2. Ein Witwenbesuch

»Frankreich«, sagte Stubbs angewidert, während er sich durch das Gedränge am Clove Market schob. »Schon wieder das verfluchte Frankreich, könnt Ihr das glauben? Ich habe mit DeVries gegessen, und er hat mir gesagt, er habe es direkt vom alten Willie Howard. Da dürfen wir dann wahrscheinlich in Calais den verdammten Hafen bewachen!«

»Wahrscheinlich«, sagte Grey und bahnte sich seinen Weg an einem Fischhändlerkarren vorbei. »Wann, wisst Ihr das?« Er tat so, als verärgere ihn der Gedanke an eine absehbar eintönige Stationierung in Frankreich genauso sehr wie Stubbs, doch in Wirklichkeit freute ihn diese Neuigkeit.

Er war gegenüber dem Lockruf des Abenteuers ebenso wenig immun wie jeder andere Soldat und hätte es genossen, die exotischen Sehenswürdigkeiten Indiens zu Gesicht zu bekommen. Doch er war sich auch sehr wohl bewusst, dass eine solche Stationierung in der Fremde ihn wahrscheinlich zwei Jahre oder länger von England fernhalten würde - von Helwater.

Ein Posten in Calais oder Rouen dagegen. er könnte problemlos alle paar Monate zurückkehren und das Versprechen erfüllen, das er seinem jakobitischen Gefangenen gegeben hatte - einem Mann, der zweifellos froh sein würde, wenn er ihn nie wieder zu sehen bekam.

Er schob diesen Gedanken entschlossen beiseite. Sie waren nicht in Freundschaft voneinander geschieden. Doch er hoffte auf die Macht der Zeit, den Bruch zu heilen. Wenigstens war Jamie Fraser in Sicherheit; er hatte ein anständiges Dach über dem Kopf, genug zu essen und genoss so viel Freiheit, wie seine Hafterleichterung eben zuließ. Grey tröstete sich mit dem Bild in seiner Vorstellung - ein langbeiniger Mann, der über die Hochmoore des Lake Districts schritt, das Gesicht der Sonne und den dahinziehenden Wolken zugewandt, das dichte rote Haar vom Wind verweht, der ihm Hemd und Kniehose eng an den sehnigen Körper klebte.

»Hoi! Hier entlang!« Stubbs' Ausruf riss ihn gewaltsam aus seinen Gedanken, und er sah, wie der Leutnant hinter ihm ungeduldig auf eine Seitenstraße wies. »Wo seid Ihr nur heute mit Euren Gedanken, Major?«

»Ich hatte gerade an unseren neuen Posten gedacht.« Grey trat über eine schläfrige, verfilzte Hündin hinweg, die vor ihm ausgestreckt lag und sein Vorübergehen genauso wenig beachtete wie das Gewimmel der Welpen, die an ihren Zitzen saugten. »Wenn es Frankreich ist, gibt es wenigstens anständigen Wein.«

O'Connells Witwe bewohnte ein Zimmer über einer Apotheke in der Brewster's Alley, wo sich die Gebäude auf derart engem Raum gegenüberstanden, dass es der Sommersonne nicht gelang, bis auf das Pflaster vorzudringen.

Stubbs und Grey durchwanderten den klammen Schatten und traten wiederholt Gerümpel beiseite, das wohl selbst den Anwohnern zu verkommen gewesen war.

Grey folgte Stubbs durch die enge Tür der Apotheke, über der ein Schild mit der verblassten Aufschrift »F. Scanion, Apotheker« hing. Er blieb stehen, um mit dem Fuß aufzustampfen und einen verrotteten Pflanzenstrang abzuschütteln, der an seinem Stiefel klebte, blickte aber auf, als aus dem hinteren Teil der Apotheke eine Stimme erklang.

»Guten Tag, die Herren.« Die Stimme war leise und hatte einen starken irischen Akzent.

»Mr. Scanion?«

Grey sah blinzelnd in das Halbdunkel und machte den Besitzer aus, einen dunkelhaarigen, untersetzten Mann, der wie eine Spinne über seinem Tresen lauerte, die Arme ausgestreckt, als wartete er nur darauf, jederzeit jede gewünschte Ware zu packen.

»Ebendieser. Finbar Scanion.« Der Mann neigte höflich den Kopf. »Darf ich fragen, was ich die Ehre habe, für die Herren tun zu können?«

»Mrs. O'Connell«, sagte Stubbs knapp und wies mit einem Ruck seines Daumens nach oben, während er auf den hinteren Teil der Apotheke zutrat, ohne eine Einladung abzuwarten.

»Ah, die Dame ist gerade nicht da«, sagte der Apotheker und schlüpfte rasch hinter dem Tresen hervor, um Stubbs den Weg zu verstellen. Hinter ihm wehte ein verblichener Vorhang aus gestreiftem Leinen im Luftzug, der von der Tür herkam. Wahrscheinlich verdeckte er eine Treppe zu den oberen Räumen.

»Wo ist sie denn?«, fragte Grey scharf. »Kommt sie irgendwann zurück?«

»Oh, aye. Sie ist zum Priester gegangen, um mit ihm über das Begräbnis zu sprechen. Ich nehme an, Ihr wisst von ihrem Verlust?« Scanions Blick huschte von einem Offizier zum anderen und forschte nach ihren Absichten.

»Natürlich«, sagte Stubbs kurz angebunden. Er ärgerte sich über Mrs. O'Connells Abwesenheit. Er hatte kein Verlangen danach, ihren Ausflug zu verlängern. »Deswegen sind wir hier. Wird sie bald zurück sein?«

»Oh, das kann ich gar nicht sagen, Sir. Es könnte etwas dauern.« Der Mann trat ins Licht, das zur Tür hereinfiel. In den mittleren Jahren, sah Grey, mit silbernen Strähnen im ordentlich zusammengebundenen Haar, aber gut gebaut mit einem attraktiven, sauber rasierten Gesicht und dunklen Augen.

»Könnte ich Euch helfen, Sir? Wenn Ihr Beileidsgrüße für die Witwe habt, richte ich sie gerne aus.« Der Mann sah Stubbs unverhüllt und offen an - doch Grey sah den Hauch von Spekulation, der in seinem Blick lauerte.

»Nein«, kam er Stubbs' Antwort zuvor. »Wir warten in ihren Räumen auf sie.« Er wandte sich dem gestreiften Vorhang zu, doch die Hand des Apothekers ergriff seinen Arm und brachte ihn zum Stehen.

»Möchten die Herren nicht etwas trinken, um sich das Warten zu versüßen? Das ist das Mindeste, was ich Euch anbieten kann, zu Ehren des Verschiedenen.« Der Ire wies einladend auf die voll gestopften Regale hinter seinem Tresen, auf denen zwischen den Töpfchen und Gläsern des Apothekerhandwerks auch mehrere Flaschen Alkohol standen.

»Hm.« Stubbs rieb sich mit dem Handrücken über den Mund und richtete die Augen auf die Flaschen. »Es ist ein ziemlich langer Weg gewesen.«

So war es, und Grey nahm die Einladung ebenfalls an, wenn auch etwas widerstrebend, als er sah, wie Scanions lange Finger flink eine Ansammlung leerer Glasbehälter und Zinngefäße als Trinkgläser auswählte.

»Tim O'Connell«, sagte Scanion und hob seine Dose, deren Etikett die Zeichnung einer Frau trug, die auf einer Chaiselongue in Ohnmacht sank. »Der beste Soldat, der je ein Gewehr erhoben und einen Franzosen erschossen hat. Möge er in Frieden ruhen.«

»Tim O'Connell«, murmelten Grey und Stubbs wie aus einem Munde und hoben zustimmend ihre Gläser.

Grey drehte sich ein wenig, als er das Glasgefäß an seine Lippen hob, sodass das Licht der Tür die darin befindliche Flüssigkeit erleuchtete. Der Alkoholdunst wurde von einem kräftigen Geruch nach dem ehemaligen Glasinhalt - Anis? Kampfer? - überlagert, doch immerhin schwammen keine verdächtigen Krümel darin.

» Wisst Ihr, wo Sergeant O'Connell umgekommen ist?«, fragte Grey. Nach einem kleinen Schluck senkte er seinen provisorischen Becher und räusperte sich. Die Flüssigkeit schien reiner Kornschnaps zu sein, klar und geschmacklos, aber stark. Seine Mund- und Nasenhöhle fühlten sich an wie versengt.

Scanion schluckte, hustete und blinzelte. Seine Augen tränten - wahrscheinlich eher vom Alkohol als vor Trauer -, und dann schüttelte er den Kopf.

»Ich habe nur gehört, dass es irgendwo am Fluss gewesen ist. Der Konstabler, der uns die Nachricht überbracht hat, sagte aber, man hätte ihn furchtbar zusammengeschlagen. Vielleicht bei einer Wirtshausrauferei eins auf den Schädel bekommen und dann im Gedränge zertrampelt. Der Konstabler hat etwas vom Abdruck eines Absatzes auf seiner Stirn erwähnt, möge Gott mit dem armen Mann Erbarmen haben.«

»Keine Festnahmen?«, keuchte Stubbs, dessen Gesicht rot anlief, so sehr strengte er sich an, nicht zu husten.

»Nein, Sir. So wie ich es verstanden habe, hat man die Leiche am Puddle Dock halb im Wasser auf den Stufen gefunden. Wahrscheinlich hat ihn der Wirt selbst da hingezerrt, um wegen der Leiche auf seinem Grund und Boden keinen Ärger zu bekommen.«

»Wahrscheinlich«, wiederholte Grey. »Es weiß also niemand genau, wo oder wie er zu Tode gekommen ist?«

Der Apotheker schüttelte ernst den Kopf und ergriff die Flasche.

»Nein, Sir. Aber schließlich weiß keiner von uns, wo oder wann er sterben wird, nicht wahr? Unsere einzige Gewissheit ist, dass wir eines Tages diese Welt verlassen werden, und möge uns der Himmel gewähren, dass wir in der nächsten willkommen sind. Noch einen Tropfen, die Herren?«

Stubbs nahm dankend an, machte es sich auf dem Hocker bequem, der ihm angeboten wurde, und stützte einen Stiefel gegen den Tresen. Grey lehnte ab und schlenderte beiläufig durch die Apotheke. Den Becher in der Hand, inspizierte er das Angebot, während die beiden anderen in ein freundschaftliches Gespräch verfielen.

Die Apotheke schien ein Mordsgeschäft mit Potenzmitteln, Verhütungsmitteln und Arzneien gegen Gonorrhoe, Tripper und andere Risiken des Geschlechtsverkehrs zu machen. Grey schloss auf ein Bordell in der Nachbarschaft, und erneut bedrückte ihn der Gedanke an den Ehrenwerten Joseph Trevelyan, dessen Existenz zu vergessen ihm kurzfristig gelungen war.

»Die können auch mit Bändchen in Regimentsfarben geliefert werden!«, rief Scanion, als er ihn vor einer bunten Ansammlung von »Kondomen für den feinen Herrn« anhalten sah. Ein Muster jeder Sorte war auf einer Glasform ausgestellt, die Bänder zum Verschluss zierlich um den Fuß der Form geringelt. »Schafsdarm oder Ziege, wie Ihr es vorzieht, Sir - parfümiert drei Farthings zusätzlich. Für die Herren wäre das natürlich gratis«, fügte er weltgewandt hinzu und verbeugte sich, während er den Flaschenhals erneut über Stubbs' Becher neigte.

»Danke«, sagte Grey höflich. »Vielleicht später.« Er nahm kaum wahr, was er sagte, denn eine Reihe verkorkter Flaschen hatte seine Aufmerksamkeit erregt.

Quecksilbersulfid, stand auf mehreren Etiketten, Guiacum auf anderen. Der Inhalt der Flaschen schien sich im Aussehen zu unterscheiden, doch die Beschreibung war bei beiden Sorten gleich: Zur schnellen und wirksamen Behandlung bei

Gonorrhoe, Weichem Schanker, Syphilis und allen anderen Formen der Geschlechtskrankheit.

Eine Sekunde kng kam ihm der wilde Gedanke, Trevelyan zum Essen einzuladen und ihm eine dieser viel versprechenden

Substanzen unter das Essen zu mischen. Unglücklicherweise hatte er zu viel Erfahrung mit dieser Art von Medizin, um darauf zu vertrauen; Peter Tewkes, ein guter Freund, war im vergangenen Jahr gestorben, nachdem er sich im St. Bartholomew's Hospital nach mehreren fehlgeschlagenen Versuchen mit frei käuflichen Arzneien einer »Quecksilbersalivation« zur Syphilisbehandlung unterzogen hatte.

Grey hatte es zwar nicht persönlich mit angesehen, da er zu diesem Zeitpunkt im Exil in Schottland gewesen war, hatte es jedoch von gemeinsamen Freunden gehört, die Tewkes besucht hatten und nachdrücklich von der furchtbaren Wirkung des Quecksilbers berichtet hatten, ganz gleich, ob innerlich oder äußerlich angewandt.

Er konnte nicht zulassen, dass Olivia Trevelyan heiratete, wenn er tatsächlich krank war, doch er hatte auch keinerlei Bedürfnis, verhaftet zu werden, weil er versucht hatte, den Mann zu vergiften.

Stubbs, der von der geselligen Sorte war, ließ sich gerade in ein Gespräch über den Feldzug in Indien verwickeln; die Zeitungen hatten von Clives Sturm auf Kalkutta berichtet, und ganz London vibrierte vor Aufregung.

»Aye, ich hab doch selbst einen Vetter, der unter Clive dient«, sagte der Apotheker und richtete sich sichtlich stolz auf. »Einundachtzigstes Artillerieregiment, bessere Soldaten findet man auf Gottes grüner Erde nicht -«, grinste er und zeigte seine ebenmäßigen Zähne, »- mit Ausnahme der anwesenden Herrschaften natürlich.«

»Einundachtzigstes?«, sagte Stubbs und machte ein verwirrtes Gesicht. »Ich dachte, Ihr hättet gesagt, Euer Vetter sei im Dreiundsechzigsten.«

»Beides, werter Sir. Ich habe mehrere Vettern, und das Soldatenleben liegt bei uns in der Familie.«

Jetzt, wo er seine Aufmerksamkeit wieder auf den Apotheker gerichtet hatte, wurde Grey allmählich bewusst, dass irgendetwas mit dem Mann nicht stimmte. Er kam näher und betrachtete Scanion verstohlen über seinen Becherrand hinweg. Der Mann war nervös - warum? Seine Hände hatten nicht gezittert, als er den Alkohol eingeschenkt hatte, doch er hatte Falten der Anspannung um die Augen herum, und sein verkrampftes Kinn passte nicht zu seinem beiläufigen Redefluss. Der Tag war warm, doch in der Apotheke war es nicht warm genug, um den Schweißfilm auf den Schläfen des Apothekers zu erklären.

Grey schaute sich im Raum um, sah aber nichts Auffälliges. Verbarg Scanion illegale Handelsware? Sie befanden sich hier nicht weit von der Themse entfernt; das Puddle Dock, wo man O'Connells Leiche gefunden hatte, lag am Zusammenfluss von Themse und Fleet, und Schmuggelei war wahrscheinlich ein ganz normaler Erwerb für jeden Bootsbesitzer in der Nachbarschaft. Eine Apotheke gab einen besonders guten Umschlagplatz für Schmuggelware ab.

Doch wenn das der Fall war, warum alarmierte ihn die Gegenwart zweier Armeeoffiziere so? Die Schmuggelei war eine Angelegenheit des Londoner Magistrats oder Zolls, vielleicht der Schiffereibehörden, aber über ihren Köpfen erklang ein leises, aber deutliches Rumpeln.

»Was ist das?«, fragte er scharf und blickte nach oben.

»Oh - nichts, nur die Katze«, erwiderte der Apotheker sofort und machte eine abwinkende Handbewegung. »Abscheuliche Kreaturen, Katzen, aber da Mäuse noch abscheulichere Kreaturen sind.«

»Das war keine Katze.« Greys Augen waren immer noch zur Decke gerichtet, an deren Balken getrocknete Kräuterbündel hingen. Während er hinsah, erzitterte eines der Bündel kurz, dann das daneben; ein feiner, goldener Staub rieselte nieder, und der Lichtstrahl, der zur Tür hereinfiel, ließ die einzelnen Körnchen aufleuchten.

»Da oben läuft jemand herum.« Ohne den Protest des Apothekers zu beachten, schritt er auf den Leinenvorhang zu, schob ihn zur Seite und hatte die Treppe schon zur Hälfte erklettert, die Hand am Schwertknauf, bevor Stubbs sich so weit gesammelt hatte, dass er ihm folgen konnte.

Das Zimmer im ersten Stock war eng und schäbig, doch durch zwei Fenster schien die Sonne auf einen mitgenommenen Tisch nebst Stuhl - und auf eine noch stärker mitgenommene Frau, deren Mund vor Überraschung offen stand, als sie jetzt beim Absetzen eines Tellers mit Brot und Käse erstarrte.

»Mrs. O'Connell?« Sie wandte ihm den Kopf zu - und jetzt erstarrte Grey ebenfalls. Ihr offener Mund war geschwollen, die Lippen waren aufgeplatzt, und in ihrem Zahnfleisch klaffte ein dunkelrotes Loch, denn einer ihrer unteren Zähne war ausgeschlagen. Beide Augen waren bis auf Schlitze zugeschwollen, und sie blinzelte ihn durch eine Maske aus blaugelblichen Flecken an. Wie durch ein Wunder war ihre Nase nicht gebrochen; ihr schmaler Nasenrücken und die zierlichen Nasenlöcher lugten überraschend blass aus der Verwüstung hervor.

Sie hob eine Hand an ihr Gesicht und wandte sich vom Licht ab, als schäme sie sich ihrer Erscheinung.

»Ich. ja. Ich bin Francine O'Connell«, murmelte sie durch den Fächer ihrer Finger.

»Mrs. O'Connell!« Stubbs trat einen Schritt auf sie zu, dann blieb er stehen, unsicher, ob er sie berühren sollte. »Wer - wer hat Euch das angetan?«

»Ihr Mann. Möge seine Seele in der Hölle schmoren.« Die Bemerkung erklang im Konversationston in ihrem Rücken. Als Grey sich umdrehte, sah er den Apotheker ins Zimmer treten. An der Oberfläche war sein Verhalten immer noch beiläufig, doch seine ganze Aufmerksamkeit war auf die Frau konzentriert.

»Ihr Mann, ja?« Stubbs, der bei all seiner Geselligkeit kein Dummkopf war, griff nach den Händen des Apothekers und drehte dessen Fingerknöchel zum Licht. Der Mann ließ diese Inspektion in aller Ruhe über sich ergehen, dann entzog er Stubbs seine unverletzten Hände. Als sei ihm damit eine Erlaubnis erteilt worden, durchquerte er das Zimmer und stellte sich neben die Frau. Er strahlte unterdrückten Trotz aus.

»Es ist die Wahrheit«, sagte er, äußerlich nach wie vor ruhig. »Tim O'Connell war ein guter Mann, solange er nüchtern war, aber wenn er getrunken hatte. ein Ungeheuer in Menschengestalt, nicht weniger.« Er schüttelte den Kopf, die Lippen aufeinander gepresst.

Grey wechselte einen Blick mit Stubbs. Es stimmte; sie konnten sich beide noch gut daran erinnern, wie sie O'Connell einmal am Ende eines freien, durchzechten Abends in Richmond aus dem Gefängnis geholt hatten. Der Konstabler und der Kerkermeister trugen beide die Spuren der Festnahme, wenn auch keiner von ihnen so übel ausgesehen hatte wie O'Connells Frau.

»Und in welcher Beziehung steht Ihr zu Mrs. O'Connell, wenn ich fragen darf?«, erkundigte sich Grey höflich. Es war kaum notwendig zu fragen; er konnte sehen, wie sich der Körper der Frau dem Apotheker zuneigte wie eine Kletterranke, die ihres Spaliers beraubt ist.

»Ich bin natürlich ihr Vermieter«, erwiderte der Mann neutral und legte Mrs. O'Connell die Hand auf den Ellbogen. »Und ein Freund der Familie.«

»Ein Freund der Familie«, wiederholte Stubbs. »Ah ja.« Seine weit geöffneten blauen Augen wanderten tiefer und verweilten gezielt auf der Taille der Frau, unter deren Schürze sich die Wölbung einer fünf oder sechs Monate alten Schwangerschaft zeigte. Das Regiment - und Sergeant O'Connell - waren gerade einmal vor sechs Wochen nach London zurückgekehrt.

Stubbs warf Grey einen Blick zu, in dem eine Frage lag. Grey zog sacht eine Schulter hoch, dann nickte er kaum merklich. Wer auch immer Sergeant O'Connell auf dem Gewissen hatte, es war eindeutig nicht seine Frau - und sie hatten sowieso kein Recht, ihr das Geld vorzuenthalten.

Stubbs grollte leise, griff jedoch in seinen Rock und zog eine Geldbörse hervor, die er auf den Tisch warf.

»Ein kleines Zeichen der Erinnerung und Wertschätzung«, sagte er, ohne die Feindseligkeit in seiner Stimme zu unterdrücken. »Von den Kameraden Eures Mannes.«

»Geld für ein Leichentuch, wie? Ich will es nicht.« Die Frau lehnte sich nicht länger an Scanion, sondern richtete sich auf. Unter ihren Verletzungen war sie bleich, doch ihre Stimme war kräftig. »Nehmt es wieder mit. Ich begrab' meinen Mann selbst.«

»Seltsam«, sagte Grey höflich. »Warum sollte die Frau eines Soldaten die Hilfe seiner Kameraden zurückweisen? Ob es ihr Gewissen ist?«

Bei diesen Worten verfinsterte sich das Gesicht des Apothekers, und die Hände an seinen Seiten ballten sich zu Fäusten.

»Was meint Ihr damit?«, fragte er herausfordernd. »Dass sie ihn umgebracht hat und sie Euer Geld aus Schuldgefühl abweist? Zeig ihnen deine Hände, Francine!«

Er ergriff die Hände der Frau und riss sie hoch, sodass sie gut zu sehen waren. Der kleine Finger der einen Hand war mit einem Holzspan geschient; ansonsten trugen ihre Hände keine Spuren außer den Narben abgeheilter Verbrennungen und den rauen Fingerknöcheln täglicher Arbeit - die Hände einer Hausfrau, die zu arm war, um eine Hilfe zu bezahlen.

»Ich gehe nicht davon aus, dass Mrs. O'Connell ihren Mann selbst zu Tode geprügelt hat, nein«, erwiderte Grey unverändert höflich. »Aber sie muss ja nicht ihrer eigenen Taten wegen ein schlechtes Gewissen haben, oder? Es könnte ja auch Taten gelten, die in ihrem Interesse geschehen sind - oder auf ihren Wunsch.«

»Kein schlechtes Gewissen.« Die Frau entriss Scanion abrupt ihre Hände und stand auf. Ihr verwüstetes Gesicht zitterte. Die Gefühle wechselten wie Meeresströmungen unter ihrer fleckigen Gesichtshaut, als sie nun von einem Mann zum anderen blickte.

»Ich werde Euch sagen, warum ich Euer Geschenk zurückweise, meine Herren. Der Grund ist nicht mein Gewissen, sondern mein Stolz.« Ihre Schlitzaugen ruhten auf Grey, hart und leuchtend wie Diamanten. »Oder meint Ihr, eine arme Frau wie ich hat keinen Anspruch auf ihren Stolz?«

»Stolz auf was?«, wollte Stubbs wissen. Er warf erneut einen viel sagenden Blick auf ihren Bauch. »Ehebruch?«

Zu Stubbs' peinlich berührter Überraschung lachte sie.

»Ehebruch, was? Nun, wenn es das ist, dann habe ich nicht damit angefangen. Tim O'Connell hat mich voriges Jahr im Frühling sitzen gelassen; hat was mit 'ner Bordellschlampe angefangen und sein ganzes Geld ausgegeben, um ihr Flitterkram zu kaufen. Vor zwei Tagen, als er hierher gekommen ist, habe ich ihn zum ersten Mal seit sechs Monaten gesehen. Hätte Mr. Scanion mir nicht Arbeit und ein Dach überm Kopf angeboten, wäre ich mit Sicherheit zu der Hure geworden, für die Ihr mich haltet.«

»Besser Hure für einen Mann als für viele, nehme ich an«, murmelte Grey und legte Stubbs die Hand auf den Arm, um weitere unbeherrschte Bemerkungen zu unterbinden.

»Dennoch, Madam«, fuhr er etwas lauter fort, »verstehe ich nicht ganz, was Ihr dagegen habt, ein Geschenk von den Kameraden Eures Mannes anzunehmen, um Euch bei der Beerdigung behilflich zu sein - wenn sein Tod Euch tatsächlich keine Schuldgefühle verursacht.«

Die Frau richtete sich auf und verschränkte die Arme unter ihrer Brust.

»Werde ich die Börse da annehmen und sie benutzen, um schöne Worte über seiner stinkenden Leiche sprechen zu lassen? Oder schlimmer noch, Kerzen anzünden und Messen für eine Seele sprechen zu lassen, die jetzt im Schlund der Hölle brennt, wenn der Herr Gerechtigkeit kennt? Nein, Sir, das werde ich nicht!«

Grey betrachtete sie mit Interesse - und einem gewissen Maß an Bewunderung -, dann richtete er den Blick auf den Apotheker, um zu sehen, wie er diese Rede aufnahm. Scanion war einen Schritt zurückgetreten; seine Augen waren auf das verletzte Gesicht der Frau geheftet, seine Stirn hatte sich leicht gerunzelt.

Grey schob sich die silberne Halsberge zurecht, dann beugte er sich vor, nahm die Börse vom Tisch und ließ sie auf seiner Handfläche klimpern.

»Wie Ihr wünscht, Madam. Möchtet Ihr dann auch die Pension ablehnen, die Euch als Witwe eines Sergeanten zusteht?« Eine solche Pension war ohnehin gering, doch in Anbetracht der Lage, in der sich die Frau befand.

Einen Moment stand sie unentschlossen da, dann hob sich ihr Kopf wieder.

»Die nehme ich an«, sagte sie und schenkte ihm einen glitzernden Blick aus ihrem zugeschwollenen Auge. »Ich habe sie mir verdient.«

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