der die Nachttöpfe verborgen waren. Er hatte den Auftrag, die Gäste zu beobachten und Diebstähle zu verhindern.

»Augen auf, vor allem, wenn das Feuerwerk richtig beginnt«, murmelte Grey ihm im Vorübergehen zu. »Wechselt Euch mit Eurem Bruder ab, damit Ihr auf die Terrasse gehen und auch ein wenig zusehen könnt - aber achtet darauf, dass jemand den guten Lord Gloucester ständig im Auge behält. Als er das letzte Mal hier war, hat er sich mit einer vergoldeten Tabaksdose davongemacht.«

»Ja, Mylord«, sagte Tom und nickte. »Seht, Mylord der Hunne ist da!«

Und tatsächlich, Stephan von Namtzen, Landgraf von Erdberg, war in all seiner gefiederten Glorie eingetroffen und strahlte, als sei Clives Sieg sein persönlicher Triumph gewesen. Nachdem er Jack Byrd, der dabei ein sehr verblüfftes Gesicht zog, seinen Helm gereicht hatte, erspähte er Grey, und ein enormes Lächeln breitete sich über sein Gesicht.

Die dazwischen stehende Menge behinderte sein Vorankommen, wofür Grey vorerst dankbar war. Eigentlich war er mehr als erfreut, den Hannoveraner zu sehen, doch die

Vorstellung, in aller Öffentlichkeit begeistert umarmt und auf beide Wangen geküsst zu werden, wie es von Namtzens Gewohnheit war, wenn er Freunde begrüßte.

Dann traf der Bischof von York ein, gefolgt von sechs kleinen, schwarzen Jungen in goldenem Tuch. Ein lautes Buummm! flussabwärts, und das Geschrei der Menge auf der Vauxhall Bridge verkündeten den Beginn des eigentlichen Feuerwerks, und die Musiker begannen mit Handels »Wassermusik«.

Zwei Drittel der Gäste eilten auf die Terrasse hinaus, um besser sehen zu können, sodass die ernsthaften Trinker und jene, die sich unterhalten wollten, ein wenig Platz zum Atmen hatten.

Grey nutzte den plötzlichen Exodus, um sich hinter der Bambuswand Erleichterung zu verschaffen; zwei Flaschen Champagner forderten ihren Tribut. Es war vielleicht nicht der geeignete Ort für ein Gebet, doch er sandte trotzdem ein kurzes Wort der Dankbarkeit gen Himmel. Die öffentliche Hysterie über den Sieg von Plassey hatte sämtliche anderen Neuigkeiten in der Versenkung verschwinden lassen; keine Gazette und kein Gossenschreiber hatte auch nur ein Wort über den Mord an Reinhardt Mayrhofer oder Joseph Trevelyans Verschwinden verloren - von anzüglichen Spekulationen bezüglich Trevelyans ehemaliger Verlobter ganz zu schweigen.

Er hatte erfahren, dass in Finanzkreisen diskret verbreitet wurde, dass Trevelyan nach Indien unterwegs war, um dort im Kielwasser des Sieges neue Importmöglichkeiten zu erkunden.

Eine Sekunde lang stand ihm Joseph Trevelyan vor Augen, so wie er in der großen Kabine der Nampara am Bett seiner Geliebten gestanden hatte, kurz bevor Grey das Schiff verließ.

»Wenn.?«, hatte Grey mit einem kleinen Nicken in Richtung des Bettes gefragt.

»Man wird hören, dass ich auf See verschollen bin - von einer Sturmwoge über Bord gespült. So etwas kommt vor.« Er blickte zum Bett, in dem Maria Mayrhofer lag, reglos, schön und gelb wie eine antike Elfenbeinschnitzerei.

»So ist es wohl«, sagte Grey leise und dachte einmal mehr an Jamie Fraser.

Trevelyan trat an das Bett und blickte hinab. Er ergriff die Hand der Frau und streichelte sie, und Grey sah, wie ihre Finger ganz sacht zudrückten; das Licht zitterte in dem Smaragdtropfen des Rings, den sie trug.

»Wenn sie stirbt, wird es die Wahrheit sein«, sagte Trevelyan leise, die Augen auf ihr regloses Gesicht geheftet. »Ich werde sie in die Arme nehmen und über die Reling gehen; wir werden zusammen am Meeresboden ruhen.«

Grey trat neben ihn, so dicht, dass er seinen Ärmel spürte.

»Mit Geld kann man weder Gesundheit noch Glück kaufen, doch es hat seine Vorteile. Wir werden in Indien leben, als Mann und Frau; niemand wird wissen, wer sie war - es wird nur zählen, dass wir zusammen sind.«

»Möge Gott Euch segnen und Euch Frieden schenken«, murmelte Grey und knöpfte seine Hose zu - doch er richtete seine Worte an Maria Mayrhofer, nicht an Trevelyan.

Sobald er wieder zum Vorschein kam, wurde er von Leutnant Stubbs angehalten, der auf Hochglanz poliert war und heftig schwitzte.

»Hallo, Malcolm. Amüsiert Ihr Euch?«

»Äh. ja. Natürlich. Einen Augenblick, alter Knabe?«

Ein Krachen am Fluss machte eine Antwort kurzfristig unmöglich, doch Grey nickte und winkte Stubbs zu einem relativ stillen Alkoven im Foyer hinüber.

»Ich weiß, dass ich mit Eurem Bruder reden sollte.« Stubbs räusperte sich. »Aber da Melton nicht hier ist, seid Ihr doch sozusagen das Familienoberhaupt, oder?«

»Als Buße für meine Sünden«, sagte Grey argwöhnisch.

»Warum?«

Stubbs warf einen langen Blick in Richtung der Glastür; sie konnten Olivia auf der Terrasse sehen, wo sie gerade über etwas lachte, was Lord Ramsbotham zu ihr sagte.

»Nicht, dass Eure Cousine nicht bessere Aussichten hätte, das weiß ich«, sagte er etwas verlegen. »Aber ich habe die fünftausend im Jahr, und wenn der Alte - nicht, dass ich nicht hoffen würde, dass er ewig lebt, versteht mich nicht falsch -, aber ich bin sein Erbe, und -«

»Ihr wünscht meine Erlaubnis, um Olivia zu werben?«

Stubbs wich seinem Blick aus und schaute vage in Richtung der Musiker, die am anderen Ende des Zimmers fleißig vor sich hinfiedelten.

»Äh, das habe ich eigentlich schon mehr oder weniger getan. Hoffe, es macht Euch nichts aus. Ich, äh, wir hoffen, Ihr würdet uns eventuell die Hochzeit ermöglichen, bevor das Regiment aufbricht. Etwas hastig, ich weiß, aber.«

Aber Ihr wünscht Euch eine Gelegenheit, Euren Samen im Bauch eines willigen Mädchens zurückzulassen, fügte Grey im Stillen hinzu, für den Fall, dass Ihr nicht zurückkommt.

Die Gäste hatten jetzt alle aufgehört zu tanzen und drängten sich am Rand des Balkons, als die erste Explosion vom Fluss her in der Ferne erdröhnte. Blaue und weiße Sterne ergossen sich unter einem Chor von »Ooh! «- und »Aah!«-Rufen vom Himmel - und er wusste, dass jeder Soldat hier genau wie er jenes Krampfen im Unterleib verspürte, die Hoden bei jedem Echo des Krieges fest hochgezogen, selbst wenn der Anblick flammender Glorie ihre Herzen zum Himmel hob.

»Ja«, hörte er sich in der stillen Sekunde zwischen zwei Explosionen sagen, »ich wüsste nicht, warum nicht. Ein Kleid hat sie ja schließlich schon.«

Stubbs zerdrückte ihm selig strahlend die Hand, und er lächelte ebenfalls, während sein Kopf im Champagner schwamm.

»Wie wär's, alter Knabe - Ihr wollt nicht vielleicht eine Doppelhochzeit draus machen, oder? Da wäre schließlich meine Schwester.«

Melissa Stubbs war Malcolms Zwillingsschwester, eine pummelige, lächelnde junge Frau, die ihm in diesem Moment von der Terrasse aus einen allzu viel sagenden Blick zuwarf. Für den Bruchteil einer Sekunde verspürte Grey das Bedürfnis, etwas von sich zurückzulassen, dem Lockruf der Unsterblichkeit, bevor man ins Leere tritt.

Es wäre ja gut und schön, dachte er, falls er nicht zurückkam -aber was, wenn er es doch tat? Er lächelte, klopfte Stubbs auf den Rücken und entschuldigte sich unter dem Vorwand, sich etwas zu trinken holen zu wollen.

»Ihr wollt doch nicht etwa diese Franzosenbrühe trinken, oder?«, sagte Quarry an seiner Seite. »Bläht Euch auf wie eine Blase mit all dem Gas.« Quarry selbst hatte sich eine Riesenflasche Rotwein unter den einen Arm geklemmt, eine große blonde Frau unter den anderen. »Darf ich dich Major Grey vorstellen, Mamie? Major, Mrs. Fortescue.«

»Stets zu Diensten, Ma'am.«

»Ein Wort unter vier Augen, Grey?« Quarry ließ Mrs. Fortescue kurz los und trat dicht an Grey heran. Sein zerfurchtes Gesicht glänzte rot unter der Perücke.

»Wir haben endlich Nachricht erhalten, was den neuen Posten angeht. Aber etwas ist merkwürdig -«

»Ja?« Das Glas in seiner Hand war rot, nicht golden, als enthielte es den leuchtenden Wein, der »Schilcher« hieß und wie Blut gefärbt war. Doch dann sah er die Bläschen aufsteigen und begriff, dass das Feuerwerk die Farbe gewechselt hatte. Das Licht um sie herum wurde rot, dann weiß, dann wieder rot, und Rauchgeruch trieb durch die Glastür herein, als stünden sie im Zentrum eines Bombardements.

»Ich habe mich gerade mit diesem Deutschen da unterhalten, von Namtzen. Er möchte, dass Ihr eine Art Verbindungsoffizier zu seinem Regiment werdet; hat schon mit dem Kriegsministerium gesprochen, sagt er. Scheint große Hochachtung für Euch zu hegen, Grey.«

Grey kniff die Augen zu und trank einen Schluck Champagner. Von Namtzens blonder Kopf war auf der Terrasse zu sehen, das gut geschnittene Profil zum Himmel emporgekehrt, fasziniert wie das eines Fünfjährigen.

»Nun, Ihr braucht Euch natürlich nicht sofort zu entscheiden. Dachte nur, ich sollte es erwähnen. Bereit für die nächste Runde, Mamie, Schätzchen?«

Bevor Grey antworten konnte, waren die drei - Harry, die Blonde und die Flasche - in einer wilden Gavotte davongaloppiert, und am Himmel explodierten Feuerräder und Wasserfälle aus Rot und Blau und Grün und Weiß und Gelb.

Stephan von Namtzen drehte sich um und sah ihn an. Er hob salutierend sein Glas. Am Ende des Zimmers spielten die Musiker immer noch Händel, wie die Musik seines Lebens, Schönheit und Heiterkeit, immer wieder unterbrochen vom Donnern fernen Feuers.

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