4. Ein Hausdiener kommt

Am nächsten Morgen saß Grey unrasiert in Nachthemd und Pantoffeln in seinem Schlafzimmer und trank Tee, während er mit sich selbst debattierte, ob der durch das Tragen seiner Uniform erreichte Autoritätsgewinn die möglichen Konsequenzen - sowohl für seine eigene Person als auch für seinen Schneider - überwog, wenn er sich so in die Slums von London begab, um eine drei Tage alte Leiche zu inspizieren. Er wurde bei diesen Überlegungen durch seinen neuen Leibdiener, den Privatgefreiten Adams, unterbrochen, der die Schlafzimmertür öffnete und ohne Umschweife eintrat.

»Eine Person, Mylord«, berichtete Adams und nahm militärische Haltung an.

Grey, der früh am Morgen niemals in bester Verfassung war, trank mürrisch einen Schluck Tee und nahm diese Ankündigung mit einem Kopfnicken entgegen. Adams, der erst seit kurzem als Hausdiener arbeitete und neu bei Grey war, fasste dies als Erlaubnis auf und trat beiseite, um die wartende Gestalt mit einer Geste hereinzubitten.

»Wer seid Ihr denn?« Grey sah den jungen Mann, der nun zum Vorschein kam, mit verständnislosem Erstaunen an.

»Tom Byrd, Mylord«, sagte der junge Mann und verbeugte sich respektvoll, den Hut in der Hand. Er war gedrungen und kräftig, hatte einen Kopf wie eine Kanonenkugel und war so jung, dass er noch Sommersprossen auf den blassen Wangen und auf seiner Stupsnase hatte. Trotz seiner Jugend strahlte er allerdings bemerkenswerte Entschlossenheit aus.

»Byrd. Byrd. Oh, Byrd!« Lord Johns träge Gehirnwindungen setzten sich langsam in Bewegung. Tom Byrd. Wahrscheinlich war dieser junge Mann ja mit dem verschwundenen Jack Byrd verwandt. »Warum seid Ihr - oh. Schickt Euch vielleicht Mr. Trevelyan?«

»Ja, Mylord. Oberst Quarry hat ihm gestern Abend eine Note geschickt und ihm geschrieben, man hätte Euch damit betraut, Euch um. ähhem.« Er räusperte sich übertrieben mit einem Blick auf Adams, der zum Rasierpinsel gegriffen hatte und angestrengt damit in der Seifenschale rührte, um reichlich Rasierschaum zu produzieren. »Mr. Trevelyan hat gesagt, ich solle Euch aufsuchen und Euch zur Hand gehen, wobei auch immer Eure Lordschaft Hilfe braucht.«

»Was? Verstehe; wie freundlich von ihm.« Byrds würdevolles Benehmen amüsierte Grey, doch seine Diskretion sprach für ihn. »Welchen Dienst verseht Ihr denn normalerweise in Mr. Trevelyans Haushalt, Tom?«

»Ich bin Hausdiener, Sir.« Byrd richtete sich so gerade auf, wie er konnte, und hob das Kinn, um noch ein oder zwei Zentimeter hinzuzufügen; Dienstboten wurden normalerweise ebenso sehr nach ihrem Aussehen wie nach ihren Fähigkeiten ausgesucht und waren meistens hoch gewachsen und gut gebaut. Byrd entsprach nicht gerade der Norm, aber die fehlende Körperlänge machte er durch seinen Eifer wett.

Grey rieb sich die Oberlippe, dann stellte er seine Teetasse beiseite und warf einen Blick auf Adams, der die Seifenschale hingestellt hatte und jetzt in der einen Hand das Rasiermesser hielt, in der anderen den Streichriemen, anscheinend unsicher, wie er beides am besten wirksam zur Anwendung brachte. »Sagt mir, Byrd, habt Ihr irgendwelche Erfahrung als Leibdiener?«

»Nein, Mylord - aber ich kann jemanden rasieren.« Tom Byrd vermied es mit Bedacht, Adams anzusehen, der den Streichriemen weggelegt hatte und jetzt mit gerunzelter Stirn am

Rand seiner Schuhsohle ausprobierte, wie scharf die Klinge war.

»Aha?«

»Ja, Mylord. Mein Vater ist Barbier, und wir Jungs mussten den abgebrühten Schweinen, die er kaufte, die Borsten abrasieren, aus denen er Pinsel gemacht hat. Zum Üben.«

»Hmmm.« Grey betrachtete sich im Spiegel über der Kommode. Sein Bart war nur ein oder zwei Töne dunkler als sein blondes Haar, aber er wuchs kräftig, und die dichten Stoppeln glänzten wie Weizenstroh im Morgenlicht. Nein, er konnte wirklich nicht auf seine Rasur verzichten.

»Nun gut«, sagte er resigniert. »Adams - gebt Tom das Rasiermesser, bitte. Dann bürstet meine älteste Uniform ab und sagt dem Kutscher, dass ich ihn brauche. Mr. Byrd und ich werden uns eine Leiche anschauen.«

Eine Nacht im Wasser des Puddle Docks und zwei Tage in einem Schuppen hinter dem Gefängnis von Clapham hatten Timothy O'Connells Erscheinung, die sowieso nie seine besondere Stärke gewesen war, auch nicht weiter gut getan. Immerhin konnte man ihn aber noch erkennen, was man von dem Gentleman, der an der Wand auf einem Stück Leinen lag, nicht behaupten konnte. Anscheinend hatte er sich erhängt.

»Bitte dreht ihn auf den Bauch«, sagte Grey knapp durch sein Taschentuch, das er mit Wintergrünöl getränkt hatte und sich vor die untere Gesichtshälfte hielt.

Die beiden Häftlinge, die dazu abgestellt worden waren, ihn in diese provisorische Leichenhalle zu begleiten, machten aufmüpfige Gesichter - sie waren bereits gezwungen worden, O'Connell aus seinem billigen Sarg zu holen und sein Leichentuch zu entfernen, damit Grey ihn untersuchen konnte -, doch auf ein schroffes Wort des befehlshabenden Konstablers setzten sie sich widerwillig in Bewegung.

Immerhin war er grob gewaschen worden. Die Spuren seiner letzten Schlacht waren deutlich zu sehen, obwohl die Leiche

aufgedunsen und ihre Haut stark verfärbt war.

Das Taschentuch fest an sein Gesicht gepresst, beugte sich Grey dichter darüber, um die Prellungen zu begutachten, die den Rücken bedeckten. Er winkte Tom Byrd, der sich dicht an die Wand des Schuppens gedrückt hielt. Seine Sommersprossen zeichneten sich dunkel auf seinem blassen Gesicht ab.

»Seht Ihr das?« Grey deutete auf die schwarzen Flecken auf dem Rücken und den Gesäßbacken der Leiche. »Ich glaube, dass man auf ihn eingetreten hat und auf ihm herumgetrampelt ist.«

»Ja, Sir?«, sagte Byrd schwach.

»Ja. Ihr seht doch, dass die Haut im ganzen Dorsalbereich verfärbt ist.«

Byrd warf ihm einen Blick zu, der besagte, dass er nicht das Geringste sah, einschließlich eines Grundes für seine eigene Existenz.

»Sein Rücken«, verbesserte sich Grey. »Dorsum ist das lateinische Wort für Rücken.«

»Oh, aye«, sagte Byrd, der jetzt begriff. »Das sehe ich ganz deutlich, Mylord.«

»Es bedeutet, dass er nach seinem Tod einige Zeit auf dem Rücken gelegen hat. Ich habe schon öfter gesehen, wie Männer zur Beerdigung von einem Schlachtfeld geholt worden sind; die Teile des Körpers, die unten gelegen haben, sind fast immer so verfärbt.«

Byrd, der aussah, als sei ihm etwas übel, nickte.

»Aber Ihr habt ihn mit dem Gesicht nach unten im Wasser gefunden, ist das richtig?«, wandte sich Grey an den Konstabler.

»Ja, Mylord.«

»Er hatte keine schwere Verletzung an der Vorderseite seines Körpers, die seinen Tod verursacht haben könnte, und ich sehe auch hier keine solche Verletzung - Ihr, Byrd? Nicht erstochen, nicht erschossen, nicht mit einer Garotte erwürgt.«

Byrd schwankte leicht, fing sich jedoch, und man konnte hören, wie er etwas murmelte, das wie ». Kopf vielleicht?« klang.

»Vielleicht. Hier, haltet das.« Grey drückte Byrd das Taschentuch in die feuchte Hand, dann hielt er den Atem an und begann, vorsichtig in O'Connells Haar herumzutasten. Er stellte mit Interesse fest, dass jemand, der darin nicht viel Übung besaß, versucht hatte, das Haar der Leiche zu einem anständigen Soldatenzopf zu flechten, der um ein Polster aus Schafwolle gewickelt und mit einem Lederriemen zusammengebunden war. Doch wer es auch immer getan hatte, hatte keinen Reispuder gehabt, um das Werk zu vollenden. Jemand, dem an dem Toten lag, hatte die Leiche zurechtgemacht - nicht Mrs. O'Connell, dachte er, aber irgendjemand.

Die Kopfhaut hatte ihre Spannung verloren und verschob sich unangenehm unter seinen tastenden Fingern. Der Kopf hatte diverse Beulen, die wahrscheinlich von Tritten oder Hieben stammten. ja, da. Und da. An zwei Stellen gab der Schädelknochen nach innen nach, sodass ihm übel wurde. Hervortretende Flüssigkeit befeuchtete Greys Fingerspitzen.

Byrd machte ein leises Würgegeräusch, als Grey seine Hand zurückzog, und stürzte ins Freie, das Taschentuch immer noch vor sein Gesicht gepresst.

»Hatte er seine Uniform an, als man ihn gefunden hat?«, fragte Grey den Konstabler. Seines Taschentuchs beraubt, wischte er sich die Finger gründlich am Leichentuch ab und wies die beiden Häftlinge kopfnickend an, die Leiche wieder in ihre ursprüngliche Lage zu drehen.

»Nein, Sir.« Der Konstabler schüttelte den Kopf. »Bis aufs Hemd ausgezogen. Aber wir haben an seinen Haaren erkannt, dass er einer von uns war, und mit etwas Nachfragen haben wir jemanden gefunden, der seinen Namen und sein Regiment kannte.«

Bei diesen Worten spitzte Grey die Ohren.

»Soll das heißen, dass er in der Gegend, in der man ihn gefunden hat, bekannt war?«

Der Konstabler runzelte die Stirn.

»Ich nehm's an«, sagte er und rieb sich das Kinn, als könnte er so besser denken. »Lasst mich nachdenken. Ja, Sir, ich bin mir sicher, dass es so war. Als wir ihn aus dem Wasser gezogen haben und ich gesehen habe, dass er Soldat war, bin ich ins >Oak & Oyster< gegangen, um dort Erkundigungen einzuholen - das ist das nächste Wirtshaus, in das viele Soldaten gehen. Habe ein paar von den Gästen mitgenommen, damit sie einen Blick auf ihn werfen konnten; soweit ich mich erinnere, war es die Kellnerin aus dem >Oyster<, die ihn erkannt hat.«

Die Leiche war umgedreht worden, und einer der Häftlinge, der die Lippen fest gegen den Geruch zusammengepresst hatte, zog gerade das Leichentuch wieder hoch, als Grey ihn mit einer Handbewegung aufhielt. Er beugte sich stirnrunzelnd über den Sarg und zeichnete die Markierung auf O'Connells Stirn nach. Es war tatsächlich der Abdruck eines Absatzes, der sich deutlich auf der hellen Haut abzeichnete. Er konnte die Nagelköpfe zählen.

Er nickte vor sich hin und richtete sich auf. Die Leiche war fortbewegt worden, das stand fest. Aber von wo? Wenn der Sergeant bei einer Prügelei umgekommen war, wie es der Fall zu sein schien, war ein solches Vorkommnis vielleicht zur Anzeige gebracht worden.

»Könnte ich ein Wort mit Eurem Vorgesetzten sprechen, Sir?«

»Das ist Konstabler Magruder, Sir - im Zimmer vorne links. Seid Ihr mit der Leiche fertig, Sir?« Er wies die beiden verdrossenen Sträflinge bereits mit Gesten an, O'Connell wieder zu verhüllen und den Sargdeckel festzunageln.

»Oh. ja. Ich glaube schon.« Grey hielt inne und überlegte.

War einem Waffenkameraden gegenüber vielleicht eine Art zeremonieller Abschiedsgeste angebracht? Doch O'Connells ausdrucksloses, geschwollenes Gesicht hatte nichts an sich, was zu einer solchen Geste eingeladen hätte, und den Konstabler kümmerte es mit Sicherheit nicht. Schließlich nickte er der Leiche kaum merklich zu, gab dem Konstabler einen Shilling für seine Mühen und ging.

Konstabler Magruder war ein kleiner, gerissen aussehender Mann, dessen schmale Augen unablässig von der Tür zu seinem Schreibtisch und wieder zurückhuschten, damit ihm auch ja nichts entging. Grey emp fand dies als ermutigend, weil es Anlass zu der Hoffnung gab, dass dem Konstabler und seinen Mannen tatsächlich kaum etwas entging.

Der Konstabler kannte den Grund für sein Kommen; Grey sah den Argwohn, der im Hintergrund seiner Schlitzaugen lauerte -und seinen raschen Blick in Richtung des Magistratsbüros nebenan. Es war offensichtlich, dass er Angst hatte, Grey könnte den Magistrat, Sir John Fielding, aufsuchen, was beträchtlichen Ärger nach sich ziehen konnte.

Grey kannte Sir John nicht persönlich, war sich jedoch einigermaßen sicher, dass seine Mutter ihn kannte. Allerdings gab es bis jetzt keinen Grund, ihn in die Sache hineinzuziehen. Da er begriff, was Magruder dachte, gab sich Grey alle Mühe, entspannte Freundlichkeit und ergebene Dankbarkeit für die anhaltende Unterstützung des Konstablers zu demonstrieren.

»Ich danke Euch, Sir, für den reibungslosen Ablauf. Ich zögere etwas, Eure Großzügigkeit noch weiter in Anspruch zu nehmen - aber wenn ich Euch ein oder zwei Fragen stellen könnte?«

»Oh, aye, Sir.« Der Ausdruck des Argwohns wich nicht aus Magruders Gesicht, doch er entspannte sich ein wenig, offenbar erleichtert, dass man ihn wohl nicht darum bitten würde, zeitaufwändige und wahrscheinlich fruchtlose Ermittlungen anzustellen.

»Wie ich höre, ist Sergeant O'Connell wahrscheinlich Samstagabend umgebracht worden. Ist Euch bekannt, ob es an diesem Abend in der Gegend irgendwelche Raufereien gegeben hat?«

Magruders Gesicht zuckte.

»Raufereien, Sir? Das ganze Viertel ist nach Anbruch der Dunkelheit eine einzige Rauferei. Raubüberfälle, Taschendiebstahl, Prügeleien und Straßenkämpfe, Unstimmigkeiten zwischen Huren und ihren Kunden, Einbrüche, Diebstahl, Kneipenstreitereien, grober Unfug, Brandstiftung, Pferdediebstahl, Vandalismus, wahllose Angriffe auf Unschuldige.«

»Ja, ich verstehe. Aber wir sind uns doch hinreichend sicher, dass niemand Sergeant O'Connell in Brand gesteckt oder ihn mit einer Bordsteinschwalbe verwechselt hat.« Grey lächelte, um jeden Verdacht auf Sarkasmus von sich zu weisen. »Ich versuc he nur, die Möglichkeiten einzugrenzen, versteht Ihr, Sir?« Er breitete entschuldigend die Hände aus. »Nur meine Pflicht, nicht wahr?«

»Oh, aye.« Magruder war nicht ohne Humor; ein schwaches Glänzen ließ jetzt seine schmalen Augen aufleuchten und die schroffen Linien seines Gesichts weicher wirken. Er blickte von den Papieren auf seinem Schreibtisch zum Flur, in dem Rufe und Gerumpel aus dem Gefängnis im hinteren Gebäudeteil widerhallten, dann wieder zu Grey.

»Ich muss mit dem Nachtkonstabler sprechen und die Protokolle durchsehen. Wenn ich etwas finde, das Euch bei Euren Ermittlungen nützen könnte, Major, schicke ich Euch eine Notiz, ja?«

»Ich wäre Euch sehr dankbar, Sir.« Grey erhob sich prompt, und die beiden Männer verabschiedeten sich unter

Versicherungen gegenseitiger Wertschätzung.

Tom Byrd saß draußen auf dem Bordstein. Er war zwar noch blass, doch es ging ihm besser. Auf Greys Geste hin sprang er auf und setzte sich hinter ihm in Bewegung.

Würde Magruder irgendetwas Hilfreiches zutage fördern?, fragte sich Grey. Es gab so viele Möglichkeiten. Raubüberfall, hatte Magruder gemeint. Vielleicht. aber angesichts dessen, was er über O'Connells reizbares Temperament wusste, neigte er nicht zu der Annahme, dass eine Räuberbande ihn zufällig ausgewählt hätte - es gab wirklich Hühner, die einfacher zu rupfen waren.

Doch was, wenn es O'Connell gelungen war, seinen Auftraggeber zu treffen - falls es einen solchen gab, ermahnte sich Grey zur Ordnung - und er seine Dokumente übergeben und eine Geldsumme erhalten hatte?

Er zog die Möglichkeit in Betracht, dass der Auftraggeber O'Connell dann ermordet hatte, um sich sein Geld zurückzuholen oder einen Risikofaktor auszuschalten doch warum hatte er O'Connell dann nicht gleich umgebracht und die Dokumente an sich genommen? Nun. wenn O'Connell so klug gewesen war, die Dokumente nicht bei sich zu tragen und sein Auftraggeber das wusste, hatte er wohl darauf geachtet, zuerst die Waren in die Hände zu bekommen, bevor er weitere Schritte zur Beseitigung des Überbringers unternahm.

Doch es war genauso gut möglich, dass jemand anders entdeckt hatte, dass sich O'Connell im Besitz einer Geldsumme befand und ihn im Verlauf eines Raubüberfalls umgebracht hatte, der nichts mit den gestohlenen Unterlagen zu tun hatte. Doch das Ausmaß der Verletzungen, die man ihm beigebracht hatte, deutete darauf hin, dass der Täter, wer er auch immer war, hatte sicher gehen wollen, dass O'Connell tot war. Zufällige Räuber hätte das nicht interessiert; sie hätten O'Connell eins über den Schädel gebrummt und sich davongemacht, ohne sich

im Geringsten darum zu kümmern, ob er lebte oder starb.

Ein Spion wäre wahrscheinlich sichergegangen. Und doch -hätte sich ein solcher Auftraggeber auf die Dienste von Komplizen verlassen? Denn O'Connell hatte sich eindeutig mehr als einem Angreifer gegenüber gesehen und dem Zustand seiner Hände nach hatte auch er seine Spuren bei ihnen hinterlassen.

»Was meint Ihr, Tom?«, sagte er, mehr um seine eigenen Gedanken zu ordnen als um Byrds Meinung zu hören. »Wenn es auf Geheimhaltung angekommen wäre, wäre es dann nicht vernünftiger gewesen, eine Waffe zu benutzen? Einen Mann zu Tode zu prügeln ist mit Sicherheit eine laute Angelegenheit, die eine Menge unerwünschter Aufmerksamkeit erregt, meint Ihr nicht auch?«

»Ja, Mylord. Ich nehme es an. Obwohl, was das angeht.«

»Ja?« Er sah sich nach Byrd um, der seine Schritte ein wenig beschleunigte, um zu Grey aufzuschließen.

»Nun ja, es ist nur - ich hab' natürlich noch nie gesehen, wie ein Mann zu Tode geprügelt wurde. Aber wenn man ein Schwein schlachtet, gibt es nur dann furchtbares Gekreische, wenn man es falsch macht.«

»Falsch macht?«

»Ja, Mylord. Wenn man es richtig macht, braucht man nur einen gezielten Schlag. Das Schwein merkt gar nicht, was es getroffen hat, und es gibt kaum Lärm. Aber wenn es ein Mann macht, der nicht weiß, was er tut, oder nicht genug Kraft hat -« Byrd verzog das Gesicht bei dem Gedanken an derartige Inkompetenz. »Genug Lärm, um die Toten zu erwecken. Gegenüber dem Geschäft meines Vaters ist eine Metzgerei«, erklärte er. »Ich habe schon oft gesehen, wie Schweine geschlachtet werden.«

»Das ist ein sehr gutes Argument, Tom«, sagte Grey langsam. Wenn es um Raub oder Mord gegangen wäre, hätte man es mit sehr viel weniger Theater vollbringen können. Also war das, was Tim O'Connell zugestoßen war, wahrscheinlich ein Unfall. und doch war die Leiche einige Zeit nach dem Tod transportiert worden. Warum?

Seine Überlegungen wurden durch die Geräusche eines heftigen Wortwechsels in der Gasse unterbrochen, die zur Rückseite des Gefängnisses führte.

»Was machst du denn hier, du irische Hure?«

»Ich habe das Recht, hier zu sein - im Gegensatz zu dir, du schäbige Diebin!«

»Hexe!«

»Miststück!«

Als er den Streitgeräuschen in die Gasse hinein folgte, sah Grey Timothy O'Connells versiegelten Sarg auf dem Boden liegen, umringt von Menschen. Inmitten der Menge stand Mrs. O'Connells schwangere Gestalt in Kampfhaltung einer anderen, ihm unbekannten Frau gegenüber.

Die Damen waren nicht allein, wie er sah; der Apotheker Scanion versuchte vergeblich, Mrs. O'Connell zu bewegen, von ihrer Gegnerin abzulassen. Dabei stand ihm ein hoch gewachsener, grobknochiger Ire zur Seite. Die zweite Dame hatte ebenfalls Verstärkung dabei, und zwar in Person eines kleinen, fetten Klerikers, der einen steifen Kragen und einen roten Rock trug und den dieser Austausch von Freundlichkeiten eher zu amüsieren als zu bestürzen schien. Hinter beiden Frauen war die Gasse mit einer Reihe weiterer Leute bevölkert; wahrscheinlich Trauergäste, die bei Sergeant O'Connells Beerdigung helfen wollten.

»Nimm deine verdorbenen Freunde mit und mach dich davon! Er war mein Ehemann, nicht deiner!«

»Oh, und was für eine wunderbare Frau du ihm gewesen bist! Hast dich nicht einmal genug um ihn gesorgt, um ihm den Dreck aus dem Gesicht zu waschen, als sie ihn aus dem Graben gezogen haben! Ich war's, die ihn anständig zurechtgemacht hat, und ich werd ihn auch begraben, dankeschön! Ehefrau! Ha!«

Tom Byrd stand mit offenem Mund unter dem Dachvorsprung des Schuppens und beobachtete das Geschehen. Er blickte mit großen Augen zu Grey auf.

»Und ich war's, die für seinen Sarg bezahlt hat - meinst du, den lasse ich dich mitnehmen? Am Ende gibst du die Leiche noch zum Abdecker und verkaufst die Kiste, du gieriges Stück! Nimmt einer Frau den Mann weg, damit sie ihm das Mark aus den Knochen saugen kann -«

»Halt die Klappe!«

»Selber!«, bellte die Witwe O'Connell und holte zu einem wilden Schlag nach der anderen Frau aus, die geschickt auswich. Grey, der plötzliche Bewegung unter den Trauernden auf beiden Seiten sah, schob sich zwischen die beiden Frauen.

»Madam«, begann er und ergriff Mrs. O'Connell entschlossen am Arm. »Ihr dürft -« Seine Ermahnung wurde durch einen raschen Ellbogenhieb in seine Magengrube unterbrochen, der ihn völlig unvorbereitet traf. Er stolperte einen Schritt rückwärts und trat versehentlich auf den Zeh ihres Begleiters, der auf einem Bein hin und her hüpfte und dabei kurze Flüche in einer Sprache ausstieß, von der Grey vermutete, dass es Irisch war, da es keine Form des Französischen war.

Diese gingen jedoch rapide in den Gotteslästerungen unter, die sich die beiden Damen - wenn das denn der richtige Begriff war, dachte Grey grimmig - in einer zusammenhanglosen Salve von Beleidigungen an den Kopf warfen.

Das Pistolenschussgeräusch einer Ohrfeige erscholl, und dann explodierte die Gasse in schrillem Kreischen, als die beiden Frauen mit Krallenfingern und Fußtritten übereinander herfielen. Grey griff nach dem Ärmel der anderen Frau, der ihm jedoch entrissen wurde, und er wurde heftig gegen eine Mauer gestoßen. Jemand stellte ihm ein Bein, und er stürzte. Er schleuderte gegen die Wand des Schuppens und prallte wieder von ihr ab, bevor er sich aufrappeln konnte.

Grey gewann stolpernd das Gleichgewicht zurück und landete auf den Fußballen. Er zog sein Schwert in einem großen Bogen, der das Metall singen ließ. Der helle Klang durchschnitt das Lärmen in der Gasse wie ein Messer, das durch Butter fährt, trennte die Kampfhähne und ließ die Frauen stolpernd auseinander fahren. In dem Augenblick der Stille, der nun folgte, trat Grey bestimmt zwischen die Frauen und funkelte sie abwechselnd an.

Als er sicher war, dass er die Schlacht zumindest vorübergehend aufgehalten hatte, wandte er sich an die unbekannte Frau. Sie war eine stabil gebaute Person mit schwarzen Locken, die extrem streitlustig wirkte.

»Darf ich mich nach Eurem Namen erkundigen, Madam? Und danach, was Ihr hier wollt?«

»Sie ist eine Schlampe, wie sie im Buche steht, was sonst?« Mrs. O'Connells Stimme erklang hinter ihm, brüchig vor Verachtung, aber kontrolliert. Er schnitt die wütende Antwort der anderen Frau mit einer gebieterischen Bewegung seines Schwertes ab und blickte gereizt hinter sich.

»Ich habe die Dame selbst gefragt - wenn Ihr gestattet, Mrs. O'Connell.«

»Mrs. Scanion - wenn Ihr gestattet, Mylord.« Die Stimme des Apothekers war mehr als höflich, hatte aber einen Unterton, der beinahe selbstzufrieden klang.

»Verzeihung?« Überrascht drehte er sich vollständig um, sodass er Scanion und der Witwe gegenüberstand. Die andere Frau war offensichtlich genauso schockiert, denn außer einem lauten »Was?« sagte sie nichts.

Scanion hielt Francine O'Connell am Arm; er ergriff sie etwas fester und verbeugte sich vor Grey.

»Ich habe die Ehre, Euch meine Frau vorzustellen, Sir«, sagte er würdevoll. »Sind gestern Abend getraut worden, per Ausnahmeerlaubnis, und Vater Doyle hat uns persönlich die Ehre erwiesen.« Er nickte dem Iren an seiner Seite zu, der das Nicken erwiderte, dabei jedoch Greys Schwertspitze argwöhnisch im Auge behielt.

»Du konntest wohl nicht einmal warten, bis der arme alte Tim kalt war, was? Wer ist denn hier die Schlampe, du mit deinem Bauch kurz vorm Platzen!«

»Ich bin eine verheiratete Frau - zweimal verheiratet! Und du, ohne Namen und ohne Anstand -«

»Ach, Francie, Francie -« Scanion legte die Arme um seine aufgebrachte Frau und hielt sie mit aller Kraft zurück. »Lass doch, Liebste, lass doch. Du willst doch nicht, dass dem Kleinen etwas zustößt, oder?«

Auf diese Weise an ihren empfindlichen Zustand erinnert, gab Francine nach, obwohl sie sich weiter aufplusterte und dabei stark an einen Bullen erinnerte, der einen Haufen Eindringlinge von einer Wiese vertrieben hat und sicher gehen will, dass sie auch vertrieben bleiben.

Grey wandte sich wieder der anderen Frau zu, just als diese erneut den Mund öffnete. Er hielt ihr die Schwertspitze mitten vor die Brust und verkürzte ihre Argumentation zu einem knappen, erschrockenen »Iiek!«

»Wer zum Teufel seid Ihr?«, fragte er entschlossen, denn seine Geduld war jetzt erschöpft.

»Iphigenia Stokes«, erwiderte sie brüskiert. »Wie könnt Ihr es wagen, Euch an meiner Person zu vergreifen, Ihr?« Sie trat einen Schritt zurück und hieb mit einer Hand nach seinem Schwert. Diese war zwar mit einem schwarzen Spitzenhandschuh bekleidet, doch der konnte nicht verbergen, wie kräftig und rot sie war.

»Und wer seid Ihr?« Grey fuhr zu dem kleinen Geistlichen herum, der sich hinter einem Fass in Sicherheit gebracht und die Vorstellung in aller Ruhe genossen hatte.

»Ich?« Der geistliche Herr machte ein überraschtes Gesicht, verbeugte sich jedoch bereitwillig. »Reverend Mr. Cobb, Sir, Hilfspfarrer von St. Giles. Ich bin gebeten worden herzukommen und die Obsequien für den verstorbenen Mr. O'Connell zu sprechen, im Auftrag von Mrs. Stokes, die, wie ich höre, mit dem Verblichenen persönlich befreundet gewesen ist.«

»Ihr was? Ein verdammter Protestant?« Francine O'Connell-Scanion richtete sich zu voller Größe auf und zitterte erneut vor Wut. Mr. Cobb betrachtete sie argwöhnisch, schien sich jedoch an seinem Rückzugsort hinreichend sicher zu fühlen, denn er verbeugte sich höflich vor ihr.

»Die Bestattung soll im Kirchhof von St. Giles stattfinden, Ma'am - wenn Ihr und Euer Gatte teilnehmen möchtet?«

Bei diesen Worten drängte sich das gesamte irische Kontingent nach vorn, offenbar in der Absicht, den Sarg zu ergreifen und ihn mit Gewalt wegzuschleppen. Ohne sich davon einschüchtern zu lassen, rückte Mrs. Stokes' Eskorte mit Feuereifer vor, wobei sich einige der Herren Bretter von einem baufälligen Zaun abrissen, um sie als Knüppel zu benutzen.

Mrs. Stokes feuerte ihre Truppen mit »Katholische-Hure!«-Rufen an, während Mr. Scanion, der einen unentschlossenen Eindruck machte, seine Frau aus der Gefahrenzone zerrte und gleichzeitig die freie Faust in Richtung der Protestanten schüttelte und allerhand irische Beschimpfungen brüllte.

Da er einen blutigen Aufstand kommen sah, sprang Grey auf den Sarg und schwang sein Schwert heftig hin und her, um die Anstürmenden zurückzutreiben.

»Tom!«, rief er. »Hol die Konstabler!«

Tom Byrd hatte nicht auf Anweisungen gewartet, sondern war anscheinend schon während der Anfänge der Rauferei verschwunden, um Verstärkung zu holen; Grey hatte das Wort »Konstabler« kaum ausgesprochen, als auf der Straße das Geräusch rennender Schritte erklang. Konstabler Magruder und zwei seiner Männer kamen in die Gasse geschossen und hielten ihre Knüppel und Pistolen bereit, während Tom Byrd keuchend die Nachhut bildete.

Angesichts dieses Eintreffens bewaffneter Autoritäten trennten sich die verfeindeten Trauergesellschaften augenblicklich, ihre Messer verschwanden wie von Zauberhand, und die Knüppel wurden mit der größten Beiläufigkeit fallen gelassen.

»Seid Ihr in Schwierigkeiten, Major?«, rief Konstabler Magruder, der ein deutlich amüsiertes Gesicht machte, als er zuerst die Teilnehmerinnen des Witwenwettstreits und dann Grey auf seiner wackeligen Insel betrachtete.

»Nein, Sir, ich danke Euch«, erwiderte Grey höflich und schnappte nach Luft. Er spürte die billigen Bretter des Sarges unheilvoll ächzen, als er das Gewicht verlagerte, und der Schweiß rann ihm an der Wirbelsäule entlang. »Wenn es Euch aber nichts ausmachen würde, noch einen Moment dort stehen zu bleiben.?«

Er holte tief Luft und trat vorsichtig von seinem Podest. Er war durch eine Pfütze gerollt; sein Hosenboden war nass, und er konnte spüren, dass der Rocksaum unter seinem rechten Arm aufgeplatzt war. Zum Kuckuck, was nun?

Er tendierte zu einem schlichten Salomonsurteil, das jeder Frau eine Hälfte Tim O'Connells zugestand, und verwarf den Gedanken nur deshalb, weil es zu viel Zeit in Anspruch genommen hätte und sein Rapier für eine solche Teilung vollkommen ungeeignet war. Doch wenn die Witwen ihm weiter Schwierigkeiten machten, das schwor er sich, dann würde er Tom auf der Stelle losschicken, um ein Metzgersbeil zu holen.

Grey seufzte, steckte sein Schwert ein und rieb sich mit dem Zeigefinger über die Stelle zwischen seinen Augenbrauen.

»Mrs.. Scanion.«

»Ave.« Die Schwellung ihres Gesichtes war etwas zurückgegangen; jetzt waren es Argwohn und Wut, die ihre funkelnden Augen verengten.

»Als ich Euch vor zwei Tagen besucht habe, habt Ihr das Geschenk zurückgewiesen, das Euch die Waffenkameraden Eures Mannes machen wollten, mit der Begründung, dass Ihr Euren Gatten in der Hölle wähntet und kein Geld für Messen und Kerzen verschwenden wolltet. Ist es nicht so?«

»So ist es«, sagte sie zurückhaltend. »Aber -«

»Nun denn. Wenn Ihr glaubt, dass er sich derzeit in der Unterwelt befindet«, argumentierte Grey, »so ist dies eindeutig ein Dauerzustand. Der bloße Akt, seine Leiche an einem bestimmten Ort oder nach katholischem Ritual zu beerdigen, wird nichts an seinem unglücklichen Schicksal ändern.«

»Wir können aber doch nicht mit Gewissheit sagen, ob die Seele eines Sünders in die Hölle gefahren ist«, wandte der irische Priester ein, der plötzlich seine Aussicht auf Bezahlung für O'Connells Beerdigung schwinden sah. »Gottes Wege sind uns Armen verborgen, und wer weiß, ob nicht Tim O'Connell am Ende seine Schlechtigkeit bereut hat, seine Sünden eingestanden hat und direkt ins Paradies und in die Arme der Engel aufgenommen worden ist!«

»Exzellent!« Grey stürzte sich auf diese unvorsichtige Spekulation wie ein Leopard auf seine Beute. »Wenn er im Paradies ist, bedarf er der irdischen Intervention noch viel weniger. Also -« Er verbeugte sich förmlich vor den Scanions und ihrem Priester. »Euch zufolge kann der Verstorbene entweder verdammt oder gerettet sein, befindet sich jedoch mit Sicherheit in einem dieser beiden Zustände. Wohingegen Ihr -«, er wandte sich an Miss Stokes, »- der Meinung seid, dass sich Tim O'Connell vielleicht in einem Übergangszustand befindet, in welchem ihm ein Akt der Fürsprache von Nutzen sein

könnte?«

Miss Stokes betrachtete ihn einen Moment mit leicht geöffnetem Mund.

»Ich möchte nur, dass er ans tändig beerdigt wird«, sagte sie und klang plötzlich kleinlaut. »Sir.«

»Nun denn. Ich bin der Auffassung, dass Ihr, Madam -«, er warf einen scharfen Blick auf die frisch gebackene Mrs. Scanion, »- Eure gesetzlichen Ansprüche in dieser Angelegenheit weitgehend verwirkt habt, da Ihr nun mit Mr. Scanion verheiratet seid. Wäre es für Euch akzeptabel, wenn Miss Stokes Euch die Kosten des Sarges zurückerstatten würde?«

Grey betrachtete die irische Abordnung und sah, dass sie mürrische Mienen zog, aber schwieg. Scanion sah erst den Priester an, dann seine Frau und schließlich Grey. Er nickte kaum merklich.

»Nehmt ihn mit«, sagte Grey zu Miss Stokes und trat zurück, wobei er mit einer knappen Geste auf den Sarg wies.

Er schritt gezielt auf Scanion zu, die Hand an seinem Schwertknauf, doch obwohl in den Reihen der Iren Unruhe herrschte, Unmutsbekundungen laut wurden und hier und dort auf den Boden gespuckt wurde, schien keiner von ihnen vorzuhaben, über gemurmelte Beleidigungen hinauszugehen, als Miss Stokes' Begleiter die umstrittenen Überreste in Besitz nahmen.

»Darf Ich Euch zu Eurer Eheschließung gratulieren?«, sagte er höflich.

»Ich danke Euch, Sir«, sagte Scanion ebenso höflich. Francine stand an seiner Seite und kochte vor Zorn unter ihrem Hut.

Dann standen sie alle schweigend da und sahen zu, wie Tim O'Connell fortgetragen wurde. Iphigenia Stokes wusste mit ihrem Triumph überraschend getragen umzugehen; sie würdigte die besiegten Iren weder eines Blickes noch eines Wortes, und ihre Helfer folgten ihrem Beispiel und nahmen den Sarg schweigend an sich. Miss Stokes nahm die Position der Haupttrauernden ein, und die kleine Prozession bewegte sich davon. An ihrem Schluss riskierte Reverend Mr. Cobb einen kurzen Blick zurück und winkte Grey kaum merklich zu.

»Gott lasse seine Seele ruhen«, sagte Vater Doyle fromm und bekreuzigte sich, als der Sarg in der Gasse verschwand.

»Gott lasse ihn verrotten«, sagte Francine O'Connell. Sie spuckte kräftig auf den Boden. »Und sie.«

Es war noch nicht Mittagszeit, und die Wirtshäuser waren großenteils leer. Konstabler Magruder und seine Helfer nahmen die Einladung auf ein Getränk im »Blue Swan« als Belohnung für ihre Hilfe dankend an und kehrten danach zu ihren Pflichten zurück, während Grey einigermaßen zurückgezogen seinen Rock ablegen und sich an die Reparatur seiner Garderobe begeben konnte.

»Sieht so aus, als könntet Ihr nicht nur mit dem Rasiermesser, sondern auch mit der Nadel gut umgehen, Tom.« Grey lümmelte sich gemütlich auf einer Bank in der verlassenen Gaststube und nährte seine Lebensgeister mit einem zweiten Starkbier. »Ganz zu schweigen davon, dass Ihr schnell denken und laufen könnt. Hättet Ihr Magruder nicht genau rechtzeitig geholt, läge ich jetzt wahrscheinlich da in der Gasse, so kalt wie der Steinbutt von gestern.«

Tom Byrd saß blinzelnd über dem roten Rock, den er im alles andere als perfekten Licht des Buntglasfensters flickte. Er blickte nicht von seiner Arbeit auf, doch es schien, als breitete sich ein schwaches, zufriedenes Leuchten über seine rundlichen Gesichtszüge.

»Nun, ich konnte ja sehen, dass Ihr die Lage gut im Griff hattet, Mylord«, sagte er taktvoll, »aber die Iren waren so

verflixt viele, ganz zu schweigen von den Franzmännern.«

»Franzmänner?« Grey hielt sich die Faust vor den Mund, um einen aufsteigenden Rülpser zu unterdrücken. »Was, Ihr glaubt, die Freunde von Miss Stokes waren Franzosen? Warum?«

Byrd blickte überrascht auf.

»Na, sie haben sich doch auf Französisch unterhalten zumindest ein paar von ihnen. Zwei schwarzhaarige Lockenköpfe, sahen so aus, als wären sie mit dieser Miss Stokes verwandt.«

Nun war Grey überrascht und runzelte konzentriert die Stirn, während er sich an eventuelle französische Bemerkungen im Verlauf des unglücklichen Zusammentreffens zu erinnern versuchte, jedoch ohne Erfolg. Er hatte die beiden dunkelhäutigen Personen bemerkt, die Tom beschrieben hatte und die sich bedrohlich hinter ihrer Schwester? Cousine? - Tom hatte mit Sicherheit Recht; die Ähnlichkeit war unverkennbar -aufgebaut hatten, doch sie hatten eher ausgesehen wie.

»Oh«, sagte er, denn ihm kam ein Gedanke. »Hat es sich vielleicht so ähnlich angehört wie das hier?« Er rezitierte einen kurzen Vers von Homer, den er mit einem groben englischen Akzent unterlegte, so gut er konnte.

Toms Gesicht erhellte sich, und er nickte heftig, das Fadenende im Mund.

»Ich hatte mich schon gefragt, wie sie an den Namen Iphigenia gekommen ist«, sagte Grey lächelnd. »Es ist schließlich nicht sehr wahrscheinlich, dass ihr Vater ein Kenner der Klassiker ist. Es ist Griechisch, Tom«, erläuterte er angesichts des verständnislosen Stirnrunzeins seines jungen Bediensteten. »Wahrscheinlich haben Miss Stokes und ihre Brüder - wenn sie das sind - eine griechische Mutter oder Großmutter, denn Stokes ist ja wohl auf heimischem Mist gewachsen.«

»Oh, griechisch«, sagte Tom unsicher, da ihm offenbar die

Unterschiede zwischen dieser und anderen Formen des Französischen nicht klar waren. »Natürlich, Mylord.« Er entfernte behutsam ein Stück Faden, das ihm an der Lippe klebte, und schüttelte den Rock aus. »Hier, Mylord; ich würde zwar nicht sagen, dass er so gut wie neu ist, aber Ihr könnt Ihn zumindest tragen, ohne dass das Futter hervorlugt.«

Grey nickte zum Dank und schob einen vollen Bierkrug in Toms Richtung. Er zog den geflickten Rock vorsichtig an und betrachtete den aufgerissenen Saum. Es war zwar nicht gerade Schneiderqualität, aber die Reparatur sah ganz stabil aus.

Er fragte sich, ob Iphigenia Stokes wohl eine nähere Betrachtung lohnte; wenn sie tatsächlich Familienbande in Frankreich gehabt hätte, hätte dies sowohl ein Motiv für O'Connells Verrat - wenn er denn ein Verräter gewesen war - als auch einen Abnehmer für die in Calais erschlichene Information liefern können. Aber griechisch. das ließ darauf schließen, dass Vater Stokes vielleicht Seemann gewesen war. Wahrscheinlich eher auf einem Handelsschiff als bei der Marine, wenn er eine Frau aus der Fremde heimgebracht hatte.

Ja, er war doch der Meinung, dass man einen Blick auf die Familie Stokes werfen sollte. Der Hang zur Seefahrt war erblich, und er hatte zwar unter den gegebenen Umständen nur flüchtig hinsehen können, doch er glaubte, dass ein oder zwei Männer aus der Gruppe um Miss Stokes wie Seeleute ausgesehen hatten; einer hatte einen goldenen Ohrring, da war er sich sicher. Und Seeleute waren in einer guten Position, um Information aus Großbritannien hinauszuschmuggeln, obwohl in diesem Fall »Mylord?«

»Ja, Tom?« Er runzelte leicht die Stirn, weil er in seinen Gedankengängen unterbrochen wurde, antwortete jedoch höflich.

»Es ist nur, dass ich gedacht habe. als ich den toten Burschen da gesehen habe, meine ich -«

»Ihr meint Sergeant O'Connell?«, verbesserte Grey, der es nicht gern hörte, dass man einen toten Kameraden als »den toten Burschen da« bezeichnete, ob er nun ein Verräter war oder nicht.

»Ja, Mylord.« Tom trank einen großen Schluck Bier, dann blickte er auf und sah Grey direkt an. »Glaubt Ihr, mein Bruder ist auch tot?«

Das traf ihn. Er rückte den Rock auf seinen Schultern zurecht und überlegte, was er sagen sollte. Er glaubte eigentlich nicht, dass Jack Byrd tot war - er war mit Harry Quarry einer Meinung, dass Byrd entweder zu O'Connells Mörder übergelaufen war - oder dass er den Sergeant selbst umgebracht hatte. Keine dieser Überlegungen war jedoch angetan, Jack Byrds Bruder zu beruhigen.

»Nein«, sagte er bedächtig. »Das glaube ich nicht. Wenn er von Sergeant O'Connells Mördern umgebracht worden wäre, glaube ich, dass man seine Leiche in der Nähe gefunden hätte. Es kann doch keinen guten Grund geben, sie zu verstecken, oder?«

Die stocksteifen Schultern des jungen Mannes entspannten sich ein wenig, und er schüttelte den Kopf, bevor er noch einen Schluck Bier trank.

»Nein, Mylord.« Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Nur - wenn er nicht tot ist, was glaubt Ihr, wo er sein könnte?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Grey aufrichtig. »Ich hoffe, das finden wir bald heraus.« Ihm kam ein Gedanke. Wenn Jack Byrd London noch nicht verlassen hatte, konnte sein Bruder -wissentlich oder unwissentlich - dabei helfen, seinen Aufenthaltsort herauszufinden.

»Fällt Euch etwas ein, wo Euer Bruder hingegangen sein könnte? Vielleicht wenn er - Angst hätte? Oder das Gefühl hätte, in Gefahr zu sein?«

Tom Byrd sah ihn scharf an, und er begriff, dass der Junge um einiges intelligenter war, als er zunächst angenommen hatte.

»Nein, Mylord. Wenn er Hilfe brauchte - nun, wir Jungs sind zu sechst, dazu kommt mein Vater und ich und die beiden Brüder meines Vaters und ihre Jungs; wir kümmern uns um die Unseren. Aber er ist nicht zu Hause gewesen; das weiß ich.«

»Das ist ja ein ganzes Nest von Byrds, wie es scheint. Dann habt Ihr also mit Eurer Familie gesprochen?« Grey fühlte vorsichtig unter seine Rockschöße; da er feststellte, dass seine Hose so gut wie trocken war, setzte er sich Byrd gegenüber hin.

»Ja, Mylord. Meine Schwester - ich habe nur eine - ist letzten Sonntag mit einer Nachricht für Jack zu Mr. Trevelyan gekommen. Da hat Mr. Trevelyan gesagt, er hätte seit dem Abend vor Mr. O'Connells Tod nichts mehr von Jack gehört.«

Der Junge schüttelte den Kopf.

»Wenn es so gewesen wäre, dass Jack in etwas hineingeraten wäre, das zu groß für ihn ist und das Pa und wir nicht regeln könnten, wäre er, glaube ich, zu Mr. Trevelyan gegangen. Aber er hat es nicht getan. Wenn etwas passiert ist, muss es plötzlich gekommen sein, glaube ich.«

Ein Klappern im Durchgang kündete von der Rückkehr der Kellnerin und hielt Grey von einer Antwort ab - was auch nicht weiter schlimm war, da er keine brauchbare Antwort hatte.

»Seid Ihr hungrig, Tom?« Die frischen Pastetchen auf dem Tablett, das die Frau trug, waren zweifellos sehr schmackhaft, doch Greys Nase war noch vom Wintergrün betäubt, und die Erinnerung an O'Connells Leiche war so frisch, dass sie ihm den Appetit verdarb.

Das Gleiche schien auch für Byrd zu gelten, denn er schüttelte heftig den Kopf.

»Nun denn. Gebt der Dame ihre Nadel wieder - und etwas für ihre Freundlichkeit -, und dann gehen wir.«

Grey hatte die Droschke nicht warten lassen, und so gingen sie zu Fuß in Richtung Bow Street, um dort ein Transportmittel zu suchen. Byrd schlenderte ein wenig hinter Grey her und trat nach Kieselsteinen; offenbar lagen ihm die Gedanken an seinen Bruder schwer auf der Seele.

»Hat Euer Bruder Mr. Trevelyan regelmäßig Bericht erstattet?«, fragte Grey und blickte sich um. »Solange er Sergeant O'Connell beobachtet hat, meine ich?«

Tom zuckte mit den Achseln und machte ein unglückliches Gesicht.

»Ich weiß nicht, Mylord. Jack hat nichts davon erzählt, wie seine Aufgabe ausgesehen hat, nur dass es ein besonderer Auftrag von Mr. Joseph war und dass er deswegen eine Zeit lang nicht im Haus sein würde.«

»Aber jetzt wisst Ihr es doch? Was seine Aufgabe war und warum?«

Ein Ausdruck des Argwohns huschte durch die Augen des Jungen.

»Nein, Mylord. Mr. Trevelyan hat nur gesagt, dass ich Euch helfen soll. Er hat nicht ausgeführt, wobei.«

»Ich verstehe.« Grey fragte sich, wie viel er von der Situation offen legen sollte. Es war vor allem der besorgte Ausdruck in Tom Byrds Gesicht, der ihn zu der Entscheidung bewog, den Jungen vollständig einzuweihen. Das hieß, vollständig bis auf die präzise Natur der Unterschlagungen, deren man O'Connell verdächtigte, und Greys eigene Schlüsse in Bezug auf die Rolle, die Jack Byrd bei der Sache spielte.

»Dann glaubt Ihr also nicht, dass der tote - Sergeant O'Connell, meine ich -, Ihr glaubt nicht, dass er zufällig erschlagen worden ist, Mylord?« Byrd ließ nicht länger den Kopf hängen; seine Wangen sahen nicht mehr so klamm aus, und er ging jetzt schnellen Schrittes, fasziniert von den Details in Greys Bericht.

»Nun, seht Ihr Tom, das kann ich noch nicht mit Gewissheit sagen. Ich hatte gehofft, dass wir vielleicht eine bestimmte Verletzung an der Leiche entdecken würden, an der deutlich werden würde, dass jemand Sergeant O'Connell mit Absicht ermordet hatte, und ich habe nichts dergleichen gefunden. Andererseits.«

»Andererseits hatte der Mann, der ihm ins Gesicht getreten hat, nicht besonders viel für ihn übrig«, ergänzte Tom schlau. »Das war kein Zufall, Mylord.«

»Nein, das war es nicht«, pflichtete Grey ihm trocken bei. »Es ist nach dem Tod geschehen, nicht in der Wut des Augenblicks.«

Toms Augen wurden ganz rund.

»Woher wisst Ihr das? Mylord«, fügte er hastig hinzu.

»Habt Ihr Euch den Abdruck des Absatzes einmal genau angesehen? Ein paar der Nagelköpfe hatten die Haut durchdrungen - und doch gab es kein Extravasat.«

Tom sah ihn mit einer Mischung aus Verwirrung und Argwohn an, denn offenbar hatte er den Verdacht, dass Grey das Wort spontan erfunden hatte, und zwar einzig und allein in der Absicht, ihn zu quälen, doch er sagte nur: »Oh?«

»Oh, in der Tat.« Grey war etwas zerknirscht, weil er unfreiwillig eine Schwachstelle in Toms Vokabular aufgezeigt hatte, wollte den wunden Punkt jedoch nicht noch vertiefen, indem er sich entschuldigte.

»Tote bluten nicht, wisst Ihr - es sei denn, sie hätten eine schwere Verletzung wie den Verlust einer Gliedmaße und werden kurz darauf gefunden. Dann tropft es natürlich, aber das Blut verdickt sich beim Abkühlen, und -« Als er sah, dass Toms Gesicht seinen bleichen Farbton wieder annahm, hustete er und versuchte es auf einem anderen Weg.

»Ihr denkt sicher, dass die Nagelspuren geblutet haben, das

Blut aber weggewischt worden ist.«

»Oh. Äh... ja«, sagte Tom schwach.

»Möglich«, räumte Grey ein, »aber nicht wahrscheinlich. Kopfverletzungen bluten ausgesprochen heftig - wie das sprichwörtliche angestochene Schwein.«

»Jeder, der das sagt, hat noch nie ein angestochenes Schwein gesehen«, sagte Tom, der sich tapfer zusammenriss. »Ich schon. Das Blut strömt in wahren Fluten. Genug, um ein Fass damit zu füllen - oder zwei!«

Grey nickte und stellte fest, dass es eindeutig nicht der Gedanke an Blut an sich war, der den Jungen beunruhigte.

»So ist es. Ich habe sehr genau hingesehen und habe kein Blut in den Haaren der Leiche oder auf ihrer Gesichtshaut gefunden -obwohl sie ansonsten nur sehr oberflächlich gewaschen worden zu sein schien. Daher, nein, ich bin mir ziemlich sicher, dass dieser Abdruck entstanden ist, als der Sergeant schon einige Zeit nicht mehr geatmet hat.«

»Nun, es war aber nicht Jack, der ihn hinterlassen hat.«

Grey sah ihn verblüfft an. Aha, jetzt wusste er, was den Jungen beunruhigte; abgesehen von der simplen Sorge über das Verschwinden seines Bruders fürchtete Tom offenbar, dass Jack Byrd einen Mord auf dem Gewissen haben könnte - oder man ihn zumindest verdächtigen könnte.

»Das habe ich auch nicht gemeint«, erwiderte er vorsichtig.

»Aber ich weiß, dass er es nicht war! Ich kann es beweisen, Mylord!« Ganz außer sich von seiner leidenschaftlichen Rede, packte ihn Byrd am Ärmel.

»Jacks Schuhe haben quadratische Absätze, Mylord! Wer auch immer den toten Kerl getreten hat, hatte runde! Außerdem waren sie aus Holz, und Jacks Schuhe haben Lederabsätze!«

Er hielt inne und keuchte fast vor Aufregung, während er Greys Gesicht mit großen Augen nach einem Zeichen der

Zustimmung absuchte.

»Ich verstehe«, sagte Grey langsam. Der Junge hatte ihn immer noch am Arm gepackt. Er legte seine Hand auf die des Jungen und drückte sacht zu. »Es freut mich, das zu hören, Tom. Wirklich.«

Byrd sah ihn noch einen weiteren Moment suchend an, dann fand er offenbar, was er gesucht hatte, denn er holte tief Luft und ließ Greys Ärmel mit einem zaghaften Kopfnicken los.

Kurz darauf erreichten sie die Bow Street, und Grey winkte eine Droschke herbei. Er war froh, das Gespräch abbrechen zu können. Denn obwohl er sich sicher war, dass Tom in Bezug auf die Schuhe seines Bruders die Wahrheit sagte, änderte dies nichts an der einen Tatsache: Jack Byrds Verschwinden war nach wie vor der Hauptgrund für die Annahme, dass O'Connells Tod kein Unfall gewesen war.

Harry Quarry aß an seinem Schreibtisch zu Mittag und erledigte dabei Büroarbeiten, schob aber Teller und Papiere beiseite, um sich Greys Schilderung von Sergeant O'Connells dramatischem Abgang anzuhören.

»>Wie könnt Ihr es wagen, Euch an meiner Person zu vergreifen, Ihr?< Das hat sie wirklich gesagt?« Er wischte sich keuchend die Tränen der Belustigung aus den Augenwinkeln. »Himmel, Johnny, Euer Tag war um Längen unterhaltsamer als meiner!«

»Ihr könnt mit dem persönlichen Teil der Ermittlungen gern jederzeit selbst fortfahren«, versicherte ihm Grey und beugte sich vor, um ein Radieschen aus den verwüsteten Überresten von Quarrys Mahlzeit zu picken. Er hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen und war dem Verhungern nahe. »Mich wird das nicht stören.«

»Nein, nein«, beruhigte ihn Quarry. »Würde mir im Traum nicht einfallen, Euch um diese Gelegenheit zu bringen. Was haltet Ihr davon, dass Scanion und die Witwe so aufgetaucht sind, um O'Connell zu beerdigen?«

Grey zuckte mit den Achseln und kaute auf dem Radieschen herum, während er sich die getrockneten Schlammspritzer von den Rockschößen strich.

»Er hatte gerade O'Connells Witwe geheiratet, nur ein paar Tage nach dem Tod des Sergeant. Ich vermute, dass er Verdächtigungen zuvorkommen wollte. Hat wohl angenommen, dass die Leute ihn kaum verdächtigen würden, den Mann umgebracht zu haben, wenn er die Dreistigkeit besaß, mit frommer Miene betend bei seinem Begräbnis zu erscheinen, komplett mit Priester und Beiwerk.«

»Mm.« Quarry nickte und ergriff eine gebutterte Spargelstange, die er sich ganz in den Mund steckte. »Unseieschu?«

»Scanions Schuhe? Ich hatte keine Gelegenheit, einen Blick darauf zu werfen, solange diese beiden Harpyien versuchten, sich gegenseitig umzubringen. Aber Stubbs hat sich seine Hände angesehen, als wir in der Apotheke waren. Wenn Scanion O'Connell auf dem Gewissen hat, hat jemand anders die Schwerstarbeit erledigt.«

»Glaubt Ihr, er hat es getan?«

»Das weiß Gott. Habt Ihr vor, das Törtchen da zu essen?«

»Ja«, sagte Quarry und biss hinein. Nachdem er das Törtchen mit zwei Bissen verspeist hatte, lehnte er sich zurück und blinzelte den Teller an, weil er hoffte, noch etwas Essbares darauf zu entdecken.

»Euer neuer Leibdiener sagt also, dass sein Bruder es nicht getan haben kann? Nun, das ist doch klar, oder?«

»Vielleicht - aber das Gleiche gilt auch für Scanion; für den Mord an O'Connell war mehr als ein Mann nötig. Soweit wir wissen, war Jack Byrd ganz auf sich gestellt - und ich kann mir nicht vorstellen, dass ein simpler Hausdiener allein zu dem in der Lage ist, was man Tim O'Connell angetan hat.«

Da er nichts Substanzielleres mehr finden konnte, brach Quarry einen abgenagten Hühnerknochen entzwei und saugte das Knochenmark heraus.

»Also«, fasste er zusammen, während er sich die Finger ableckte, »es läuft darauf hinaus, dass O'Connell von zwei oder mehr Männern umgebracht worden ist, woraufhin ihm jemand das Gesicht zertreten und ihn dann ein Weilchen liegen gelassen hat. Einige Zeit später hat ihn jemand - vielleicht derselbe Jemand wie der Mörder, vielleicht jemand anders -mitgenommen und ihn am Puddle Dock in den Fluss geworfen.«

»Genau so. Ich habe den verantwortlichen Konstabler gebeten, seine Berichte durchzusehen, um festzustellen, ob in der Todesnacht irgendwo eine Prügelei gemeldet worden ist. Ansonsten -« Grey rieb sich die Stirn, um gegen die Erschöpfung anzukämpfen. »Ich glaube, wir sollten uns Iphigenia Stokes und ihre Familie einmal näher ansehen.«

»Ihr glaubt wohl, sie hat's getan, wie? Die geschmähte Frau und so weiter - und ihre Brüder sind Seeleute. Seeleute tragen stets Holzabsätze; mit Leder rutscht man an Deck.«

Grey sah ihn überrascht an.

»Woher wisst Ihr das, Harry?«

»Bin einmal mit neuen Schuhen und Lederabsätzen von Edinburgh nach Frankreich gesegelt«, sagte Harry und hob ein Salatblatt auf, um einen hoffnungsvollen Blick darunter zu werfen. »Eine Windbö nach der anderen, und ich hätte mir beinahe ein halbes Dutzend Mal das Bein gebrochen.«

Grey pflückte Quarry das Salatblatt aus der Hand und aß es.

»Gut mitgedacht«, sagte er und schluckte. »Und es würde auch die persönliche Feindseligkeit erklären, die dem Verbrechen sichtlich anhaftet. Aber nein, ich kann mir nicht vorstellen, dass Miss Stokes den Sergeant hat ermorden lassen. Scanion fällt es gewiss leicht, sich den Anschein frommer Betroffenheit zu geben, um Verdächtigungen zuvorzukommen -doch ihr nicht. Ihr war es absolut ernst mit ihrem Wunsch, O'Connell anständig unter die Erde zu bringen, da bin ich mir sicher.«

»Mmm.« Quarry rieb sich nachdenklich über die Narbe auf seiner Wange. »Möglich. Aber könnte es nicht auch sein, dass ihre männlichen Verwandten herausgefunden haben, dass O'Connell verheiratet war, und ihn um der Ehre willen beseitigt haben? Wenn ja, ist es denkbar, dass sie ihr nichts davon gesagt haben.«

»Daran habe ich gar nicht gedacht«, gab Grey zu. Er grübelte über dieser Idee nach, die ihm aus verschiedenen Gründen sehr gefiel. Sie lieferte eine wunderbare Erklärung für die physischen Todesumstände; nicht nur die Prügel, die O'Connell von mehreren Personen bezogen hatte, sondern auch die Heftigkeit des Absatzabdruckes und wenn der Mord in der Nähe von Miss Stokes' Wohnsitz geschehen war, hatte man die Leiche natürlich in sicherer Entfernung loswerden müssen, womit auch der Transport nach dem Tod erklärt gewesen wäre.

»Das ist gar keine dumme Idee, Harry. Kann ich Stubbs, Calvert und Jobbs haben, um mir bei den Ermittlungen zu helfen?«

»Nehmt, wen Ihr wollt. Und natürlich haltet Ihr weiter nach Jack Byrd Ausschau.«

»Ja.« Grey tauchte den Zeigefinger in die kleine Saucenpfütze, die das Einzige war, was sich noch auf dem Teller befand, und lutschte ihn sauber. »Ich bezweifle, dass wir viel davon haben werden, wenn wir den Scanions weiter zu Leibe rücken, aber ich hätte nichts dagegen, etwas über seine nächsten Bekannten zu erfahren und darüber, wo sie wohl Samstagabend gewesen sind. Und schließlich - was ist mit

diesem hypothetischen Auftraggeber?«

Quarry blies die Luft aus seinen Wangen und seufzte tief.

»Da habe ich etwas in die Wege geleitet - ich sag's Euch später, wenn etwas dabei herauskommt. Unterdessen«, er schob seinen Stuhl zurück, erhob sich und strich sich die Krümel von der Weste, »muss ich zu einer Dinnergesellschaft.«

»Sicher, dass Ihr noch Appetit habt?«, fragte Grey bissig.

»Haha«, sagte Quarry, der sich jetzt die Perücke auf den Kopf setzte und sich niederbeugte, um in den Spiegel zu schauen, den er neben dem Schreibtisch an der Wand hängen hatte. »Ihr glaubt doch nicht, dass man bei einer Dinnergesellschaft etwas zu essen bekommt?«

»Doch, diesen Eindruck hatte ich. Irre ich mich etwa?«

»Nun, man bekommt etwas«, räumte Quarry ein, »aber erst nach Stunden. Nichts als ein Schlückchen Wein und kleine Toasthäppchen mit Kapern vor dem Dinner davon würde nicht einmal ein Vogel satt.«

»Was denn für ein Vogel?«, sagte Grey und betrachtete Quarrys muskulöses, aber massives Hinterteil. »Eine Riesentrappe?«

»Möchtet Ihr vielleicht mit?« Quarry richtete sich auf und schlüpfte in seinen Rock. »Ist noch nicht zu spät.«

»Ich danke Euch, nein.« Grey stand auf und reckte sich. Er spürte, wie jeder Knochen in seinem Rücken vor Anstrengung ächzte. »Ich gehe nach Hause, bevor ich verhungere.«

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