Die Weinhandlung Fraser & Cie war klein und dunkel, aber sauber - und die Luft im Inneren war Schwindel erregend mit dem Parfüm von Trauben geschwängert.
»Willkommen, Sir, Willkommen. Würdet Ihr die Freundlichkeit besitzen, mir Eure ehrliche Meinung über diesen Wein zu sagen?«
Ein kleiner Mann, der mit Perücke und Rock bekleidet war, war aus dem Halbdunkel aufgetaucht und mit der Plötzlichkeit eines Gnoms, der aus der Erde schlüpft, neben ihm erschienen, um ihm einen Becher mit eine r geringen Menge eines dunklen Weins anzubieten.
»Was?« Verblüfft folgte Grey seinem Reflex und nahm den Becher entgegen.
»Ein neuer Wein«, erklärte der kleine Mann und verbeugte sich. »Ich selbst finde ihn wunderbar - ganz wunderbar! Aber Geschmack ist eine solch individuelle Sache, findet Ihr das nicht?«
»Ah. ja. Das ist wahr.« Grey hob den Becher vorsichtig an sein Gesicht. Ihm stieg ein Aroma von erstaunlicher Wärme und Würze so tief in die Nase, dass er sich unwillkürlich mit an die Lippen gepresstem Becher wiederfand, um den flüchtigen Duft näher zu holen.
Er breitete sich über Mund und Gaumen aus und wanderte ihm als magische Wolke in den Kopf; der Geschmack entfaltete sich wie eine Reihe aufblühender Blumen, von denen jede nach einer anderen Kopfnote duftete: Vanille, Pflaume, Apfel,
Birne. und dann der delikateste Nachgeschmack, den er nur mit dem saftigen Gefühl vergleichen konnte, das frisch gebutterter Toast auf der Zunge hinterließ.
»Ich nehme ein Fass davon«, sagte er, ließ den Becher sinken und öffnete die Augen, als der letzte Hauch des Parfüms in seinem Gaumen verflog. »Was ist das?«
»Oh, Ihr mögt ihn!« Der kleine Mann klatschte fast in die Hände vor Entzücken. »Wie mich das freut! Nun, wenn dieser Wein nach Eurem Geschmack ist, dann bin ich überzeugt, dass Ihr auch diesen mögen werdet. Er schmeckt nicht jedem, man braucht einen besonders fein entwickelten Geschmackssinn, um seine subtile Note zu schätzen, aber Ihr, Sir.« Der leere Becher wurde ihm aus der Hand gerissen und durch einen anderen ersetzt, bevor er Luft holen konnte, um etwas zu sagen.
Während er sich fragte, wie viel er bereits ausgegeben hatte, hob er gehorsam den frischen Becher.
Eine halbe Stunde später verließ er mit geschrumpfter Börse und angenehm schwebendem Kopf den Laden. Er fühlte sich wie eine Seifenblase, hell, luftig und in schillernden Farben glitzernd. Unter dem Arm hatte er eine verkorkte Flasche Schilcher, so hieß der mysteriöse deutsche Rotwein, und in der Tasche eine Liste jener Kunden von Fraser & Cie, die ihn gekauft hatten.
Es war eine kurze Liste, obwohl es mehr waren, als er vermutet hätte - ein halbes Dutzend Namen, darunter Richard Caswell, Informationshändler. Was hatte ihm Caswell sonst noch wohl überlegt vorenthalten?, fragte er sich. Der enthusiastische Weinverkäufer, der sich irgendwann als Mr. Congreve vorgestellt hatte, war bedauerlicherweise nicht in der Lage, ihm viel über die anderen Käufer des deutschen Rotweins zu erzählen. »Die meisten unserer Kunden schicken einfach einen Dienstboten, wisst Ihr; eine Schande, dass nicht mehr persönlich kommen, so wie Ihr, Mylord!«
Dennoch war an den Namen zu erkennen, dass mindestens vier der sechs Deutsche waren, wenn auch keiner von ihnen Meyer hieß. Wenn seine Mutter sie nicht identifizieren konnte, standen die Chancen gut, dass von Namtzen es konnte; die reichen Ausländer in London neigten dazu, Grüppchen zu bilden oder zumindest voneinander zu wissen. Preußen und Sachsen mochten zwar im gegenwärtigen Konflikt auf entgegengesetzten Seiten stehen, doch ihre Bewohner sprachen immerhin dieselbe Sprache.
Ein Lumpenbündel, das auf dem Gehweg hockte, regte sich, als wollte es sich auf ihn zubewegen, und er fixierte es sofort mit seinem Blick, sodass es sich wieder zusammenkauerte und vor sich hinmurmelte. Seine Mutter hatte die Umgebung von Fraser & Cie sehr akkurat als »keine besonders angenehme Gegend« beschrieben, und der eisblaue Anzug mit den Silberknöpfen, der Mr. Congreve so hilfreich von seiner Kreditwürdigkeit überzeugt hatte, zog die weniger begehrenswerte Aufmerksamkeit der nicht ganz so ehrbaren Bewohner des Viertels auf sich.
Er war so vorsichtig gewesen, sein Schwert als sichtbare Warnung zu tragen, und hatte zusätzlich zu einer verstärkten Lederweste unter seinem Hemd auch einen Dolch im Hosenbund stecken - obwohl er sehr gut wusste, dass ein Auftreten, das augenblickliche Gewaltbereitschaft demonstrierte, die beste Rüstung war. Das hatte er schon mit acht Jahren gelernt; zart und schlank, wie er war, war es eine Sache des Selbstschutzes gewesen. Diese Lektion hatte ihm stets gute Dienste erwiesen.
Er warf zwei herumlungernden Gestalten, die ihn abschätzend betrachteten, einen feindseligen Blick zu und legte die Hand auf seinen Schwertknauf; ihre Augen wandten sich ab. Er hätte Tom Byrds Gesellschaft begrüßt, war jedoch der Meinung gewesen, dass Zeit wichtiger war als Sicherheit. Er hatte Byrd zu den anderen Weinhändlern geschickt, die seine Mutter ihm empfohlen hatte; möglicherweise hatte er ja noch weitere Namen mitgebracht, denen man nachspüren musste.
Es war nur ein kleiner Fortschritt bei seiner Aufgabe, die Affären des Joseph Trevelyan zu entwirren, doch momentan bedeutete jede Art von Information, die einen direkten und unzweideutigen Eindruck machte, eine Erleichterung. Er war inzwischen felsenfest entschlossen, auf keinen Fall zuzulassen, dass Trevelyan Olivia heiratete - blieb noch, einen Weg zu finden, die Verlobung diskret aufzulösen, ohne Livys Ruf zu schädigen.
Es würde nicht reichen, einfach nur selbst das Ende der Verlobung zu verkünden; wurde kein Grund angegeben, würden sich Gerüchte verbreiten wie Buschfeuer, und Gerüchte waren der Ruin jeder jungen Frau. Ohne eine Erklärung würde alle Welt davon ausgehen, dass Joseph Trevelyan einen schmerzlichen Schwachpunkt an ihr entdeckt hatte, denn in diesen gesellschaftlichen Sphären wurden Verlobungen weder leichtfertig geschlossen noch gelöst. Vier Anwälte hatten zwei Monate daran gearbeitet, Olivias Ehevertrag zu formulieren.
Genauso wenig konnte er den wahren Grund für die Trennung in der Öffentlichkeit verbreiten - und was die Gesellschaft anging, so gab es keine Privatsphäre; wenn irgendjemand im Umfeld der Familien die Wahrheit erfuhr, würde jeder sie erfahren.
Zwar waren die Greys nicht ohne Einfluss, doch an den Reichtum und die Macht der Trevelyans aus Cornwall reichten sie nicht heran. Die Wahrheit zu verbreiten bedeutete, die Feindschaft der Trevelyans in einem Maße heraufzubeschwören, das die Angelegenheiten seiner eigenen Familie jahrzehntelang kompromittieren würde und es würde Livy dennoch schaden, denn die Trevelyans würden sie für Josephs Bloßstellung und Entehrung verantwortlich machen, auch wenn sie nichts davon gewusst hatte.
Er konnte Joseph Trevelyan zwingen, die Verlobung zu lösen, indem er ihm unter vier Augen drohte, ihn bloßzustellen; doch auch dies würde Livys Ruf einen zweifelhaften Anstrich geben, wenn keine plausible Erklärung folgte. Nein, Trevelyan musste die Verlobung aus freien Stücken lösen, und zwar auf eine Weise, die Livy von jedem Vorwurf freisprach. Es würde immer noch Gerede und Spekulationen geben, doch mit etwas Glück würde der Schaden nicht so groß sein, dass er Livy daran hinderte, schließlich eine andere, ordentliche Partie zu machen.
Was ein solcher Grund sein könnte und wie er Trevelyan mit der Nase darauf stoßen könnte. diesbezüglich hatte er noch keine guten Ideen, doch er hegte die Hoffnung, dass die Entdeckung von Trevelyans Inamorata einen solchen Grund darstellen würde. Sie war eindeutig eine verheiratete Frau und befand sich ebenso eindeutig in einer gesellschaftlich höchst delikaten Position; wenn er ihre Identität herausfinden konnte, war es möglich, einen Besuch bei ihrem Ehemann als Druckmittel gegenüber den Trevelyans einzusetzen, ohne dass es den Anschein haben musste, als hätte Grey direkt damit zu tun gehabt.
Zunehmender Lärm riss ihn aus seinen Gedanken, und als er aufblickte, sah er drei Heranwachsende auf sich zukommen, die miteinander herumalberten und sich im Scherz herumschubsten. Sie machten einen derart unschuldigen Eindruck, dass sie sofort verdächtig wirkten. Als er sich rasch umsah, erspähte er prompt ihre Komplizin: ein schmutziges Mädchen von etwa zwölf, das dicht neben ihm darauf lauerte, ihm die Knöpfe abzuschneiden oder den Wein zu entreißen, sobald er sich von ihren Spielkameraden ablenken ließ.
Er ergriff mit einer Hand sein Schwert und umklammerte mit der anderen den Flaschenhals, während er dem Mädchen einen stechenden Blick zuwarf. Sie zog einen trotzigen Schmollmund, wich jedoch zurück, und die Bande der jungen Taschendiebe polterte lauthals an ihm vorbei und ignorierte ihn offenkundig.
Plötzliche Stille bewog ihn aber, ihnen nachzublicken, und er sah gerade noch, wie die Röcke des Mädchens in einer Seitengasse verschwanden. Die Jungen waren nirgendwo mehr in Sicht, doch hastige Schritte hallten leise durch die Gasse und entfernten sich.
Er fluchte wortlos vor sich hin und sah sich um. Wo mochte diese Gasse auskommen? Die Straße, auf der er sich befand, wies zwischen seinem Standort und der nächsten Kreuzung mehrere dunkle Öffnungen auf. Offensichtlich planten sie, vorzulaufen und sich dann auf die Lauer zu legen, bis er an ihrem Versteck vorbeikam, um dann herauszuspringen und ihn hinterrücks zu überfallen.
Vorgewarnt war gut gewappnet, doch sie waren immerhin zu dritt - zu viert, wenn er das Mädchen mitrechnete -, und er bezweifelte, dass sich die Pastetenverkäufer und das Lumpengesindel auf der Straße gedrängt fühlen würden, ihm zur Hilfe zu eilen. Kurz entschlossen machte er kehrt und bog geduckt in die Gasse ein, in der die Taschendiebe verschwunden waren. Er schob eine Hemdfalte beiseite, um den Dolch griffbereit zu haben.
Die Straße war schäbig gewesen; die Gasse war widerlich, eng, dunkel und halb von Abfällen verstopft. Eine Ratte, die schon von den Taschendieben aufgestört worden war, zischte ihn von einem Abfallhaufen an; er schwang die Flasche und schleuderte damit das Tier gegen die Wand, auf der es mit einem zufriedenstellenden, saftigen Geräusch aufprallte, bevor es schlaff zu seinen Füßen landete. Er trat es beiseite und ging weiter, die Flasche schlagbereit und die Hand am Dolch, während er vor sich auf Schritte lauschte.
Die Gasse gabelte sich und vollführte eine Rechtskurve zurück zu der Straße, von der er gekommen war; er blieb stehen und lauschte, dann riskierte er einen raschen Blick um die Ecke. Ja, da waren sie, sprungbereit hingehockt, Stöcke in der Hand. Das verfluchte Mädchen hatte ein Messer oder eine Glasscherbe in der Hand; er sah es glitzern, als sie sich bewegte.
Nur noch ein paar Sekunden, und sie würden begreifen, dass er nicht die Straße entlangkam. Er schritt lautlos an der Gabelung vorbei und bahnte sich, so schnell er konnte, seinen Weg durch das Gerumpel der linken Gasse. Er musste über nasse Abfallhaufen klettern und sich auf dem Hof eines Tuchwalkers seitlich durch die aufgehängten Stoffbahnen zwängen, was seinem Anzug übel mitspielte, doch schließlich kam er auf einer breiteren Straße aus.
Er erkannte die Straße nicht, konnte jedoch die Kuppel der St.-Pauls-Kathedrale in der Ferne sehen und sich daran orientieren. Trotz des Gestanks nach Hundehaufen und fauligem Kohl fiel ihm das Atmen jetzt leichter. Er richtete seine Schritte nach Osten und wandte sich in Gedanken dem nächsten Punkt auf seinem Tagesplan unangenehmer Pflichten zu, nämlich der erneuten Suche nach einer Lücke in der Wolkendecke, die die Wahrheit über Tim O'Connells Leben und Tod verhüllte.
Am Morgen war eine Note des rätselhaften Mr. Bowles eingetroffen, die besagte, dass man keine weiteren Verbindungen zwischen dem verstorbenen Sergeant und irgendwelchen bekannten ausländischen Agenten entdeckt hatte. Grey fragte sich grimmig, wie viele unbekannte Agenten es wohl in London geben mochte.
Konstabler Magruder war am Abend zuvor persönlich vorbeigekommen, um zu berichten, dass die Nachforschungen im »Turk's Head«, dem Schauplatz der Prügelei vom Samstag, zu keinem Ergebnis geführt hatten. Der Besitzer des Wirtshauses bestand hartnäckig darauf, dass O'Connell die Schänke betrunken, aber auf den eigenen Füßen verlassen hatte. Er räumte zwar ein, dass es in der fraglichen Nacht zu einer Rauferei gekommen war, behauptete jedoch unbeirrbar, dass das Einzige, was dabei Schaden genommen hatte, ein Fenster seiner Wirtschaft gewesen war, als ein Gast einen anderen mit dem Kopf zuerst hindurchgeworfen hatte. Man hatte keine Zeugen gefunden, die O'Connell später an diesem Abend gesehen hatten - oder die bereit waren, es zuzugeben.
Grey seufzte, und die Seifenblase seiner sanften Hochstimmung platzte. Bowles war davon überzeugt, dass O'Connell der Verräter war - und wahrscheinlich war er es ja auch. Doch je länger die Ermittlungen andauerten, desto mehr entstand auch bei Grey der Eindruck, dass O'Connells Tod eine rein persönliche Angelegenheit gewesen war. Und wenn das der Fall war, lagen die Verdächtigen auf der Hand.
Das war also der nächste Schritt: die Verhaftung Finbar Scanions und seiner Frau. Nun, wenn es sein musste, musste es sein.
Unter den Umständen war die Vorgehensweise klar. Man musste sie festnehmen und getrennt verhören. Quarry würde Scanion klarmachen, dass man Francine höchstwahrscheinlich für den Mord an O'Connell hängen würde, wenn sich nicht beweisen ließ, dass sie nicht in das Verbrechen verwickelt war -und was für einen Beweis konnte es außer Scanions Schuldeingeständnis dafür geben?
Natürlich hing der Erfolg von der Voraussetzung ab, dass Scanion die Frau nicht nur genug liebte, um für sie zu morden, sondern auch, um für sie zu sterben - und es war möglich, dass dem nicht so war. Allerdings war es ein guter Anfang. Und wenn es nicht funktionierte, nun, dann konnte man der Frau die gleiche Argumentation, bezogen auf ihren neuen Ehemann, vielleicht mit mehr Erfolg vortragen.
Es war eine schmutzige Angelegenheit, und es bereitete ihm kein Vergnügen, sie zu lösen. Doch es war nun einmal notwendig - und das Ganze beinhaltete immerhin einen kleinen Hoffnungsschimmer. Wenn O'Connell tatsächlich die Listen gestohlen hatte und sie zum Zeitpunkt seines Todes noch nicht weitergegeben hatte, dann wussten höchstwahrscheinlich entweder Scanion, Francine oder Iphigenia Stokes, wo sie waren, selbst wenn ihn keiner von ihnen deswegen umgebracht hatte.
Wenn er oder Quarry den Verdächtigen auch nur das Geringste entlocken konnten, was einem Geständnis ähnelte, so war es möglich, dass man offiziell Gnade walten ließ und das Strafmaß milderte - wenn die gestohlenen Unterlagen gefunden wurden. Er war sich sicher, dass er, Harry Quarry und der mysteriöse Mr. Bowles eine Deportationsstrafe anstelle der Hinrichtung arrangieren konnten, und er hoffte, dass es so enden würde.
Allerdings hatte er die Befürchtung, dass sich die gestohlenen Aufzeichnungen gegenwärtig in Frankreich befanden, weil Jack Byrd sie dorthin gebracht hatte. Und in diesem Fall.
Trotz seiner verschlungenen Gedankengänge hatte seine Wachsamkeit nicht nachgelassen, und der Klang rennender Schritte hinter ihm auf der Straße ließ ihn herumfahren, beide Hände an seinen Waffen.
Doch sein Verfolger war kein Taschendieb, sondern vielmehr sein Kammerdiener Tom Byrd.
»Mylord«, keuchte der Junge und blieb neben ihm stehen. Er beugte sich vor, die Hände auf die Knie gestützt, und hechelte wie ein Hund, um wieder zu Atem zu kommen. »Ich hab Euch gesucht. Euch gesehen. und bin gerannt. was. habt Ihr. mit Eurem Anzug gemacht?«
»Das spielt keine Rolle«, sagte Grey kurz. »Ist etwas passiert?«
Byrd nickte und schnappte nach Luft. Sein Gesicht war knallrot und schweißüberströmt, doch zumindest konnte er Worte bilden.
»Konstabler Magruder. Er schickt - sagt, kommt so schnell wie möglich. Er hat eine Frau gefunden. Eine tote Frau - in einem grünen Samtkleid.«
Da er sich bewusst war, welche Bedeutung diese Entdeckung möglicherweise haben konnte und wie wichtig Diskretion war, hatte Konstabler Magruder die Leiche praktischerweise in das Regimentsquartier am Cadogan Square bringen lassen, wo man sie im Heuschober untergebracht hatte - zum Entsetzen von Korporal Hicks, der für die Pferde zuständig war. Das erzählte Harry Quarry, den man vom Essen holte, um sich dieser neuen Entwicklung anzunehmen, Grey bei dessen Eintreffen auf dem Hof.
»Was ist mit Eurem Anzug passiert?«, fragte Quarry und betrachtete die diversen Flecken mit Interesse. Er rieb sich mit dem Finger die Nase. »Puh.«
»Das spielt jetzt keine Rolle«, sagte Grey mürrisch. »Kennt Ihr die Frau?«
»Ich glaube, dass nicht einmal ihre Mutter sie erkennen würde«, sagte Quarry und wandte sich um, um zu den Stallungen vorauszugehen. »Bin mir ziemlich sicher, dass ich das Kleid schon einmal gesehen habe, in Maggies Haus. Ist aber mit Sicherheit nicht Maggie - überhaupt keine Titten.«
Plötzliche Angst verwandelte Greys Inneres in Wasser. Himmel, konnte es Nessie sein?
»Wenn Ihr sagt, ihre Mutter würde sie nicht erkennen - hatte sie. lange im Wasser gelegen?«
Quarry warf ihm einen verwirrten Blick zu.
»Sie hat überhaupt nicht im Wasser gelegen. Man hat ihr das Gesicht eingeschlagen.«
Er spürte, wie ihm die Galle hochkam. Hatte die kleine Hure in der Hoffnung, ihm noch weiter zu helfen, neugierig herumgestöbert und war wegen ihrer Einmischung ermordet worden? Wenn sie seinetwegen ermordet worden war, und auf eine solche Weise. Er entkorkte die Weinflasche und trank
einen großen Schluck, dann reichte er sie Quarry.
»Gute Idee. Sie mieft wie ein Franzosenarsch; ist schon ein oder zwei Tage tot.« Harry hob die Flasche, hielt sie schräg und trank. Danach sah er schon glücklicher aus. »Das ist ein guter Tropfen.«
Grey sah, wie Tom Byrd einen sehnsüchtigen Blick auf die Flasche warf, doch Quarry behielt sie fest im Griff, während er durch die Stallungen voranschritt.
Magruder erwartete sie mit einem seiner Untergebenen vor der Tür des Schobers.
»Mylord.« Magruder neigte den Kopf und sah Grey neugierig an. »Was ist mit Eurem -«
»Wo habt Ihr sie gefunden?«, unterbrach Grey.
»Im St. James Park«, erwiderte der Konstabler. »Im Gebüsch neben dem Weg.«
»Wo?«, sagte Grey ungläubig. St. James war das Revier der Kaufleute und Aristokraten; hier ging spazieren, wer jung, reich und populär war, um zu sehen und gesehen zu werden. Magruder zuckte etwas defensiv mit den Achseln.
»Ein paar Leute auf einem frühen Morgenspaziergang haben sie gefunden - oder besser, ihr Hund.« Er trat zurück und winkte die Soldaten vor sich her durch die Tür zur Sattelkammer. »Es war sehr viel Blut geflossen.«
Greys erster Gedanke beim Anblick der Leiche war, dass der Konstabler ein Meister der Untertreibung war. Sein zweiter Gedanke war tiefe Erleichterung; die Leiche war in der Tat ziemlich flachbrüstig, jedoch viel zu groß, um Nessie zu sein. Außerdem war das Haar dunkler als das der schottischen Hure -fast schwarz -, und es war zwar dicht und wellig, doch es hatte keine Ähnlichkeit mit Nessies wilder Lockenmähne.
Das Gesicht war im Großen und Ganzen ausradiert; zerstört durch wütende Hiebe mit der Rückseite eines Spatens oder einem Schüreisen. Grey unterdrückte seinen Abscheu - Quarry hatte Recht gehabt, was den Geruch betraf - und umkreiste langsam den Tisch, auf den man die Leiche gelegt hatte.
»Meint Ihr, es ist das gleiche?«, fragte Quarry, der ihn beobachtete. »Das Kleid, meine ich. Ihr habt doch ein Auge für solche Dinge.«
»Da bin ich mir einigermaßen sicher. Die Spitze.« Er wies auf die weiten Einsätze des Leibchens, die zu den Kanten des Halstuches passten. Das Halstuch selbst hing lose über dem Tisch, zerrissen und blutgetränkt, aber nach wie vor an das Kleid geheftet. »Sie ist aus Valenciennes. Sie ist mir im Bordell besonders aufgefallen, weil sie der Spitze am Hochzeitskleid meiner Cousine sehr ähnlich sieht - das ganze Haus meiner Mutter ist voll davon. Allerdings eine teure Sache.«
»Also nicht alltäglich.« Quarry betastete das zerrissene Tuch.
»Ganz und gar nicht.«
Quarry nickte und wandte sich an Magruder.
»Ich denke, wir werden uns mit einer Puffmutter namens Maggie unterhalten müssen - hat ihr Haus an der Meacham Street, kennt Ihr es? Eine echte Schande«, fügte er hinzu und wandte sich wieder zu Grey um. »Die Blonde mit den großen Titten hat mir wirklich gefallen.«
Grey nickte, obwohl er nur halb zuhörte. Das Kleid selbst war so mit Blut und Schmutz verkrustet, dass die Farbe fast nicht zu erkennen war; nur in den herabhängenden Falten des Rockes war noch Smaragdgrün zu sehen. In der Abgeschlossenheit der Kammer war der Geruch sehr stark - Quarry hatte Recht, sie stank wie ein.
Er beugte sich dichter über die Leiche, die Hände auf dem Tisch, und schnüffelte kräftig. Zibet. Er hätte schwören mögen, dass er Zibet roch - und noch etwas. Die Leiche war parfümiert, auch wenn der Duft von den erdigeren Gerüchen nach Blut und Dung fast überdeckt wurde.
»Sie benutzt einen teuren Duft. Zibet, Vetiver und Orange, wenn ich mich nicht irre.« In seinem Kopf konnte er Richard Caswells Stimme hören, trocken wie die Blumen auf einem Grab. »Sie hat dunkles Haar - fast schwarz. Eure Cousine ist meines Wissens blond?«
Erregung und böse Vorahnungen verkrampften ihm den Magen, als er sich über die Tote beugte. Es musste so sein; dies war Trevelyans mysteriöse Geliebte. Doch was war mit ihr geschehen? Hatte ihr Mann - wenn sie einen hatte - die Affäre entdeckt und Rache genommen? Oder hatte Trevelyan.
Er schnüffelte noch einmal, gierig nach Bestätigung.
Wo trugen Frauen Parfüm? Hinter den Ohren - nein, unmöglich; die Leiche hatte nur ein Ohr, das andere war nicht geeignet. zwischen den Brüsten vielleicht; er hatte schon einmal gesehen, wie sich seine Mutter vor einem Dinner ein parfümiertes Tüchlein in ihr Mieder steckte.
Er neigte den Kopf, um noch einmal tiefer einzuatmen, und sah das kleine, geschwärzte Loch in der Mitte des Leibchens, das in der allgemeinen Verwüstung nicht auffiel.
»Hol mich der Teufel«, sagte er und blickte zu der Phalanx verwunderter Gesichter auf, die über ihm hing. »Sie ist erschossen worden.«
»Wollt Ihr noch etwas wissen, Mylord?«, flüsterte es neben ihm. Tom Byrd, der sich inzwischen ein wenig an unappetitliche Anblicke gewöhnt hatte, hatte sich dichter herangeschoben und blickte fasziniert auf das zerschmetterte Gesicht der Leiche.
»Was denn, Tom?«
Der Finger des Jungen schwebten zögernd über den Tisch und deuteten auf etwas, das Grey für einen Schmutzfleck hinter dem Kiefer gehalten hatte.
»Sie hat Koteletten.«
Die Leiche war in der Tat die eines Mannes. So verblüffend diese Tatsache jedoch war, sie stand nicht länger im Mittelpunkt des Interesses, sobald sie die Fetzen des grünen Kleides entfernt hatten, um sich Klarheit zu verschaffen.
»So etwas habe ich im Leben noch nicht gesehen«, sagte Harry Quarry, der den Toten mit einer Mischung aus Ekel und Faszination betrachtete. »Ihr, Magruder?«
»Nun, dann und wann bei einer Frau«, sagte der Konstabler und spitzte kritisch die Lippen. »Wie ich höre, machen einige Huren es regelmäßig. Als Kuriosität.«
»Oh, Huren, ja, natürlich.« Quarry wedelte mit der Hand, um anzuzeigen, dass ihm dies nicht nur vertraut war, sondern er geradezu alltäglich damit umging. »Aber das hier ist ein Mann, verdammt! Ihr habt doch so etwas noch nie gesehen, oder, Grey?«
Grey hatte so etwas allerdings schon gesehen, sogar mehr als nur einmal, auch wenn es keine Vorliebe war, die ihn persönlich ansprach. Das konnte er jedoch hier kaum sagen, und er schüttelte den Kopf und riss die Augen auf, um sich den Anschein schockierten Unverständnisses angesichts der Abgründe menschlicher Perversion zu geben.
»Mr. Byrd«, sagte er und machte Platz, damit Tom dichter herantreten konnte. »Ihr seid doch unser Experte in der Kunst des Rasierens; was könnt Ihr uns hierzu sagen?«
Die Nase gegen den Leichengeruch zusammengekniffen, winkte Tom, der Barbierssohn, den Laternenträger dichter heran und beugte sich über die Leiche, um einen professionellen Blick auf ihre Körperflächen zu werfen.
»Nun«, sagte er wohl überlegt, »er macht es - machte es, meine ich - regelmäßig. Oder vielmehr hat es jemand anders für ihn gemacht - eine ordentliche, professionelle Arbeit. Da, man sieht keine Schnitte oder Schabespuren und das hier ist eine schwierige Stelle.« Er zeigte mit dem Finger darauf und runzelte die Stirn. »Das ist allein kaum zu machen, glaube ich.«
Quarry machte ein Geräusch, das ein Lachen hätte sein können, verwandelte es jedoch hastig in ein keuchendes Husten.
Ohne ihn zu beachten, streckte Byrd die Hand aus und strich ganz vorsichtig am Bein der Leiche hinauf.
»Oh, ja«, sagte er zufrieden. »Spürt Ihr das, Mylord? Man kann die Stoppeln spüren, ziemlich spitz, wenn man gegen den Strich darüberstreicht. So wird es, wenn ein Mann sich regelmäßig rasiert. Wenn er sich nicht öfter als ein- oder zweimal im Monat rasiert, bekommt er normalerweise Pöckchen - das Haar rollt sich nämlich beim Wachsen unter der Haut zusammen. Hier ist aber nichts.«
So war es. Die Haut der Leiche war glatt und an den Armen und Beinen, auf Brust und Pobacken und im Schambereich vollkommen haarlos. Abgesehen von den Schmierspuren aus Blut und verkrusteten Fäkalien und dem kleinen schwarzen Loch der Schusswunde in seiner Brust wurde die blassolivbraune Perfektion der Haut des Mannes nur durch das dunkle Lilabraun seiner Brustwarzen und die kräftigeren Töne der ziemlich gut bestückten Region zwischen seinen Beinen unterbrochen. Grey war überzeugt, dass der Mann in gewissen Kreisen sehr populär gewesen wäre.
»Er hat Haarstoppeln. Also hat die Rasur vor dem Tod stattgefunden?«
»Oh, ja, Mylord. Wie gesagt - er macht es regelmäßig.«
Quarry kratzte sich am Kopf.
»Hol mich doch der Teufel. Glaubt Ihr also, dass er eine Hure ist? Eine Art Sodomit?«
Grey wäre jede Wette darauf eingegangen, hätte er nicht eines beobachtet. Der Mann war schlank, jedoch gut gebaut und muskulös, wie Grey selbst. Doch seine Brust- und Armmuskeln zeigten eine erste Tendenz durchzuhängen, weil sie nicht benutzt wurden, und er hatte eine gut sichtbare Speckrolle an der Taille. Fügte er diesen Beobachtungen die Tatsache hinzu, dass der Mann tiefe Falten am Hals hatte und dass seine Handrücken trotz einer makellosen Maniküre dicke Adern und Knoten hatten, so war sich Grey hinreichend sicher, dass die Leiche einem Mann Ende dreißig oder Anfang vierzig gehörte. Es gab kaum männliche Prostituierte, die älter waren als zwanzig.
»Nein, zu alt«, widersprach Magruder und ersparte Grey die Notwendigkeit, einen Weg zu finden, genau dies zu sagen, ohne zu enthüllen, woher er es wusste. »Dieser Kerl gehört eher zu denen, die so jemanden mieten.«
Quarry schüttelte missbilligend den Kopf.
»Hätte nie gedacht, dass Maggie solche Geschäfte macht«, sagte er ebenso bedauernd wie tadelnd. »Dann seid Ihr Euch sicher, was das Kleid angeht, Grey?«
»Ziemlich. Es ist natürlich nicht undenkbar, dass ein Schneider das gleiche Kleid zweimal anfertigt - aber wer auch immer dieses hier genäht hat, hat auch dasjenige genäht, das Magda anhatte.«
»Magda?« Quarry sah ihn blinzelnd an.
Grey räusperte sich, als ihn plötzlich eine schreckliche Erkenntnis überkam. Quarry hatte es nicht gewusst.
»Die. äh. Schottin, deren Bekanntschaft ich dort gemacht habe, hat mir berichtet, dass die Puffmutter Magda heißt und in Wirklichkeit, äh, Deutsche ist.«
Quarrys Gesicht sah im Schein der Laterne verkniffen aus.
»Deutsche«, wiederholte er tonlos. Es spielte eine große Rolle, was für eine Deutsche, und Quarry war sich dessen sehr wohl bewusst. Preußen und Hannover waren natürlich Verbündete Englands, während sich das Herzogtum Sachsen auf die Seite Frankreichs und Russlands gestellt hatte, um seinen Nachbarn Österreich zu unterstützen. Wenn ein englischer Oberst ein Bordell besuchte, das einer Deutschen gehörte, deren Herkunft und Sympathien unbekannt waren und die nun offenbar in kriminelle Angelegenheiten verstrickt war, rückte ihn dies in ein ungünstiges Licht. Quarry konnte nur hoffen, dass niemand offiziell Notiz davon nahm. Oder dass der unerschütterliche Mr. Bowles niemals Wind davon bekam.
Greys Ruf würde es auch nicht besonders gut tun. Er begriff jetzt, dass er damals die Situation Quarry gegenüber hätte erwähnen müssen, anstatt davon auszugehen, dass dieser bereits über Magdas Hintergrund Bescheid wusste. Doch er hatte zugelassen, dass ihn übermäßiger Alkoholgenuss und Nessies Enthüllungen über Trevelyan ablenkten - und jetzt konnte er nur noch hoffen, dass ihn dies nicht teuer zu stehen kommen würde.
Harry Quarry atmete tief ein und aus und richtete sich auf. Einer von Harrys vielen Vorteilen war, dass er niemals Zeit mit Vorwürfen verschwendete und - anders als Bernard Sydell -niemals Untergebenen den schwarzen Peter zuschob, selbst wenn sie es verdient hatten.
»Nun denn«, sagte er und wandte sich an Magruder. »Ich denke, wir müssen Mrs. Magda unverzüglich verhaften und verhören lassen. Außerdem werden wir wohl ihren Grund und Boden durchsuchen müssen - braucht Ihr dazu eine Vollmacht von einem Magistraten?«
»Ja, Sir. Angesichts der Umstände -«, Magruder wies mit einem angedeuteten Kopfnicken auf den Toten, »- glaube ich nicht, dass der Magistrat Einwände haben wird.«
Quarry nickte und rückte den Rock auf seinen Schultern zurecht.
»Aye. Ich werde selbst mitkommen und mit ihm sprechen.« Er trommelte unruhig mit den Fingern auf den Tisch, und die Vibrationen ließen die Hand der Leiche erzittern. »Grey - ich meine, wir sollten auch die Scanions festnehmen lassen, wie Ihr geraten habt; geht morgen im Gefängnis vorbei, sobald Magruder Gelegenheit gehabt hat, ihrer habhaft zu werden. Und was. den Gentleman aus Cornwall betrifft. das entscheidet
Ihr am besten selbst, ja?«
Grey brachte ein Nicken zuwege und verfluchte sich für seine Dummheit. Dann waren Quarry und Magruder fort, und die gesichtslose, nackte Leiche starrte ihm im flackernden Licht entgegen.
»Seid Ihr jetzt in Schwierigkeiten, Mylord?« Tom Byrd sah ihn mit sorgenvoll gerunzelter Stirn aus dem Halbdunkel an. Offenbar waren ihm die Untertöne des vorangegangenen Gesprächs nicht entgangen.
»Ich hoffe nicht.« Er stand da und blickte auf den Toten hinunter. Wer zum Teufel war er? Grey war überzeugt gewesen, dass es sich bei der Leiche um Trevelyans Geliebte handelte -und das konnte ja auch immer noch sein, sagte er sich. Es stimmte zwar, dass Caswell darauf beharrt hatte, dass es eine Frau war, die Trevelyan im »Lavender House« traf, doch Caswell konnte sich in seinen olfaktorischen Fähigkeiten getäuscht haben - oder er konnte aus unbekannten Gründen gelogen haben.
Das entscheidet am besten selbst, hatte Harry gesagt. Und er konnte zu keinem besseren Schluss kommen, als dass Trevelyan bis über beide Ohren in der Sache steckte - dass es jedoch keine direkten Beweise gab.
Es gab mit Sicherheit keine Beweise, die die Scanions mit dieser Angelegenheit in Verbindung gebracht hätten, und herzlich wenig, was sie mit dem Mord an O'Connell in Verbindung brachte - doch Harrys Grund für die Anordnung ihrer Verhaftung lag auf der Hand; falls es irgendwann Fragen zum Ablauf der Ermittlungen gab, war es klug, darauf verweisen zu können, dass man offensiv vorgegangen war. Je mehr Schlamm sie im Wasser aufwirbelten, desto weniger wahrscheinlich war es, dass sich später jemand auf die unangenehme Frage nach Magdas Nationalität besann.
»Major?« Er drehte sich um und sah Korporal Hicks stirnrunzelnd in der Tür stehen. »Ihr habt doch nicht vor, das da hier zu lassen, oder?«
»Oh. Nein, Korporal. Ihr könnt die Leiche zum Leichenbeschauer bringen. Holt ein paar Männer.«
»Gut, Sir.« Hicks verschwand mit Feuereifer, doch Grey zögerte. Gab es noch irgendwelche Informationen, die die Leiche preisgeben konnte?
»Glaubt Ihr, es war derselbe Kerl, der Sergeant O'Connell umgebracht hat, der auch den hier ermordet hat?« Tom Byrd war neben ihn getreten.
»Ich habe keinen Grund zu dieser Annahme«, sagte Grey, den diese Frage ein wenig erschreckte. »Warum?«
»Nun, das, äh, Gesicht.« Tom deutete etwas gehemmt auf die Überreste und schluckte hörbar. Der eine Augapfel war so weit aus seiner Höhle gepresst worden, dass er auf der zerschmetterten Wange baumelte und anklagend ins Halbdunkel des Heuschobers starrte. »Sieht doch so aus, als hätte der Täter nicht besonders viel für ihn übrig gehabt - genauso wie bei dem Mann, der auf dem Sergeant herumgetrampelt ist.«
Grey dachte mit gespitzten Lippen darüber nach. Dann schüttelte er widerstrebend den Kopf.
»Ich glaube nicht, Tom. Ich glaube, dass, wer das hier getan hat -«, er wies auf die Leiche, »- es getan hat, um die Identität des Herrn zu verschleiern, nicht aus persönlicher Abneigung. Es ist Schwerstarbeit, einen Schädel so zu zerschmettern, und sie ist sehr gründlich ausgeführt worden. Man müsste schon absolut rasend vor Hass sein - und wenn das der Fall war, warum ist er dann zuerst erschossen worden?«
»Ist er das? Zuerst erschossen worden, meine ich, Mylord? Denn Ihr habt doch gesagt, dass Tote nicht bluten und dieser hier hat nun wirklich geblutet, also kann er nicht tot gewesen sein, als er. äh.« Er sah das zerschmetterte Gesicht an, dann wandte er den Blick ab. »Aber er konnte so nicht lange
überleben - wozu also noch der Schuss?«
Grey starrte Tom an. Der Junge war blass, doch seine Augen leuchteten vor Eifer, während er seine Argumente vortrug.
»Ihr habt eine ausgesprochen logische Denkweise, Tom«, sagte er. »Warum, in der Tat?« Er blickte einen Moment auf die Leiche hinunter und versuchte, die widersprüchlichen Informationen unter einen Hut zu bringen. Was Tom sagte, leuchtete absolut ein - und doch war er fest überzeugt, dass der Mörder dem Mann das Gesicht nicht aus Wut zertrümmert hatte. Genau wie er überzeugt war, dass wer auch immer auf Tim O'Connells Gesicht getreten war, von genau diesem Gefühl getrieben worden war.
Tom Byrd stand geduldig da und verhielt sich still, während Grey den Tisch umrundete, um sich die Leiche aus allen Blickwinkeln anzusehen. Doch nichts schien das Rätsel zu lösen, und als Hicks' Männer eintraten, gestattete er ihnen, die Leiche in einen Leinensack zu schnüren.
»Wollt Ihr, dass wir das hier auch mitnehmen, Sir?« Einer der Männer ergriff mit spitzen Fingern den nassen Saum des grünen Kleides.
»Das würde nicht einmal der Leichenbestatter wollen«, wandte der andere ein und verzog die Nase angesichts des Gestanks. »Das könnte man keinem Lumpensammler verkaufen, selbst wenn man es wäscht.«
»Nein«, sagte Grey. »Lasst es vorerst liegen.«
»Ihr wollt es aber nicht etwa hier lassen, oder?« Hicks stand mit verschränkten Armen daneben und sah den nassen Samthaufen finster an.
»Nein, ich denke nicht«, sagte Grey und seufzte. »Wir wollen schließlich den Pferden nicht den Appetit verderben, nicht wahr?«
Es war vollkommen dunkel, als sie den Stall verließen, und ein asymmetrischer Mond ging am Himmel auf. Keine Droschke war bereit, sie mit ihrem stinkenden Gepäck mitzunehmen, obwohl es in geteertes Leinen gewickelt war, daher waren sie gezwungen, bis zur Jermyn Street zu laufen.
Den größten Teil des Weges schwiegen sie, und Grey dachte über die Ereignisse des Tages nach und versuchte vergeblich, den Toten irgendwie mit dem Rest des Rätsels in Zusammenhang zu bringen. Es schienen nur zwei Dinge außer Zweifel zu stehen: erstens, dass man erheblichen Aufwand betrieben hatte, um die Identität des Mannes zu verschleiern. Zweitens, dass es irgendeine Verbindung zwischen dem Toten und dem Bordell an der Meacham Street gab - was wiederum bedeutete, dass möglicherweise auch eine Verbindung zu Joseph Trevelyan bestand.
Dies erschien ihm irgendwie falsch; wenn man die erklärte Absicht der Identitätsverschleierung hatte, warum war die Leiche dann in ein solch auffälliges Kleid gewandet? Sein Verstand lieferte ihm die Antwort, indem er ihm verspätet etwas ins Gedächtnis rief, was er zwar gesehen, jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst registriert hatte. Man hatte dem Mann das grüne Kleid nicht nach seinem Tod angezogen - er hatte es angehabt, als auf ihn geschossen wurde.
Daran gab es keinen Zweifel. Das Einschussloch in dem Kleid hatte versengte Kanten, und rings herum hatten sich Pulverkörnchen in den Stoff gebohrt; außerdem waren Stoffpartikel mit der Wunde in der Brust verschmolzen.
Jetzt begann ihm die Sache schon eher einzuleuchten. Wenn das Opfer das Kleid getragen hatte, als der Schuss fiel, und es einen Grund gab, es ihm nicht auszuziehen dann war es sinnvoll, ihm das Gesicht zu zerschmettern, um seine Identität zu verschleiern.
Betrachten wir es einmal von der anderen Seite, dachte er. Wenn Magruder nicht auf den Fall, dass ein grünes Samtkleid auftauchte, vorbereitet gewesen wäre - denn es konnte ja niemand wissen, dass offiziell nach einem solchen gesucht wurde -, was wäre dann wohl geschehen?
Man hätte die Leiche entdeckt und ins nächste Leichenschauhaus gebracht -, welches sich im Fall des St. James Parks wo befand? In der Nähe von Vauxhall vielleicht.
Das war viel versprechend; Vauxhall war ein Viertel, in dem es rau zuging, voller Theater und Vergnügungsparks, die von Prostituierten und von den Königinnen der Nacht frequentiert wurden, die sich auf einem der zahlreichen Maskenbälle einen fröhlichen Abend machen wollten. Er musste Magruder bitten herauszufinden, ob Dienstagabend ein Ball stattgefunden hatte.
Nun denn. Hätte Magruder nicht eingegriffen, wäre die Leiche im Leichenschauhaus gelandet, wo man mit großer Sicherheit davon ausgegangen wäre, dass es eine Prostituierte war, da solche Frauen nicht selten ein gewaltsames Ende nahmen. Schließlich hatte jeder, der die Leiche gesehen hatte, tatsächlich gedacht, dass es eine Frau war, bis Tom, der Barbierssohn, den winzigen Fleck mit den verräterischen Stoppeln erspäht hatte.
Das war es, dachte er, und ein Stoß der Erregung durchfuhr ihn. Das war der Grund, warum man dem Toten das Kleid nicht ausgezogen hatte und warum sein Gesicht zerschmettert war; nicht direkt, um seine Identität zu verschleiern, sondern sein Geschlecht!
Er spürte, wie Tom ihn neugierig ansah, und begriff, dass er ein Geräusch gemacht haben musste. Er sah den Jungen kopfschüttelnd an und ging weiter, zu sehr von seinen Spekulationen gefangen, um sich von einem Gespräch ablenken zu lassen.
Selbst wenn die Wahrheit über das Geschlecht der Leiche ans Licht gekommen wäre, dachte er, hätte man wahrscheinlich angenommen, dass die Leiche der dunklen Halbwelt der
Transvestiten angehörte, die für Geld zu haben waren - niemand, der von Bedeutung war oder vermisst werden würde.
Die Leiche wäre prompt beseitigt worden und je nach Zustand entweder zu einem Sezierer oder in ein Armengrab gebracht worden - in jedem Fall jedoch unwiderrufbar fort, ohne dass die Möglichkeit bestand, dass sie je identifiziert wurde.
Das Ganze löste ein unangenehmes Gefühl in seiner Magengrube aus. Jedes Jahr verschwanden eine ganze Reihe Jungen und junger Männer aus dieser Schattenwelt, und ihr Schicksal - wenn es denn überhaupt bemerkt wurde - wurde normalerweise hinter offiziellen Formulierungen versteckt, in denen es einzig darum ging, die Empfindlichkeiten der Gesellschaft zu beruhigen und daher jeden Hinweis zu vermeiden, dass sie etwas mit unsäglicher Perversion zu tun gehabt haben könnten.
Was bedeutete, dass es einen Grund dafür gegeben hatte, dass man sich bei diesem Mord solche Mühe gegeben hatte - der Tote war jemand von Bedeutung. Jemand, der vermisst werden würde. Das Bündel unter seinem Arm kam ihm plötzlich schwerer vor und zerrte an ihm wie das Gewicht eines abgetrennten Kopfes.
»Mylord?« Tom Byrd legte zögernd die Hand auf das Bündel und bot ihm an, es ihm abzunehmen.
»Nein, Tom, es geht schon.« Er verlagerte das Bündel und steckte es sich fester unter den Arm. »Ich rieche sowieso schon wie ein Schlachthaus; da braucht Ihr Eure Kleider nicht auch noch zu ruinieren.«
Der Junge zog seine Hand mit einem Eifer fort, der Grey verriet, wie tapfer sein Angebot gewesen war. Das Bündel stank abscheulich. Er lächelte vor sich hin, das Gesicht im Dunklen verborgen.
»Ich fürchte, wir haben das Abendessen verpasst - aber ich nehme an, dass die Köchin uns noch etwas gibt.«
»Ja, Mylord.«
Piccadilly lag direkt vor ihnen; die Straßen verbreiterten sich und waren mit Bekleidungshäusern und den Geschäften der Kaufleute gesäumt, nicht mit den Absteigen und Schankhäusern der schmalen Gassen in der Nähe der Queen Street. Um die Abendzeit herrschte reger Verkehr und ein fröhliches Gewimmel von zusammenhanglosen Gesprächsfetzen und Rufen driftete an ihnen vorbei.
Es regnete leicht, und Nebel stieg von den Pflastersteinen zu ihren Füßen auf; die Straßenlaternen flackerten und glühten unter ihren gläsernen Schirmen und beleuchteten die feuchten Steine, sodass der lauernde Schrecken jener Konferenz im Heuschober endlich verflog.
»Gewöhnt man sich daran, Mylord?« Tom sah ihn an, und sein rundes Gesicht machte im flüchtigen Licht einen bestürzten Eindruck.
»Woran? An den Tod, meint Ihr, und an Leichen?«
»Nun. diese Sorte Tod, nehme ich an.« Der Junge wies mit einer schüchternen Geste auf das Bündel. »Ich glaube, es ist etwas anderes als das, was man in einer Schlacht mit ansieht -aber vielleicht irre ich mich.«
»Vielleicht.« Grey verlangsamte die Schritte, um eine Gruppe junger Heißsporne vorbeizulassen, die lachend die Straße überquerten und einer Abteilung berittener Wachen auswichen, deren Harnische in der Nässe glänzte.
»Ich glaube nicht, dass es im Grunde sehr viel anders ist«, sagte er und ging weiter, als das Hufgetrappel am Piccadilly verhallte. »Ich habe schon oft Schlimmeres auf einem Schlachtfeld gesehen. Und ja, man gewöhnt sich daran - es geht nicht anders.«
»Aber es ist doch etwas anderes?«, beharrte Tom. »Das hier?«
Grey holte tief Luft und umfasste seine Bürde mit festerem
Griff.
»Ja«, sagte er. »Und ich möchte dem Mann nicht begegnen, für den es Routine ist.«