7. Grüner Samt

Als er erwachte, war es helllichter Tag, und das Bordell unter ihm regte sich polternd. Das Mädchen war fort nein, nicht fort. Er drehte sich um und sah sie am Fenster, mit ihrem Nachthemd bekleidet, die Lippen konzentriert zusammengepresst, während sie ihr Haar flocht und dabei die Reflektion im Nachttopf als Spiegel benutzte.

»Na, endlich wach?«, fragte sie und betrachtete blinzelnd ihr Spiegelbild. »Ich dachte schon, ich müsste Euch eine Stopfnadel unter den Zehennagel schieben, um Euch zu wecken.« Sie band das Zopfende mit einem roten Haarband zusammen, dann drehte sie sich um und grinste ihn an.

»Und, Lust auf Frühstück, Kumpel?«

»Sprecht bloß nicht davon.« Er setzte sich langsam hin, eine Hand an die Stirn gepresst.

»Oh, sind wir heute Morgen nicht ganz bei Laune?« Eine braune Glasflasche und ein Paar Holzbecher standen wie durch Zauberei auf dem Waschtisch; sie schenkte etwas ein, das die Farbe von Pfützenwasser hatte, und drückte ihm den Becher in die Hand. »Versucht das; Angriff ist schließlich die beste Verteidigung.« Sie schenkte sich selbst einen großzügigen Schluck ein und trank es, als sei es Wasser.

Es war kein Wasser. Dem Geruch nach, so dachte er, war es wahrscheinlich Terpentin. Dennoch, er hatte nicht vor, sich vor einer vierzehnjährigen Hure zu blamieren; er schüttete es in einem Schluck hinunter.

Kein Terpentin, Vitriol. Die Flüssigkeit brannte sich ihren

Weg geradewegs durch seine Speiseröhre und in seine Eingeweide, wobei sie die Höhlungen seines Kopfes mit einer Wolke aus Schwefeldampf füllte. Whisky, das war es, und zwar ziemlich roher Whisky.

»Aye, das ist genau das Richtige«, sagte sie beifällig, denn sie beobachtete ihn. »Noch einen?«

Da er kein Wort herausbrachte, kniff er seine tränenden Augen zu und hielt ihr seinen Becher entgegen. Noch ein beißender Schluck, und er konnte feststellen, dass er genügend Geistesgegenwart zurückerlangt hatte, um sich nach seinen verschwundenen Kleidern zu erkundigen.

»Oh, aye. Hier drüben.« Sie hüpfte fröhlich auf wie ein Eichhörnchen und schob ein Wandpaneel beiseite, hinter dem eine Reihe von Kleiderhaken verborgen war, an denen seine Uniform und sein Unterzeug sorgfältig aufgehängt worden waren.

»Habt Ihr mich ausgezogen?«

»Ich sehe hier sonst niemanden; Ihr vielleicht?« Sie sah sich übertrieben genau im Zimmer um. Er ignorierte das und zog sich das Hemd über den Kopf.

»Warum denn?«

Er meinte, den Hauch eines Lächelns in ihren Augen aufglitzern zu sehen, obwohl sich keine Spur davon auf ihren Lippen fand.

»So viel wie Ihr getrunken hattet, wusste ich, dass Ihr bald zum Pinkeln aufwachen und Euch dann womöglich davonmachen würdet. Bliebt Ihr aber die ganze Nacht, war klar, dass Magda mir keinen anderen Kunden bringen würde.« Sie zuckte mit den Achseln, und das Hemd glitt ihr von einer ihrer hageren Schultern. »So gut hab' ich seit Monaten nicht mehr geschlafen.«

»Ich bin höchst zufrieden, Euch von Nutzen gewesen zu sein,

Madam«, sagte Grey trocken und zog sich seine Hose an. »Und wie lauten wohl die Kosten für eine ganze Nacht in Eurer charmanten Gesellschaft?«

»Zwei Pfund«, sagte sie prompt. »Ihr könnte mich jetzt bezahlen, wenn Ihr möchtet.«

Er warf ihr einen zynischen Blick zu, eine Hand an seiner Börse.

»Zwei Pfund? Wohl eher zehn Shilling. Versucht es noch einmal.«

»Zehn Shilling?« Sie versuchte, eine beleidigte Miene aufzusetzen, doch es gelang ihr nicht, womit sie ihm bestätigte, dass seine Schätzung nicht weit verfehlt gewesen war. »Nun. dann eben ein Pfund und sechs. Oder vielleicht zehn.« Sie betrachtete ihn spekulativ, und ihre kleine rosa Zunge fuhr heraus, um ihre Oberlippe zu berühren, ». wenn ich für Euch herausfinden kann, wohin er geht?«

»Wohin wer geht?«

»Der Mann aus Cornwall, nach dem Ihr Euch erkundigt habt -Trevelyan.«

Greys Kopfschmerzen schienen plötzlich nachzulassen. Er starrte sie einen Moment an, dann griff er in seine Börse. Er zog drei Pfundnoten heraus und warf sie ihr in den Schoß.

»Sagt mir, was Ihr wisst.«

Agnes schloss die Oberschenkel, die Hände dazwischen geklemmt, dicht bei ihrem Geld, und ihre Augen glitzerten vor Vergnügen.

»Was ich weiß, ist, dass er hierher kommt, aye, etwa zwei-, dreimal im Monat, aber er geht nie mit einer von den Mädchen -also konnte ich nicht herausfinden, wie es um seinen Schwanz bestellt ist.« Ihre Miene war entschuldigend.

Grey, der gerade seine Strümpfe befestigte, hielt überrascht inne.

»Was tut er denn dann?«

»Nun, er geht in Mrs. Magdas Zimmer, wie es all die reichen Leute tun - und kurze Zeit später kommt eine Frau heraus, die eins von Mags Kleidern und eine große Spitzenhaube trägt. aber es ist nicht unsere Mag. Sie ist ungefähr genauso groß, aye, hat aber weder Busen noch Hintern - und ganz schmale Schultern, wo doch Mags so fleischig ist wie ein gut gemästeter Bulle.«

Sie zog eine ihrer perfekten Augenbrauen hoch, offenbar amüsiert über seine Miene.

»Und dann geht diese. Dame. zur Hintertür hinaus in die Gasse, wo eine Sänfte auf sie wartet. Dabei habe ich sie auch schon gesehen«, sagte sie mit einer ironischen Betonung auf dem Pronomen. »Obwohl ich damals nicht wusste, wer es war.«

»Und kommt. sie. zurück?«, fragte Grey mit der gleichen Betonung.

»Aye, das tut sie. Sie bricht nach Anbruch der Dunkelheit auf und kommt kurz vor der Dämmerung zurück. Letzte Woche habe ich die Sänftenträger in der Gasse gehört, und weil ich zufällig allein war -«, sie verzog kurz das Gesicht, »bin ich aufgestanden und habe aus dem Fenster geschaut, um zu sehen, wer es war. Ich konnte nicht mehr als die Oberseite ihrer Haube und ein Stück grünen Rock sehen - aber wer es auch immer gewesen ist, ihre Schritte waren rasch und lang wie die eines Mannes.«

Dann hielt sie inne und machte ein erwartungsvolles Gesicht. Grey fuhr sich mit der Hand durch das zerzauste Haar. Sein Haarband hatte sich gelöst, während er schlief, und war nirgendwo in Sicht.

»Aber Ihr glaubt, Ihr könnt herausfinden, wohin diese. Person. geht?«

Sie nickte selbstsicher.

»Oh, aye. Ich habe zwar das Gesicht der Dame nicht gesehen, aber einen der Sänftenträger hab' ich deutlich erkannt. Zufällig ist er ein großer Kerl namens Rab, oben aus der Gegend von Fife. Er hat nicht oft Geld für eine Hure, aber wenn er es hat, fragt er nach mir. Heimweh, versteht Ihr?«

»Ja, ich verstehe.« Grey strich sich das Haar aus dem Gesicht, dann griff er erneut in seine Geldbörse. Sie spreizte die Beine genau rechtzeitig wieder und fing die Hand voll Silber zielsicher mit ihrem Rock auf.

»Seht zu, dass Rab bald Geld für Euch hat«, meinte Grey. »Aye?«

Es klopfte an der Tür, welche sich öffnete und den Blick auf Harry Quarry freigab, der mit Stoppelbart und Triefaugen dastand, den Rock über die Schulter gehängt. Sein Hemd war am Halsausschnitt offen und nur halb in die Hose gesteckt; das Halstuch fehlte. Quarry trug zwar seine Perücke, doch sie saß schief auf seinem Ohr.

»Ich störe doch nicht, oder?«, sagte er und unterdrückte einen Rülpser.

Grey ergriff hastig seinen Rock und stieg in seine Schuhe.

»Nein, ganz und gar nicht. Komme schon.«

Quarry kratzte sich die Rippen und schob dabei sein Hemd hoch, ohne es zu merken, sodass ein Stück seines behaarten Bierbauches sichtbar wurde. Er blinzelte vage in Nessies Richtung.

»Und, hattet Ihr eine gute Nacht, Grey? An der ist aber nicht viel dran, oder?«

Lord John presste zwei Finger in die Mitte seiner pulsierenden Stirn und setzte eine Miene auf, von der er hoffte, dass sie befriedigte Lüsternheit ausstrahlte.

»Ah, nun ja, Ihr kennt doch das Sprichwort: Je dichter am Knochen, desto zarter das Fleisch.«

»Wirklich?« Trotz seines heruntergekommenen Zustandes wurde Quarry ein wenig wacher und blickte an John vorbei in die Kammer. »Vielleicht probiere ich sie ja nächstes Mal aus. Wie heißt du denn, Süße?«

Grey wandte sich halb um und sah, wie sich Nessies Augen weiteten, als sie Quarry mit blutunterlaufenen Augen und geiler Miene dastehen sah. Ihr Mund verzog sich angewidert; für eine Hure hatte sie wirklich keinen Takt. Er legte eine Hand auf Quarrys Arm, um ihn abzulenken.

»Glaube nicht, dass sie Euch gefallen würde, alter Knabe«, sagte er. »Sie ist aus Schottland.«

Quarrys momentanes Interesse verschwand wie eine ausgeblasene Kerzenflamme.

»Oh, Schottland«, sagte er und rülpste leise. »Himmel, nein. Beim Klang dieser Barbarenzunge würde mein Ding auf der Stelle einschrumpfen. Nein, nein. Gebt mir ein schönes, fettes, englisches Mädchen mit einem prächtigen runden Hintern und gut im Futter, etwas, woran man sich festhalten kann.« Er zielte mit einem jovialen Schlag nach dem Hinterteil einer vorbeigehenden Magd, die diesen Anforderungen eindeutig entsprach, doch sie wich ihm geschickt aus, und er stolperte und vermied einen peinlichen Sturz nur dadurch, dass er sich an Grey festhielt. Dieser wiederum griff mit beiden Händen nach dem Türknauf, um nicht umgeworfen zu werden. Er hörte ein Kichern von Nessie und richtete sich auf, um seine Kleider zu ordnen, soweit es möglich war.

Nach diesem alles andere als würdevollen Aufbruch fanden sie sich in einer Droschke wieder, welche die Meacham Street auf eine Weise entlangratterte, die höchst ungesund für den Zustand von Greys Kopf war.

»Und, irgendetwas Nützliches herausgefunden?«, fragte Quarry und schloss ein Auge, um sich besser konzentrieren zu können, während er seinen Hosenlatz in Ordnung brachte, der

aus irgendeinem Grund schief zugeknöpft war.

»Ja«, sagte Grey und wandte den Blick ab. »Aber weiß Gott, was es bedeutet.«

Er erklärte Quarry kurz die wenig schlüssigen Dinge, die er herausgefunden hatte, woraufhin ihn dieser anblinzelte wie eine Eule.

»Ich weiß auch nicht, was das bedeutet«, sagte Quarry und kratzte sich die Halbglatze. »Aber Ihr könntet Eurem Freund, dem Konstabler, eine Nachricht zukommen lassen - ihn fragen, ob seine Männer vielleicht von einer Frau in grünem Samt gehört haben. Wenn er - oder sie etwas im Schilde führt.«

Die Kutsche bog um eine Ecke und sandte einen durchdringenden Lichtstrahl durch Greys Augen mitten ins Zentrum seines Hirns. Er gab ein leises Stöhnen von sich. Was hatte Konstabler Magruder gemeint? Einbruch, Pferdediebstahl, Straßenräuberei.

»Wunderbar«, sagte er. Er schloss die Augen und atmete tief durch, während er sich vorstellte, wie der Ehrenwerte Joseph Trevelyan wegen Brandstiftung oder Erregung öffentlichen Ärgernisses festgenommen wurde. »Das mache ich.«

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