Unglücklicherweise blieb ihm keine Zeit mehr für einen Besuch bei Fraser & Cie, denn er war ja mit Quarry verabredet, den er wie angekündigt vor der Kirche St.-Martininthe-Fields antraf.
»Gehen wir zu einer Hochzeit oder einer Beerdigung?«, fragte er, als er aus der Kutsche stieg.
»Muss wohl eine Hochzeit sein - wie ich sehe, habt Ihr ein Geschenk dabei. Oder ist das für mich?« Quarry wies kopfnickend auf das Buch unter Greys Arm.
»Ihr könnt es haben, wenn Ihr wollt.« Grey trennte sich erleichtert von der Präsentationsausgabe von Fanny Hill; er war gezwungen gewesen, das Buch mit aus dem Haus zu nehmen, da Olivia sich im Flur auf ihn gestürzt und ihn dann zum Eingang begleitet hatte, wobei sie ihm mit weiteren Spitzenmustern vor der Nase herumgefuchtelt und ihn nach seiner Meinung gefragt hatte.
Quarry öffnete das Buch, kniff die Augen zu, dann sah er mit lüsternem Blick zu Grey auf.
»Aber Johnny. Ich wusste ja gar nicht, dass Ihr so empfindet!«
»Was?« Als er Quarrys Grinsen sah, riss er das Buch wieder an sich und entdeckte erst jetzt, dass es eine Widmung auf der Titelseite hatte. Die Gräfin hatte davon offenbar auch nichts gewusst - zumindest hoffte er das.
Es war ein recht eindeutiger Vers von Catull, der mit der Initiale »J« signiert war.
»Schade, dass ich nicht Benedicta heiße«, meinte Quarry. »Sieht ja nach einem sehr interessanten Bändchen aus!«
Grey, der die Zähne zusammenbiss und im Geiste hastig eine Liste von Bekannten seiner Mutter durchging, deren Namen mit »J« anfing, riss die Titelseite vorsichtig aus dem Buch, steckte sie in seine Tasche und gab Quarry das Buch entschlossen zurück.
»Zu wem gehen wir?«, erkundigte er sich. Wie verlangt war er in seiner ältesten Uniform gekommen und zupfte kritisch an einem Faden herum, der sich von seiner Manschette löste. Tom Byrd war ein exzellenter Barbier, doch ansonsten ließen seine Kammerdienerkünste etwas zu wünschen übrig.
»Irgendjemand«, sagte Quarry vage und betrachtete eine der Illustrationen. »Weiß nicht, wie er heißt. Richard hat mich auf ihn angesetzt; sagt, er wisse alles über die Angelegenheit in Calais; könnte hilfreich sein.« Richard war Lord Joffrey, Quarrys älterer Halbbruder, der großen politischen Einfluss hatte. Er hatte zwar nicht direkt mit der Armee oder der Marine zu tun, doch er kannte alle wichtigen Persönlichkeiten, die etwas damit zu tun hatten, und war im Allgemeinen über jeden Skandal, der sich zusammenbraute, Wochen vor seinem öffentlichen Ausbruch informiert.
»Dann ist es jemand aus Regierungskreisen?«, fragte Grey, weil sie gerade in die Whitehall Street einbogen, an der fast nur Regierungsgebäude standen.
Quarry schloss das Buch und warf ihm einen argwöhnischen Blick zu.
»Weiß ich nicht genau.«
Grey gab das Fragen auf, hoffte jedoch, dass die Angelegenheit nicht allzu viel Zeit in Anspruch nehmen würde. Er hatte einen frustrierenden Tag hinter sich; hatte den Morgen mit fruchtlosen Ermittlungen verbracht und die Mittagszeit mit der Anprobe eines Anzuges, von dem er sich zunehmend sicher war, dass er ihn nie zu der Hochzeit tragen würde, für die er gedacht war. Im Großen und Ganzen war ihm nach einer herzhaften Mahlzeit und einem ordentlichen Schluck zumute -nicht nach Gesprächen mit namenlosen Personen in nicht existenten Positionen.
Doch er war Soldat und erkannte die Pflicht, wenn sie rief.
Abgesehen von den Überresten des Palastes und dem großen Bankettsaal, die aus einem vergangenen Jahrhundert stammten, war die Whitehall Street architektonisch unauffällig. Diese Bauwerke waren jedoch genauso wenig ihr Ziel wie die etwas gammeligen Gebäude in ihrer Nähe, in denen die minderen Regierungsämter untergebracht waren. Zu Greys Überraschung trat Quarry stattdessen durch die Tür des »Golden Cross«, eines baufälligen Wirtshauses gegenüber von St.-Martininthe-Fields.
Quarry ging voraus in den Schankraum, bestellte beim Wirt zwei Biere und setzte sich auf eine Bank. Er benahm sich ganz so, als sei er hier Stammgast - und es befanden sich in der Tat diverse Militärangehörige unter den Gästen, obwohl die meisten von ihnen Marineoffiziere niederen Ranges waren. Quarry trieb die Maskerade noch weiter, indem er Grey in ein lautes, scherzhaftes Gespräch über Pferderennen verwickelte, doch sein Blick wanderte ruhelos im Raum umher und registrierte jeden, der kam oder ging.
Nach ein paar Minuten dieses Schauspiels sagte Quarry ganz leise: »Wartet zwei Minuten, dann folgt mir.« Er trank den Rest seines Biers, schob das leere Glas achtlos beiseite und ging. Dabei benutzte er den Hinterausgang, als wollte er den Abort aufsuchen.
Etwas verdutzt trank Grey ganz in Ruhe den Rest seines Ale, dann erhob er sich ebenfalls.
Die Sonne sank bereits, doch es war noch hell genug, um zu sehen, dass der enge Hinterhof des »Golden Cross« leer war, abgesehen von dem üblichen Gerümpel aus Abfällen, feuchter Asche und kaputten Fässern. Die Tür des Aborts stand einen Spalt offen, und auch dieser war leer - bis auf eine Fliegenwolke, die sich des milden Wetters erfreute. Grey verscheuchte gerade eine Anzahl dieser vorwitzigen Insekten, als er eine Bewegung im Halbdunkel am Ende des Hofes sah.
Er näherte sich vorsichtig und entdeckte einen sympathischen jungen Mann, der ordentlich, aber unauffällig gekleidet war und ihn anlächelte, sich dann aber grußlos umwandte. Er folgte dieser Eskorte und fand sich auf einer wackeligen Treppe wieder, die zwischen der Wand des Wirtshauses und dem angrenzenden Gebäude entlanglief und an einer Tür endete, die wahrscheinlich die Privaträume des Wirtshausbesitzers behütete. Der junge Mann öffnete sie, trat ein und winkte ihm, zu folgen.
Er war sich nicht ganz sicher, welche Erwartung diese einleitende Geheimnistuerei in ihm geweckt hatte, doch die Realität war herzlich unaufregend. Das Zimmer hatte niedrige Deckenbalken; es war dunkel und verkommen, möbliert mit den abgenutzten Gegenständen eines schäbigen Alltags - einer heruntergekommenen Anrichte, einem aus Brettern zusammengezimmerten Tisch mit einer Bank und Hockern, einem beschädigten Nachttopf, einer rauchenden Lampe und einem Tablett mit fleckigen Gläsern und einem Dekanter mit trübem Wein. Dazu zierte völlig unpassenderweise eine kleine Silbervase den Tisch, in der ein Strauß leuchtend gelber Tulpen stand.
Harry Quarry saß direkt neben den Blumen und unterhielt sich mit einem kleinen, altmodisch aussehenden Mann, der Grey seinen fetten Rücken zugewandt hatte. Quarry blickte auf und zog eine Augenbraue hoch, um anzuzeigen, dass er Grey gesehen hatte, wies ihn aber mit einer knappen Handbewegung an, sich kurz im Hintergrund zu halten.
Der diskrete junge Mann, der ihn hergebracht hatte, verschwand durch eine Tür im Nebenzimmer; ein anderer junger Mann war am anderen Ende des Zimmers damit beschäftigt, auf der Anrichte einen Stapel Papiere und Mappen zu sortieren.
Irgendetwas an diesem Mann weckte eine Erinnerung, und er trat einen Schritt auf ihn zu. Der junge Mann wandte sich plötzlich um, die Hände voller Papiere, blickte auf und erstarrte mit offenem Mund wie ein Goldfisch. Eine Perücke bedeckte seine goldenen Locken, doch es machte Grey keine Schwierigkeiten, das weiße Gesicht darunter zu erkennen.
»Mr. Stapleton?« Der fette, kleine Mann am Tisch drehte sich nicht um, sondern hob nur eine Hand. »Habt Ihr es gefunden?«
»Ja, Mr. Bowles«, sagte der junge Mann, die brennenden, blauen Augen nach wie vor auf Greys Gesicht geheftet. Er schluckte, und sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. »Schon unterwegs.«
Grey, der keine Ahnung hatte, wer dieser Mr. Bowles sein könnte oder was hier eigentlich vorging, schenkte Stapleton ein kleines, rätselhaftes Lächeln. Der junge Mann riss den Blick von ihm los und trat zu dem fetten Mann, um ihm die Blätter zu geben, konnte es sich aber nicht verkneifen, sich erneut rasch und ungläubig umzusehen.
»Danke, Mr. Stapleton«, sagte der untersetzte Mann, und sein Tonfall verdeutlichte, dass dieser nicht mehr gebraucht wurde. Mr. Stapleton alias Neil, das Flittchen, verbeugte sich ruckartig und setzte sich in Bewegung. Dabei huschte sein Blick wiederholt zu Grey wie der eines Mannes, der gerade ein Gespenst gesehen hat, jedoch hofft, dass es so höflich sein wird, vor dem nächsten Hinsehen zu verschwinden.
Quarry und der schäbige Mr. Bowles hatten immer noch die Köpfe zusammengesteckt und unterhielten sich murmelnd. Grey schlenderte unauffällig zu einem offenen Fenster, wo er stehen blieb, die Hände hinter dem Rücken gefaltet, als schnappte er zur Erholung von dem Mief im Inneren des Zimmers frische
Luft.
Die Sonne war fast untergegangen, und ihre letzten Strahlen spiegelten sich auf dem Rumpf des Bronzepferdes, das unten auf der Straße stand und Charles I. auf dem Rücken trug. Er hatte schon in jungen Jahren eine geheime Vorliebe für diese Statue gehabt, seitdem ihm ein längst vergessener Tutor mitgeteilt hatte, dass der Monarch, der gute sechs Zentimeter kleiner gewesen war als Grey jetzt, sich zu Pferd hatte darstellen lassen, um mehr Eindruck zu machen - und dass er dabei seine Größe ganz unauffällig auf glatte ein Meter achtzig hatte aufrunden lassen.
Ein leises Räuspern hinter ihm sagte ihm, dass Neil, das Flittchen, wie beabsichtigt zu ihm getreten war.
»Möchtet Ihr etwas Wein, Sir?«
Er drehte sich halb um, sodass der junge Mann mit seinem Tablett ganz natürlich vortreten und es auf der breiten Fensterbank abstellen konnte. Grey machte eine kleine, zustimmende Geste und sah mit kühler Miene zu, wie der Wein ausgeschenkt wurde.
Stapletons Blick huschte zur Seite, um sich zu überzeugen, dass niemand sie beobachtete, dann schoss er zurück und heftete sich mit einem Ausdruck stummer Verzweiflung auf Grey.
Bitte. Seine Lippen bewegten sich tonlos, während er Grey das Glas reichte. Der Wein bebte und schwappte in dem blinden Glas hin und her.
Grey machte keine Anstalten, es sofort zu ergreifen, sondern warf ebenfalls einen Seitenblick auf Mr. Bowles' gesenkten Kopf, dann wieder auf Stapletons, wobei er fragend die Augenbrauen hochzog.
Ein Ausdruck blanken Entsetzens trat bei diesem Gedanken in Stapletons Augen, und er schüttelte kaum merklich den Kopf.
Grey streckte die Hand aus und legte sie um das Glas.
Dabei bedeckte er Neils Fingerspitzen. Er drückte kurz zu, dann nahm er das Glas und ließ die Augenlider sinken.
»Ich danke Euch, Sir«, sagte er höflich.
»Euer Diener, Sir«, sagte Stapleton genauso höflich und verbeugte sich, bevor er sich abwandte, um das Tablett zu nehmen. Grey fing den schwachen Geruch von Stapletons Schweiß auf, beißend vor Angst, doch der Dekanter und die restlichen Gläser zitterten nicht mehr, als er sie davontrug.
Grey schmeckte den fauligen Wein kaum, halb erstickt wie er war, weil auch ihm das Herz im Halse schlug. Was in Gottes Namen ging hier vor? Er glaubte nicht, dass dieses Zusammentreffen etwas mit ihm zu tun hatte; Harry hätte ihn mit Sicherheit gewarnt - aber vielleicht hatte ja Stapleton. nein, sonst hätte ihm Greys Auftauchen kaum einen solchen Schrecken eingejagt. Aber was dann Stühlerücken unterbrach ihn glücklicherweise bei diesen Spekulationen, bevor sie noch unzusammenhängender wurden.
»Lord John?« Quarry war aufgestanden und sprach ihn formell an. »Darf ich Euch Mr. Hubert Bowles vorstellen? Major Grey.«
Mr. Bowles war ebenfalls aufgestanden, obwohl das kaum auffiel, weil er so klein war, dass er jetzt kaum größer war als im Sitzen. Grey verbeugte sich höflich mit einem gemurmelten »Stets zu Diensten, Sir«.
Er nahm auf dem Hocker Platz, den man ihm zuwies, und sah sich einem Paar sanfter Augen gegenüber, die die vage Schieferfarbe eines Neugeborenen hatten und ihm aus einem Gesicht entgegenblickten, dessen Züge so individuell waren wie die eines Puddings. Es lag ein kühler Geruch in der Luft; etwas, das wie sehr alter Schweiß roch, jedoch mit einem Hauch von eitriger Fäulnis versetzt. Er konnte nicht sagen, ob es von der Ausstattung des Zimmers kam oder von dem Mann vor ihm.
»Mylord«, sagte Bowles mit lispelnder Stimme, die kaum mehr war als ein Flüstern. »Es ist sehr freundlich von Euch, Euch zu uns zu gesellen.«
Als wäre ich aus freien Stücken hier, dachte Grey zynisch, verbeugte sich jedoch nur und murmelte eine Höflichkeitsfloskel als Erwiderung, während er sich Mühe gab, ausschließlich durch den Mund zu atmen.
»Oberst Quarry hat mir von Euren Bemühungen und Entdeckungen berichtet«, sagte Bowles und drehte mit kurzen, vorsichtigen Fingern ein Blatt Papier um. »Ihr seid außerordentlich gründlich gewesen.«
»Ihr schmeichelt mir zu sehr, Sir«, sagte Grey. »Ich habe doch nichts Konkretes herausgefunden - ich gehe davon aus, dass wir hier von Tim O'Connells Tod reden?«
»Unter anderem.« Bowles lächelte freundlich, doch der vage Ausdruck in seinen Augen änderte sich nicht.
Grey räusperte sich, und erst jetzt schmeckte er das scheußliche Aroma des Weins, den er geschluckt hatte.
»Ich nehme an, Oberst Quarry hat Euch mitgeteilt, dass ich keinen Beweis finden konnte für eine Verstrickung O'Connells in. die vorliegende Angelegenheit.«
»Das hat er.« Bowles ließ den Blick von Grey zu den gelben Tulpen wandern. Grey sah, dass sie orange Kelche hatten und im letzten Sonnenlicht wie geschmolzenes Gold glänzten. Wenn sie einen Duft hatten, war er unglücklicherweise nicht kräftig genug, um wahrnehmbar zu sein. »Oberst Quarry ist der Ansicht, dass es Euch bei Euren Ermittlungen helfen würde, wenn wir Euch über die Ergebnisse unserer eigenen. Nachforschungen unterrichten würden.«
»Ich verstehe«, sagte Grey, obwohl er bis jetzt noch gar nichts verstand. »Unsere eigenen Nachforschungen.« Und wer genau waren »wir«? Harry saß zusammengesunken auf seinem Hocker, ein unberührtes Glas Wein in der Hand, das Gesicht bewusst ausdruckslos.
»Wie Euch der Oberst, glaube ich, mitgeteilt hat, gab es mehrere Verdächtige, als der Diebstahl geschah.« Bowles' kleine, weiche Pranke spreizte sich über die Papiere. »Es wurden sofort durch mehrere Instanzen Nachforschungen über all diese Männer angestellt.«
»Davon war ich ausgegangen.«
Trotz des offenen Fensters war es sehr warm in der Kammer, und Grey konnte spüren, dass ihm das Hemd am Rücken klebte und ihn der Schweiß an den Schläfen kitzelte. Er hätte sich gern mit dem Ärmel über das Gesicht gewischt, doch irgendwie zwang ihn die Gegenwart dieses merkwürdigen Mannes, einfach nur zu nicken und stocksteif in Hab-Acht-Stellung dazusitzen.
»Ohne Details zu verraten -« Ein schmales Lächeln huschte bei diesen Worten über Bowles' Gesicht, als hätte die Vorstellung, anderen Details vorzuenthalten, insgeheim etwas Köstliches an sich. »Ich kann Euch verraten, Major, dass es inzwischen so gut wie sicher ist, dass Sergeant O'Connell der Schuldige gewesen ist.«
»Ich verstehe«, sagte Grey erneut vorsichtig.
»Wir haben ihn natürlich aus den Augen verloren, als der Mann, der ihn beschattet hat - er hieß Jack Byrd, nicht wahr? -, am Samstag verschwunden ist.« Grey war sich völlig sicher, dass Bowles den Namen wusste, dass er höchstwahrscheinlich eine ganze Menge mehr wusste als das.
»Wir haben jedoch«, fuhr Bowles fort und streckte einen seiner Stummelfinger aus, um die schimmernden Blütenblätter zu berühren, »gerade einen Bericht aus einer anderen Quelle erhalten, die O'Connell am Freitag an einem bestimmten Ort gesehen hat. Das war der Tag vor seinem Tod.«
Ein Schweißtropfen hing an Greys Kinn; er konnte spüren, wie er dort zitterte, genau wie die Pollenkörner an den weichen, schwarzen Stempeln der Tulpen.
»Ein ausgesprochen ungewöhnlicher Ort«, fuhr Bowles fort und strich mit verträumter Sanftheit über das Blütenblatt. »Ein Etablissement namens >Lavender Housec, in der Nähe von Lincoln's Inn. Habt Ihr schon einmal davon gehört?«
Oh, Himmel. Er konnte die Worte deutlich hören und hoffte, dass er sie nicht laut ausgesprochen hatte. Das war's dann also.
Er setzte sich noch gerader hin und wischte sich mit dem Handrücken den Schweißtropfen vom Kinn, auf das Schlimmste gefasst.
»Ja, das habe ich. Ich bin letzte Woche selbst im >Lavender House< gewesen - im Rahmen meiner Nachforschungen.«
Dies schien Bowles - natürlich! - nicht im Geringsten zu erstaunen. Grey war sich bewusst, dass Quarry neben ihm ein neugieriges, jedoch kein alarmiertes Gesicht machte. Er war sich einigermaßen sicher, dass Quarry keine Vorstellung von der Natur des »Lavender Houses« hatte. Er war sich völlig sicher, dass Bowles Bescheid wusste.
Bowles nickte freundlich.
»Aha. Was ich mich frage, Major, ist, was Ihr über O'Connell herausgefunden habt, das Euch zu diesem Ziel geführt hat.«
»Es - war nicht O'Connell, über den ich Erkundigungen eingezogen habe.« Bei diesen Worten rutschte Quarry ein wenig hin und her und stieß ein leises »Hmpf!« aus.
Es war nicht zu ändern. Grey befahl Gott seine Seele an, holte tief Luft und erzählte die ganze Geschichte seiner Erkundungszüge über das Leben und Benehmen des Joseph Trevelyan.
»Ein grünes Samtkleid«, sagte Bowles, der kaum erstaunt klang. »Du liebe Güte.« Seine Hand hatte sich von den Tulpen gesenkt und schmiegte sich nun besitzergreifend um den runden Bauch der Silbervase.
Greys Hemd war inzwischen durchgeschwitzt, doch er hatte keine Angst mehr. Im Gegenteil, er spürte eine seltsame Ruhe, als sei ihm die Sache nun völlig aus der Hand genommen worden. Was als Nächstes geschah, lag in der Hand des Schicksals, oder Gottes - oder Hubert Bowles', wer in Gottes Namen er auch immer sein mochte.
Stapleton war offenbar ein Angestellter in Bowles' Diensten -welches namenlose Amt dieser auch innehaben mochte -, und Greys zweiter Gedanke nach dem Schreck, ihn hier zu sehen, war gewesen, dass Stapleton das »Lavender House« als Agent in Bowles' Auftrag aufgesucht hatte.
Doch Stapleton war über Greys plötzliches Auftauchen zu Tode erschrocken gewesen; also musste er davon ausgehen, dass Bowles nichts über seine Natur wusste. Wozu sonst jene stumme Bitte?
Stapleton hätte also Greys Anwesenheit im »Lavender House« niemals erwähnt; er konnte es gar nicht, ohne selbst in Verdacht zu geraten. Und dies wiederum bedeutete, dass er aus rein persönlichen Gründen dort gewesen war. Jetzt, da er einen Augenblick zum Nachdenken hatte, begriff Grey - mit der fundamentalen Erleichterung eines Menschen, der von der Falltür des Galgens zurücktritt -, dass sich Mr. Bowles nur insofern für seine eigene Handlungsweise interessierte, als sie mit der Affäre O'Connell zu tun hatte. Und da er einen derartig einsichtigen Grund für seine Anwesenheit im »Lavender House« liefern konnte.
»Ich. V-Verzeihung, Sir?«, stotterte er, denn er begriff zu spät, dass Bowles etwas zu ihm gesagt hatte.
»Ich habe gefragt, ob Ihr fest davon überzeugt seid, dass diese Iren eine verdächtige Rolle spielen, Major. Die Scanions?«
»Ich glaube, dass sie das tun«, erwiderte er vorsichtig. »Doch das ist nur mein Eindruck, Sir. Ich habe allerdings zu Oberst Quarry gesagt, dass es nützlich sein könnte, sie offiziell zu verhören - und nicht nur die Scanions, sondern auch Miss Iphigenia Stokes und ihre Familie.«
»Ah, Miss Stokes.« Die Hängebacken des Mannes zitterten schwach. »Nein, die Familie Stokes ist uns gut vertraut. Unbedeutende Schmuggler, bis zum letzten Mann, aber keinerlei politische Verbindungen. Und auch keinerlei Kontakt mit den. Personen im >Lavender House<.«
Personen. Damit, so begriff Grey, war mit ziemlicher Sicherheit Dickie Caswell gemeint. Da Bowles von O'Connells Anwesenheit im »Lavender House« wusste, musste ihm jemand davon erzählt haben. Daher lag der Schluss nahe, dass Caswell die »Quelle« war, von der die Informationen über O'Connell stammten - was wiederum darauf hindeutete, dass Caswell eine reguläre Informationsquelle für Mr. Bowles und sein dubioses »Amt« war. Das war äußerst Besorgnis erregend, doch er hatte jetzt keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen.
»Ihr habt gesagt, O'Connell ist freitags im >Lavender House< gewesen«, sagte Grey, um das Gespräch wieder in den Griff zu bekommen. »Wisst Ihr, mit wem er dort gesprochen hat?«
»Nein.« Bowles' Lippen wurden so dünn, dass sie verschwanden. »Er ist zur Hintertür des Etablissements gegangen, und als man ihn nach seinem Begehren fragte, hat er erwidert, er sei auf der Suche nach einem Herrn namens Meyer, oder etwas in der Art. Der Bedienstete, der mit ihm gesprochen hat, bat ihn zu warten, und ging ins Haus, um nachzufragen; als er zurückkam, war O'Connell fort.«
»Meyer?« Quarry beugte sich vor und mischte sich in das Gespräch ein. »Ein Deutscher? Ein Jude? Ich habe schon von einem Kerl dieses Namens gehört - ein fahrender Münzhändler. Arbeitet, glaube ich, in Frankreich. Eine sehr gute Verkleidung für einen Geheimagenten wandert von einem reichen Haus zum nächsten, womit, einem großen Rucksack?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung, Sir.« Dieses Eingeständnis schien Bowles etwas zu ärgern. »Eine solche Person ist nicht im >Lavender House< gewesen, und auch niemand dieses Namens. Unter den Umständen kommt mir das Ganze allerdings sehr verdächtig vor.«
»Oh, sehr«, sagte Quarry mit einem sarkastischen Unterton. »Nun denn. Was schlagt Ihr vor?«
Bowles warf Quarry einen kalten Blick zu.
»Es ist von äußerster Wichtigkeit, dass wir den Mann finden, dem O'Connell seine Geheimnisse verkaufen wollte, Sir. Es scheint klar zu sein, dass dies ein spontanes Verbrechen gewesen ist, keine gezielte Spionage - es konnte ja niemand wissen, dass die Listen unbeaufsichtigt und offen daliegen würden.«
Quarry pflichtete ihm mit einem Grunzlaut bei und lehnte sich zurück, die Arme vor der Brust verschränkt.
»Aye, und?«
»Doch nachdem er den Wert der Informationen erkannt und die Dokumente an sich genommen hatte, sah sich der Dieb -nennt ihn der Bequemlichkeit halber O'Connell - vor die Notwendigkeit gestellt, einen Käufer dafür zu finden.«
Bowles zog einige Bögen grobes Papier aus dem Stapel, der vor ihm lag, und breitete sie aus. Sie waren mit einer rundlichen Schrift bedeckt, die mit einem Stift niedergeschrieben und so gut lesbar war, dass Grey hier und dort ein auf dem Kopf stehendes Wort ausmachen konnte.
»Dies sind die Berichte, die Jack Byrd für uns angefertigt hat«, sagte Bowles und legte die Bögen einen nach dem anderen auf den Tisch. »Er beschreibt jede von O'Connells Bewegungen und notiert die Beschreibung - und oft auch den Namen - jeder Person, die er im Gespräch mit dem Sergeant beobachtet hat. Agenten meines Amtes -«, Grey bemerkte, dass er nicht weiter darauf einging, welches Amt, »- haben die meisten dieser Personen lokalisiert und identifiziert. Es sind mehrere darunter, die in der Tat lose Verbindungen ins Ausland haben - jedoch keiner, der in der Lage wäre, einen Kontrakt in dieser
Größenordnung in die Wege zu leiten.«
»O'Connell war auf der Suche nach einem Käufer«, fasste Grey zusammen. »Vielleicht hat ihm ja einer von diesen kleinen Fischen den Namen dieses Meyer genannt, nach dem er sich erkundigt hat.«
Bowles neigte seinen runden Kopf ein paar Zentimeter in Greys Richtung.
»Das hatte ich ebenfalls angenommen, Major«, sagte er höflich. »>Kleine Fische<. Ein sehr pittoreskes und passendes Bild, wenn ich das sagen darf. Und es ist gut möglich, dass dieser Meyer der Hai in unserem Meer der Intrigen ist.«
Aus dem Augenwinkel sah Grey, wie Harry Grimassen schnitt, und er hustete und wandte sich in die andere Richtung, um Bowles' Blick auf sich zu lenken.
»Eure. äh. Quelle - könnte er diese Person nicht finden, wenn es eine Verbindung zwischen ihr und dem >Lavender House< gibt?«
»Das will ich doch wohl meinen«, sagte Bowles, der jetzt wieder einen selbstzufriedenen Eindruck machte. »Meine Quelle leugnet jedoch, von einer solchen Person zu wissen - was mich zu der Annahme führt, dass O'Connell entweder in die Irre geführt worden ist oder dass dieser Meyer eine Art Decknamen benutzt. Kaum unwahrscheinlich, wenn man die. äh. Natur dieses Hauses bedenkt.«
Die letzten Worte wurden mit einem solchen Unterton ausgesprochen - irgendetwas zwischen Missbilligung und. Faszination? Schadenfreude? -, dass Grey ein kurzes Kribbeln verspürte und sich instinktiv über den Handrücken strich, als wollte er ein lästiges Insekt verscheuchen.
Bowles griff jetzt in eine weitere Mappe. Das Papier, das er herauszog, war von sehr viel besserer Qualität; gutes Pergament, das mit dem Königlichen Siegel verschlossen war.
»Dies, Mylord, ist ein Brief, der Euch ermächtigt, Nachforschungen in Sachen Timothy O'Connell anzustellen«, sagte Bowles und reichte Grey das Papier. »Er ist mit Absicht sehr vage formuliert, doch ich baue darauf, dass Ihr ihn sinnvoll nutzen werdet.«
»Danke«, sagte Grey, der das Dokument mit den bösesten Vorahnungen entgegennahm. Er wusste noch nicht genau, warum, doch seine Instinkte warnten ihn, dass das rote Siegel Gefahr verkündete.
»Nun, wollt Ihr etwa, dass Lord John dorthin zurückgeht und das Haus auf den Kopf stellt?«, fragte Quarry ungeduldig. »Wir haben einen zahmen Konstabler; sollen wir ihn bitten, die Juden in seinem Distrikt zusammenzutreiben und sie mit den Füßen ins Feuer zu halten, bis sie mit diesem Meyer herausrücken? Was in Gottes Namen sollen wir tun?«
Mr. Bowles mochte es nicht, wenn man ihn zur Eile trieb, das konnte Grey sehen. Seine Lippen wurden erneut dünn, doch bevor er etwas erwidern konnte, meldete sich Grey seinerseits zu Wort.
»Sir - wenn ich etwas sagen dürfte? Ich habe da etwas - es ist natürlich möglich, dass es nichts ist -, doch es scheint da eine merkwürdige Verbindung zu geben.« So gut er konnte, erklärte er das Auftauchen eines ungewöhnlichen, deutschen Weins im »Lavender House« und seine offensichtliche Verbindung mit Trevelyans mysteriöser Partnerin. Und Jack Byrd wiederum stand natürlich in Verbindung zu Trevelyan.
»Daher frage ich mich, Sir, ob es möglich wäre herauszufinden, wer zu den Käufern dieses Weins gehört, und so eventuell die Fährte des geheimnisvollen Mr. Meyer aufzuspüren?«
Die speckige Hautwulst, die Mr. Bowles als Stirn diente, durchlief krampfartige Bewegungen wie eine Schnecke, die heftig nachdenkt - doch dann entspannte sie sich.
»Ja, ich glaube, dass dies eine lohnenswerte Spur ist«, räumte er ein. »Unterdessen, Oberst -«, er wandte sich im Befehlston an Harry, »empfehle ich Euch, dass Ihr Euch Mr. Scanion und seine Frau vornehmt und ihnen gegenüber die geeigneten Schritte einleitet.«
»Daumenschrauben eingeschlossen?«, erkundigte sich Harry und stand auf. »Oder soll ich beim Einsatz der Knute die Grenze ziehen?«
»Das überlasse ich Eurem unfehlbaren beruflichen Urteilsvermögen, Oberst«, sagte Bowles höflich. »Ich werde die weiteren Nachforschungen im >Lavender House< übernehmen. Und Major Grey - ich halte es für das Beste, wenn Ihr Euch um Mr. Trevelyans mögliche Verwicklung in die Angelegenheit kümmert; Ihr scheint mir am ehesten in der Position zu sein, es diskret zu tun.«
Was bedeutet, dachte Grey, dass jetzt in leuchtenden Großbuchstaben das Wort »Sündenbock« auf meiner Stirn steht. Wenn die ganze Sache hochgeht, kann man sie getrost mir in die Schuhe schieben und mich für den Rest meines Lebens nach Schottland oder Kanada verschiffen, ohne dass der Gesellschaft ein Verlust entstünde.
»Danke«, sagte Grey, der das Kompliment entgegennahm, als sei es eine tote Ratte. Harry prustete, und sie verabschiedeten sich.
Doch bevor sie noch die Tür erreicht hatten, sprach Bowles erneut.
»Lord John. Wenn Ihr einen gut gemeinten Rat annehmen würdet, Sir?« Grey drehte sich um. Die vagen, blauen Augen schienen auf eine Stelle oberhalb seiner linken Schulter konzentriert zu sein, und er musste sich zwingen, sich nicht umzudrehen und nachzusehen, ob tatsächlich jemand hinter ihm stand.
»Natürlich, Mr. Bowles.«
»Ich glaube, ich würde es Mr. Trevelyan nur ungern gestatten, mein angeheirateter Verwandter zu werden. Das ist natürlich nur meine persönliche Meinung.«
»Ich danke Euch für Eure freundliche Anteilnahme, Sir«, sagte Grey und verbeugte sich äußerst korrekt.
Er folgte Harry die baufällige Treppe hinunter und über den lärmigen Hof auf die Straße, wo sie beide einen Moment stehen blieben und tief durchatmeten.
»Knute?«, sagte Grey.
»Auspeitschen auf Russisch«, erklärte Quarry und zupfte an seiner zerknitterten Halsbinde. »Mit einer Peitsche aus Nilpferdhaut. Habe ich einmal gesehen; es hat den armen Kerl mit drei Hieben bis auf die Knochen zerfetzt.«
»Klingt sehr verlockend«, pflichtete Grey ihm bei und verspürte einen unerwarteten Anflug von Seelenverwandtschaft mit seinem Halbbruder Edgar. »Ihr habt nicht zufällig eine Knute übrig, die Ihr mir leihen könntet, bevor ich Trevelyan besuche?«
»Nein, aber es könnte sein, dass Maggie eine in ihrer Sammlung hat. Soll ich sie fragen?« Aus Bowles' bedrückendem Loch befreit, kehrte Quarrys natürliche Fröhlichkeit zurück.
Grey verneinte mit einer Handbewegung.
»Macht Euch keine Mühe.« Er setzte sich neben Harry in Bewegung, und sie wandten sich die Straße hinunter zurück zum Fluss.
»Wenn man den guten Mr. Bowles trocknen und ausstopfen würde, würde er eine exzellente Ergänzung dieser Sammlung abgeben. Wer ist er, wisst Ihr das?«
»Weder Fisch noch Fleisch, also muss er wohl Geflügel sein«, sagte Quarry achselzuckend. »Darüber hinaus stellt man wohl besser keine Fragen.«
Grey nickte zustimmend. Er fühlte sich wie ausgewrungen -und fürchterlich durstig.
»Kann ich Euch im >Beefsteak< ein Glas ausgeben, Harry?« »Macht ein Fass draus«, sagte Harry und schlug ihm die Hand auf den Rücken. »Und ich spendiere das Essen. Also los.«