Grey revoltierte offen dagegen, weiteres Eiklar zu sich zu nehmen. Tom Byrd leistete ihm hartnäckig Widerstand und ließ nicht zu, dass er Wein trank. Als sie die erste Wegstation erreichten, waren sie widerstrebend zu einem Kompromiss gelangt, und Grey speiste zur ausgesprochenen Belustigung seiner Mitreisenden wie ein Todkranker Brot und Milch zum Abendessen.
Er ignorierte ihre Seitenhiebe genauso wie das fortgesetzte Rumoren in Kopf und Bauch und kritzelte heftig mit einem geborgten, zerfetzten Federkiel und verdorbener Tinte vor sich hin, während er in der anderen Hand einen milchdurchtränkten Brotklumpen hielt.
Zunächst eine Note an Quarry, dann an Magruder, für den Fall, dass die erste verloren ging. Er hatte keine Zeit für eine Verschlüsselung oder sorgfältige Wortwahl - nur die nackten Fakten und die Bitte, so schnell wie möglich Verstärkung zu schicken.
Er unterzeichnete die Noten, faltete sie zusammen und versiegelte sie mit rußigen Kerzenwachstropfen, in die er den lächelnden Halbmond seines Rings drückte. Dabei musste er an Trevelyan und seinen Smaragdring denken, in den der Rabe Cornwalls eingraviert war. Würden sie noch rechtzeitig kommen?
Zum tausendsten Mal zermarterte er sich das Hirn und überlegte, ob es einen schnelleren Weg gab - und zum tausendsten Mal kam er widerstrebend zu dem Schluss, dass es keinen gab. Er war kein schlechter Reiter, doch die Chancen, dass er in seinem gegenwärtigen Zustand einen Höllenritt von London nach Southampton zuwege brachte, waren fast gleich null, selbst wenn er ein gutes Pferd zu seiner Verfügung gehabt hätte.
Es musste Southampton sein, beruhigte er sich zum hundertsten Male. Trevelyan hatte um drei Tage gebeten; nicht genug, um eine Verfolgung zu verhindern - es sei denn, er hatte Greys Tod einkalkuliert. Doch wenn das der Fall war, warum um Zeit feilschen? Warum ihn nicht einfach vergessen, wenn man wusste, dass er bald nicht mehr zur Verfolgung imstande sein würde?
Nein, er musste mit seiner Vermutung Recht haben. Jetzt konnte er nur noch die Postkutsche zur Eile beschwören und hoffen, dass er sich bis zu ihrer Ankunft genug erholt haben würde, um das Nötige tun zu können.
»Fertig, Mylord?« Tom Byrd tauchte neben ihm auf und hielt seinen Gehrock bereit, um ihn um Grey zu legen. »Es ist Zeit zum Aufbruch.«
Grey ließ das Brot spritzend in seine Schüssel fallen und erhob sich.
»Seht zu, dass diese Briefe nach London geschickt werden, bitte«, ordnete er an und reichte dem Kellner die Noten und eine Münze.
»Wollt Ihr das nicht aufessen?«, fragte Byrd mit einem strengen Blick auf die Schüssel, die noch halb voll Brot und Milch war. »Ihr werdet Eure Kraft brauchen, Mylord, wenn Ihr vorhabt -«
»Schon gut!« Grey ergriff eine letzte Scheibe Brot, tunkte sie hastig in die Schüssel und stopfte sie auf dem Weg zur wartenden Kutsche im Gehen in den Mund.
Die Nampara war ein Ostindienfahrer, dessen Silhouette hoch vor einem Himmel voll dahinrasender Wolken aufragte. Ihre Masten ließen den Rest des Schiffsverkehrs zwergenhaft erscheinen. Viel zu groß, um am Kai anzulegen, lag sie weit draußen vor Anker; der Mann, der Grey und Byrd auf seinem Dory zu dem Schiff ruderte, rief einem entgegenkommenden Skiff etwas zu und bekam ein unverständliches Bellen quer über das Wasser zur Antwort.
»Weiß nicht, Sir«, berichtete der Ruderer und schüttelte den Kopf. »Sie wollte bei Ebbe auslaufen, und die fängt jetzt an.« Er hob eines seiner triefenden Ruder und wies kurz auf das graue Wasser, das an ihnen vorbeiströmte, obwohl Grey selbst unter Eid nicht hätte sagen können, in welche Richtung es floss.
Grey, der sich nach einer Nacht und dem Großteil eines Tages in der schaukelnden, hüpfenden Postkutsche noch benommen fühlte, war nicht danach zumute, auf das Wasser zu blicken; alles, was er sah, schien in Bewegung zu sein, und zwar in gegensätzliche und Schwindel erregende Richtungen - Wasser, Wolken, Wind, das schwankende Boot unter ihnen. Wenn er den Mund öffnete, hatte er das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Also begnügte er sich mit einem finsteren Blick in Richtung des Ruderers und einem bedeutungsvollen Griff nach seiner Geldbörse, was als Antwort völlig ausreichte.
»Kann sein, dass sie fort ist, bevor wir sie erreichen aber wir versuchen es, Sir, aye, wir tun, was wir können!« Der Mann verdoppelte seine Anstrengungen und tauchte seine Ruder fest ein. Grey schloss die Augen und klammerte sich fest an das schuppenverkrustete Brett, auf dem er saß, während er versuchte, den durchdringenden Gestank nach totem Fisch zu ignorieren.
»Ahoi! Ahoi!« Der Ruf des Ruderers riss ihn aus seinem zähen Elend, und er sah die Seitenwand des Indienfahrers wie ein Kliff vor sich aufragen. Sie waren zwar noch weit davon entfernt, und doch löschte das riesenhafte Schiff die Sonne aus
und warf einen kalten, dunklen Schatten über sie.
Sogar eine Landratte wie er konnte sehen, dass die Nampara direkt vor der Abfahrt stand. Ganze Scharen kleinerer Boote, von denen er vermutete, dass sie den großen Indienfahrer mit Vorräten beliefert hatten, ruderten an ihnen vorbei auf das Ufer zu und zerstreuten sich wie winzige Fische, die aus der Nähe eines riesigen Seemonsters kurz vor dem Erwachen flohen.
Eine wacklige Strickleiter hing noch an der Seitenwand; während das Dory beilegte und der Fahrer das Boot geschickt mit einem Ruder auf Abstand von der Schiffswand hielt, stand Grey auf, warf dem Ruderer seine Bezahlung zu und ergriff eine Stufe. Eine Welle zog ihm das Boot unter den Füßen weg, und er klammerte sich verzweifelt fest, während sich das Schiff mit ihm hob und senkte.
Eine kleine Flotte von Kotbrocken trieb unter seinen Füßen vorbei, Fäkalien aus der Schiffslatrine. Er wandte das Gesicht nach oben und begann langsam und steif zu klettern, dicht gefolgt von Tom Byrd, der zu verhindern versuchte, dass er stürzte. Schließlich kam er oben an, am ganzen Körper mit kaltem Schweiß bedeckt, Blutgeschmack wie Metall in seinem Mund.
»Ich möchte den Besitzer sprechen«, sagte er keuchend zu dem Handelsoffizier, der Hals über Kopf aus dem Durcheinander der Masten und der Netze aus schwankenden Seilen angestürzt kam. »Sofort, auf Befehl Seiner Majestät.«
Der Mann schüttelte den Kopf, ohne zu beachten, was er sagte, einzig daran interessiert, dass sie nicht im Weg waren. Er wandte sich bereits ab und winkte mit einer Hand nach jemandem, der sie fortbringen sollte.
»Der Kapitän ist beschäftigt, Sir. Wir sind im Begriff loszusegeln. Henderson! Kommt und -«
»Nicht den Kapitän«, sagte Grey und schloss kurz die Augen, weil ihm beim Anblick des wirbelnden Spinnennetzes aus Seilen über ihm schwindelig wurde. Er griff in seinen Rock und tastete nach seiner arg zerknitterten Vollmacht. »Den Besitzer. Ich möchte Mr. Trevelyan sehen - sofort.«
Der Kopf des Offiziers fuhr herum, und er musterte ihn scharf, wobei er in Greys Blickfeld zu schwanken schien wie eine der dunklen Planken, auf denen er stand.
»Ist Euch nicht wohl, Sir?« Die Worte klangen, als kämen sie vom Boden einer Regentonne. Grey feuchtete seine Lippen mit der Zunge an, um zu antworten, doch es kam ihm jemand zuvor.
»Natürlich ist ihm nicht wohl, Dummkopf«, sagte Byrd heftig an seiner Seite. »Aber das spielt jetzt keine Rolle. Ihr bringt jetzt den Major, wohin er es sagt, und zwar plötzlich!«
»Wer seid Ihr denn, mein Junge?« Der Offizier plusterte sich auf und funkelte Byrd an, der sich davon nicht beeindrucken ließ.
»Das spielt ebenfalls keine Rolle. Er sagt, er hat einen Brief vom König, und so ist es auch, also hopp, hopp, Kumpel!«
Der Offizier riss Grey das Papier aus den Fingern, sah das königliche Siegel und ließ es fallen, als stünde es in Flammen. Tom Byrd stellte den Fuß darauf, bevor es davonfliegen konnte, und hob es auf, während der Offizier zurückwich und Entschuldigungen murmelte - oder auch Flüche; Grey konnte es nicht sagen, denn es summte ihm in den Ohren.
»Setzt Ihr Euch nicht besser, Mylord?«, fragte Byrd besorgt, während er versuchte, den Fußabdruck von dem Pergament zu klopfen. »Da drüben ist ein Fass, das gerade niemand benutzt.«
»Nein, danke, Tom. Es geht mir schon besser.« Das stimmte; nach der anstrengenden Kletterpartie kehrten seine Kräfte jetzt zurück, da ihm die kalte Brise den Schweiß trocknete und den Kopf klar fegte. Das Schiff stellte einen viel ruhigeren Untergrund dar als das Dory. Seine Ohren summten immer noch, doch er spannte die Bauchmuskeln an und blickte dem Offizier hinterher. »Habt Ihr gesehen, wohin dieser Mann gegangen ist? Wir sollten ihm folgen; es ist besser, wenn Trevelyan nicht zu sehr gewarnt wird.«
Das Schiff schien in totalem Aufruhr zu sein, obwohl Grey davon ausging, dass das Durcheinander Methode hatte. Seeleute huschten hin und her oder kamen mit der Plötzlichkeit reifer Früchte aus der Takelage geplumpst, und es herrschte ein solches Hin und Her von Rufen, dass er keine Ahnung hatte, wie irgendjemand den einen vom anderen unterscheiden konnte. Ein Vorteil dieses Wahnsinns war jedoch, dass niemand versuchte, sie aufzuhalten, oder gar Notiz von ihrer Anwesenheit nahm, als Tom Byrd sie jetzt durch ein Paar halbhoher Türen und dann über eine Leiter hinunter in die schattenerfüllten Tiefen des Unterdecks führte; als ob man in ein Rattenloch stieg, dachte er dumpf - sind Tom und ich die Frettchen?
Ein kurzer Korridor, dann eine weitere Leiter - folgte Tom vielleicht dem Offizier tatsächlich mithilfe seiner Nase durch die Eingeweide des Schiffs? -, dann eine Kurve, und da: Der Offizier stand vor einer schmalen Tür, durch die Licht in das höhlenartige Unterdeck strömte, und sprach mit jemandem, der darin stand.
»Das ist er, Mylord«, sagte Tom außer Atem. »Das muss er sein.«
»Tom! Tom, Junge, bist du das?«
Eine laute Stimme erklang ungläubig hinter ihnen, und als Grey herumfuhr, sah er seinen Kammerdiener in enger Umarmung mit einem hoch gewachsenen jungen Mann, dessen Gesicht seine Verwandtschaft mit ihm verriet.
»Jack! Ich dachte, du bist tot! Oder ein Mörder.« Tom entwand sich der Umarmung seines Bruders. Sein Gesicht strahlte, doch es lag auch Angst darin. »Bist du ein Mörder, Jack?«
»Nein. Was zum Teufel meinst du damit, du kleines Teiggesicht?«
»So sprichst du nicht mit mir. Ich bin Kammerdiener Seiner Lordschaft, und du bist nur ein Hausdiener, also!«
»Du bist was? Nein, nie im Leben!«
Grey hätte gern gehört, wie sich die Unterhaltung weiterentwickelte, doch seine Pflicht lag in der anderen Richtung. Mit donnerndem Herzen kehrte er den Byrds den Rücken zu und schob sich an dem Schiffsoffizier vorbei, ohne dessen Protest zu beachten.
Die Kabine war geräumig. Heckfenster fluteten sie mit Licht, und er blinzelte in der plötzlichen Helligkeit. Es waren noch mehr Personen anwesend - er war sich ihrer dumpf bewusst -, doch seine Aufmerksamkeit war einzig und allein auf Trevelyan geheftet.
Trevelyan saß auf einer Schiffstruhe. Er trug keinen Rock, hatte einen Hemdsärmel hochgekrempelt und presste mit einer Hand ein blutbeflecktes Tuch gegen seinen Unterarm.
»Guter Gott«, sagte Trevelyan und starrte ihn an. »Nemesis, so wahr ich lebe und atme.«
»Wenn Ihr so wollt.« Grey schluckte eine plötzliche Speichelflut hinunter und holte tief Luft. »Ich verhafte Euch, Joseph Trevelyan, wegen Mordes an Reinhardt Mayrhofer, Kraft meines.« Grey steckte die Hand in seine Tasche, doch Tom Byrd hatte seinen Brief noch. Es spielte keine Rolle; er war ja in Reichweite.
Ein vibrierendes Zittern erhob sich unter seinen Füßen, bevor er weitersprechen konnte, und die Planken schienen sich unter ihm zu regen. Er stolperte und fing sich an einer Ecke des Schreibtischs, Trevelyan lächelte ein wenig reumütig.
»Wir sind unterwegs, John. Was Ihr da hört, ist die Ankerkette. Und dies ist mein Schiff.«
Grey holte erneut tief Luft, als er mit einem fatalen Gefühl seinen Fehler begriff. Er hätte allen Einwänden zum Trotz darauf bestehen sollen, den Kapitän zu sprechen. Er hätte seinen Brief vorzeigen und sicher gehen sollen, dass das Schiff um jeden Preis an der Abfahrt gehindert wurde - doch in seiner Eile, Trevelyan dingfest zu machen, hatte sein Urteilsvermögen versagt. Er hatte an nichts anderes denken können als daran, den Mann zu finden, ihn in die Enge zu treiben und endlich zur Rechenschaft zu ziehen. Und jetzt war es zu spät.
Er war allein, bis auf Tom Byrd. Harry Quarry und Konstabler Magruder wussten zwar, wo er war, doch dieses Wissen würde ihn nicht retten - denn jetzt hatten sie die Segel gesetzt, und ihr Kurs führte sie fort von England und jeder Hilfe. Und er bezweifelte, dass Joseph Trevelyan vorhatte, zurückzukommen und sich der Gerichtsbarkeit des Königs zu stellen.
Allerdings ging er nicht davon aus, dass man ihn über Bord werfen würde, solange noch Land in Sicht war. Vielleicht konnte er den Kapitän ja doch noch erreichen, oder Tom Byrd konnte es; womöglich war es ein Segen, dass Byrd seinen Brief noch hatte; denn so konnte Trevelyan ihn nicht auf der Stelle vernichten. Doch würde ein Kapitän den Besitzer seines Schiffs in Eisen legen oder die Abfahrt eines solchen Riesenschiffs abbrechen, und das nur kraft einer höchst dubiosen Vollmacht?
Er wandte sich von Trevelyans ironischem Blick ab und sah ohne sonderliche Überraschung, dass der Mann, der in der Ecke der Kabine stand, Finbar Scanion war, der lautlos eine Kiste mit Instrumenten und Flaschen aufräumte. »Und wo ist Mrs. Scanion?«, erkundigte er sich und machte kühne Miene zum bösen Spiel. »Ebenfalls an Bord, nehme ich an.«
Scanion schüttelte den Kopf, ein schwaches Lächeln auf den Lippen.
»Nein, Mylord. Sie ist in Irland in Sicherheit. Ich würde sie doch hier nicht in Gefahr bringen.«
Wegen ihres Zustandes, meinte der Mann vermutlich. Keine
Frau würde freiwillig ein Kind an Bord eines noch so großen Schiffes zur Welt bringen.
»Dann wird die Reise also lang?« In seiner Benommenheit war er gar nicht darauf gekommen, Stapleton nach dem Ziel des Schiffes zu fragen. Wäre er rechtzeitig gekommen, hätte das ja auch keine Rolle gespielt. Aber jetzt? Wohin in Gottes Namen waren sie unterwegs?
»Ziemlich lang.« Es war Trevelyan, der das sagte, während er das Tuch von seinem Arm entfernte und das Ergebnis betrachtete. Die empfindliche Haut an der Innenseite seines Unterarms war skarifiziert worden, wie Grey sah; aus den in einem rechteckigen Muster angeordneten Schnitten quoll immer noch Blut.
Trevelyan wandte sich ab, um sich ein frisches Tuch zu nehmen, und Greys Blick fiel auf das Bett hinter ihm. Eine Frau lag reglos hinter den Gazevorhängen. Mit wenigen Schritten war er an der Seite des Bettes angelangt, wo er auf wackligen Füßen stand, während das Schiff erschauernd die Fahrt aufnahm.
»Das ist Mrs. Mayrhofer, nehme ich an?«, flüsterte er, obwohl sie zu tief zu schlafen schien, als dass sie leicht zu wecken gewesen wäre.
»Maria«, sagte Trevelyan leise neben ihm und blickte auf sie hinab, während er sich den Arm verband.
Sie war von der Krankheit ausgezehrt und hatte kaum noch Ähnlichkeit mit ihrem Porträt. Dennoch, dachte Grey, war sie wahrscheinlich eine Schönheit, wenn sie gesund war. Jetzt standen ihre Wangenknochen zu weit vor, wenn ihre Form auch elegant war. Das Haar, das von ihrer hohen Stirn zurückfiel, war dunkel und dicht, wenn auch vom Schweiß verklebt. Sie war ebenfalls zur Ader gelassen worden; ein sauberer Verband war um ihren Ellbogen gewickelt. Ihre Hände lagen offen auf der Bettdecke, und er sah, dass sie Trevelyans Siegelring trug, der ihr lose am Finger hing - den Smaragd mit dem Zeichen des
Rabens von Cornwall.
»Was fehlt ihr denn?«, fragte er, denn Scanion war jetzt an seine andere Seite getreten.
»Malaria«, erwiderte der Apotheker in sachlichem Ton. »Tertianfieber. Geht es Euch gut, Sir?«
So dicht bei ihr konnte er es nicht nur sehen, sondern auch riechen; die Haut der Frau war gelb, und ein feiner Schweißfilm überzog ihre Schläfen. Er roch den seltsamen Moschusgeruch der Gelbsucht durch den Schleier des Parfüms, das sie trug - das gleiche Parfüm, das er an ihrem Mann gerochen hatte, als er tot in einem blutdurchtränkten Kleid aus grünem Samt vor ihm lag.
»Wird sie durchkommen?«, fragte er. Welche Ironie, dachte er, sollte Trevelyan ihren Mann umgebracht haben, um sie zu bekommen, nur um sie jetzt an eine tödliche Krankheit zu verlieren.
»Sie ist jetzt in Gottes Hand«, sagte Scanion und schüttelte den Kopf. »Genau wie er.« Er wies auf Trevelyan, und Grey sah ihn scharf an.
»Was meint Ihr damit?«
Trevelyan seufzte und rollte seinen Ärmel über den Verband.
»Kommt, und trinkt etwas mit mir, John. Wir haben jetzt Zeit genug. Ich erzähle Euch alles, was Ihr wissen möchtet.«
»Ich würde einen direkten Schlag auf den Schädel einer erneuten Vergiftung vorziehen - wenn es Euch sowieso egal ist, Sir«, sagte Grey und funkelte ihn feindselig an. Zu seiner Verärgerung lachte Trevelyan, obwohl er es mit einem Blick auf die Frau im Bett sofort unterdrückte.
»Das hatte ich ganz vergessen«, sagte er, und immer noch verzog ihm ein Lächeln den Mundwinkel. »Ich entschuldige mich, John. Auch wenn Euch das nicht überzeugt«, fügte er hinzu, »aber ich hatte nicht vor, Euch umzubringen - ich wollte Euch nur aufhalten.«
»Vielleicht hattet Ihr es nicht vor«, sagte Grey kalt, »aber ich vermute, es hätte Euch nicht gestört, wenn Ihr mich umgebracht hättet.«
»Nein, das hätte es nicht«, stimmte Trevelyan ihm unverblümt zu. »Ich brauchte Zeit - und ich konnte mich trotz unserer Abmachung nicht darauf verlassen, dass Ihr nichts unternehmen würdet. Ihr hättet sicher in der Öffentlichkeit nichts gesagt - aber wenn Ihr Eurer Mutter davon erzählt hättet, hätte es bis zum Abend ganz London gewusst. Und ich durfte mich nicht aufhalten lassen.«
»Warum solltet Ihr Euch auch über meinen Tod Gedanken machen?«, fragte Grey, denn die Wut über seine eigene Dummheit machte ihn unvorsichtig. »Was ist schließlich einer mehr?«
Trevelyan hatte einen Schrank geöffnet und griff hinein. Bei diesen Worten hielt er inne und wandte Grey sein verwundertes Gesicht zu.
»Einer mehr? Ich habe niemanden umgebracht, John. Und ich bin froh, dass ich Euch nicht umgebracht habe das hätte mir Leid getan.«
Er wandte sich wieder dem Schrank zu und holte eine Flasche und ein Paar Zinnbecher heraus.
»Ihr nehmt doch Brandy? Ich habe zwar Wein, aber er hat sich noch nicht gesetzt.«
Obwohl er wütend und auch argwöhnisch war, ertappte sich Grey dabei, dass er mit einem Kopfnicken annahm, als Trevelyan den bernsteinfarbenen Alkohol einschenkte. Trevelyan setzte sich, trank einen Schluck aus seinem Becher und behielt die aromatische Flüssigkeit im Mund, die Augen genussvoll halb geschlossen. Einen Moment später schluckte er und blickte zu Grey auf, der stehen geblieben war und auf ihn hinuntersah.
Mit einem kleinen Achselzucken streckte er die Hand aus und öffnete eine Schublade des Schreibtischs. Er holte eine dünne Rolle aus schmutzigem Papier heraus und schob sie über den Tisch auf Grey zu.
»Setzt Euch doch, John«, sagte er. »Ihr seht ein wenig blass aus, wenn Ihr verzeiht, dass ich das sage.«
Grey, der sich irgendwie verlegen fühlte und sowohl auf dieses Gefühl als auch auf seine weichen Knie fluchte, ließ sich auf dem angebotenen Hocker nieder und ergriff die Papierrolle.
Es waren sechs Bögen groben Papiers, das sehr abgenutzt war. Sie waren aus einem Tagebuch oder Notizbuch gerissen und auf beiden Seiten eng beschriftet. Das Papier war zunächst zusammengefaltet und dann irgendwann auseinander gefaltet und fest zusammengerollt worden; er musste es mit beiden Händen glätten, um es zu lesen, doch er konnte auf den ersten Blick sehen, was es war.
Er blickte auf und sah, dass Trevelyan ihn mit einem schwach melancholischen Lächeln beobachtete.
»Ist es das, wonach Ihr gesucht habt?«, fragte er.
»Das wisst Ihr ganz genau.« Grey ließ die Papiere los, die sich wieder zu einem Zylinder zusammenrollten. »Woher habt Ihr sie.«
»Von Mr. O'Connell natürlich.«
Der kleine Papierzylinder rollte mit den Schiffsbewegungen sanft hin und her, und das wolkenverhangene Licht der Heckfenster kam ihm mit einem Mal sehr hell vor.
Trevelyan saß da und nippte an seinem Becher. Er schien Grey nicht weiter zu beachten und in seine eigenen Gedanken vertieft zu sein.
»Ihr habt angeboten - Ihr würdet mir sagen, was immer ich wissen will«, sagte Grey und griff ebenfalls nach seinem Becher.
Trevelyan schloss kurz die Augen, dann nickte er und öffnete
sie wieder, um Grey anzusehen.
»Natürlich«, sagte er schlicht. »Es gibt keinen Grund, warum ich es nicht tun sollte - jetzt nicht mehr.«
»Ihr habt gesagt, Ihr habt niemanden umgebracht«, begann Grey vorsichtig.
»Noch nicht.« Trevelyan warf einen Blick auf die Frau in dem Bett. »Es bleibt abzuwarten, ob ich meine Frau umgebracht habe.«
»Eure Frau?«, platzte Grey heraus.
Trevelyan nickte, und Grey erhaschte einen Eindruck des heftigen, aus fünf Jahrhunderten der Piraterie in Cornwall geborenen Stolzes, der normalerweise hinter der höflichen Fassade des Kaufmannsprinzen verborgen lag.
»Meine Frau. Wir sind letzten Dienstagabend getraut worden - durch einen irischen Priester, den Mr. Scanion mitgebracht hatte.«
Grey drehte sich auf dem Hocker um und gaffte Scanion an, der mit den Schultern zuckte und lächelte, aber ansonsten schwieg.
»Ich denke, meine Familie - allesamt gute Protestanten seit den Zeiten König Henrys - wäre außer sich«, sagte Trevelyan mit einem schwachen Lächeln. »Und möglicherweise ist es ja nicht völlig legal. Aber harte Zeiten erfordern nun einmal drastische Maßnahmen - und sie ist Katholikin. Es war ihr Wunsch zu heiraten, bevor.« Seine Stimme erstarb, als er die Frau auf dem Bett ansah. Sie war jetzt unruhig; ihre Glieder zuckten unter der Bettdecke, und ihr Kopf wand sich gequält auf dem Kissen.
»Nicht mehr lange«, sagte Scanion leise, als er seine Blickrichtung sah.
»Bis was geschieht?«, fragte Grey, der sich plötzlich vor der Antwort fürchtete.
»Bis das Fieber zurückkehrt«, erwiderte der Apotheker mit leicht gerunzelter Stirn. »Es ist ein Tertianfieber - es kommt, geht vorbei und kehrt dann am dritten Tag zurück. Und dann wieder von vorn - und wieder. Gestern war sie reisefähig, doch wie Ihr ja seht.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe Chinarinde für sie; eventuell hilft sie.«
»Es tut mir Leid«, sagte Grey förmlich zu Trevelyan, der als Erwiderung ernst den Kopf neigte. Grey räusperte sich.
»Vielleicht wärt Ihr ja dann so freundlich, mir zu erklären, wie Reinhardt Mayrhofer den Tod gefunden hat, wenn nicht durch Eure Hand. Und wie genau diese Papiere in Euren Besitz gelangt sind?«
Trevelyan saß einen Moment da und atmete langsam, dann hob er das Gesicht dem Licht der Fenster entgegen und schloss die Augen wie ein Mann, der die letzten Sekunden seines Lebens vor der Exekution in vollen Zügen genießt.
»Dann muss ich wohl am Anfang beginnen«, sagte er schließlich immer noch mit geschlossenen Augen. »Und das ist der Nachmittag, an dem ich Maria zum ersten Mal erblickt habe. Das war letztes Jahr am 8. Mai bei einem von Lady Bracknells Nachmittagssalons.«
Der Hauch eines Lächelns huschte über sein Gesicht, als sähe er den Anlass erneut vor sich. Er öffnete die Augen und betrachtete Grey mit gelassener Offenheit.
»Ich gehe nie zu solchen Anlässen«, sagte er. »Niemals. Aber ein Herr, mit dem ich geschäftlich zu tun hatte, hatte mich zum Mittagessen ins >Beefsteak< begleitet, und wir stellten fest, dass wir mehr zu besprechen hatten, als sich ohne Eile in der Dauer eines Mittagessens unterbringen ließ. Als er mich daher einlud, ihn zu seiner nächsten Einladung zu begleiten, habe ich es getan. Und. sie war dort.«
Er öffnete die Augen und blickte hinüber zum Bett, wo die Frau lag, reglos und gelb.
»Mir war nicht klar, dass so etwas möglich ist«, bemerkte er und klang beinahe überrascht. »Wenn irgendjemand mir gegenüber so etwas angedeutet hätte, hätte ich ihn verächtlich angeblafft - und doch.«
Er hatte die Frau in der Ecke sitzen gesehen, und ihre Schönheit war ihm aufgefallen - mehr allerdings noch ihre Traurigkeit. Es sah dem Ehrenwerten Joseph Trevelyan nicht ähnlich, sich von Gefühlen überwältigen zu lassen - weder von seinen eigenen noch denen anderer -, und doch zog ihn der heftige Schmerz, der ihre Gesichtszüge zeichnete, ebenso sehr an, wie er ihn verstörte.
Er hatte sie nicht angesprochen, war aber auch nicht imstande gewesen, die Augen lange von ihr abzuwenden. Das war aufgefallen, und seine Gastgeberin hatte ihm bereitwillig erzählt, dass die Frau Maria Mayrhofer war, die Frau eines unbedeutenden österreichischen Adligen.
»Oh, bitte geht zu ihr und sprecht mit ihr«, hatte ihn die Gastgeberin gedrängt, aus deren Verhalten mit jedem Blick, den sie auf ihren schönen, leidenden Gast warf, freundliche Sorge sprach. »Dies ist ihr erster Ausflug in die Gesellschaft seit ihrem traurigen Verlust - ihr erstes Kind, die Arme -, und ich bin sicher, dass ein wenig Aufmerksamkeit ihr gut tun wird!«
Er hatte das Zimmer durchquert, ohne die geringste Ahnung zu haben, was er sagen oder tun sollte - die Sprache der Kondolenz war ihm fremd, und in gesellschaftlicher Konversation war er nicht versiert; sein Metier waren Geschäfte und Politik. Und doch, als seine Gastgeberin sie einander vorgestellt hatte und gegangen war, hatte er sich dabei ertappt, dass er die Hand, die er geküsst hatte, immer noch festhielt und in sanfte braune Augen blickte, in denen seine Seele ertrank. Und ohne einen weiteren Gedanken oder ohne jedes Zögern hatte er gesagt: »Gott steh mir bei, ich liebe Euch.«
»Sie hat gelacht«, sagte Trevelyan, und sein Gesicht hellte sich bei der Erinnerung auf. »Sie hat gelacht und gesagt, >Na dann, Gott steh mir bei!<. Es hat sie von einer Minute zur nächsten verwandelt. Und wenn ich La Dolorosa geliebt hatte, dann war ich. hingerissen. von La Allegretta. Ich hätte alles getan, um zu verhindern, dass der Schmerz in ihre Augen zurückkehrte.« Er blickte erneut zu der Frau in dem Bett hinüber, und seine Fäuste ballten sich unbewusst. »Ich hätte alles getan, um sie zu bekommen.«
Sie war Katholikin und verheiratet; es hatte mehrere Monate gedauert, bis sie seinem Drängen nachgegeben hatte - doch er war ein Mann, der es gewöhnt war zu bekommen, was er wollte. Und ihr Ehemann »Reinhardt Mayrhofer war ein Perverser«, sagte Trevelyan, und sein schmales Gesicht verhärtete sich. »Ein Frauenheld und Schlimmeres.«
Und so hatte ihre Affäre begonnen.
»Das war, bevor Ihr Euch mit meiner Cousine verlobt habt?«, fragte Grey mit einer gewissen Schärfe in der Stimme.
Trevelyan blinzelte und machte einen etwas überraschten Eindruck.
»Ja. Hätte ich irgendwelche Hoffnung gehabt, Maria dazu bewegen zu können, dass sie Mayrhofer verließ, dann wäre ich die Verlobung natürlich nie eingegangen. Doch sie war nicht umzustimmen; sie liebte mich, konnte es jedoch nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren, ihren Mann zu verlassen. Und da das so war.« Er zuckte mit den Achseln.
Da das so war, hatte er nichts Anrüchiges darin gesehen, Olivia zu heiraten, damit sein eigenes Vermögen zu vergrößern und den Grundstein seiner zukünftigen Dynastie mit einer Frau von bester Herkunft zu legen - während er seine leidenschaftliche Affäre mit Maria Mayrhofer weiterführte.
»Macht nicht so ein tadelndes Gesicht, John«, sagte Trevelyan, und sein breiter Mund kräuselte sich ein wenig. »Ich wäre Olivia ein guter Ehemann gewesen. Sie wäre vollkommen
glücklich und zufrieden gewesen.«
Das stimmte zweifelsohne; Grey kannte mindestens ein Dutzend Paare, bei denen sich der Mann eine Geliebte hielt, mit oder ohne Wissen seiner Frau. Und selbst seine eigene Mutter hatte gesagt.
»Ich gehe davon aus, dass Reinhardt Mayrhofer nicht so entgegenkommend war?«
Trevelyan stieß ein kurzes Lachen aus.
»Wir waren mehr als diskret. Obwohl es ihn wahrscheinlich nicht gekümmert hätte - hätte er nicht Kapital daraus schlagen wollen.«
»Also«, versuchte Grey zu raten, »hat er die Wahrheit herausgefunden und versucht, Euch zu erpressen?«
»So einfach ist es nicht im Entferntesten gewesen.«
Vielmehr hatte Trevelyan von seiner Geliebten einiges über die Interessen und Tätigkeiten ihres Mannes erfahren - und da dieses Wissen sein Interesse weckte, hatte er sich darangemacht, mehr zu erfahren.
»Er war kein schlechter Intrigant, Mayrhofer«, sagte Trevelyan und drehte den Becher sanft in seinen Händen, als wollte er das Bouquet des Brandys freisetzen. »Er bewegte sich in der ganzen Gesellschaft und hatte einen guten Riecher für Informationen, die für sich selbst betrachtet wenig Bedeutung hatten, sich jedoch zu etwas Wichtigem zusammensetzen ließen - und entweder verkauft werden konnten oder, wenn sie von militärischer Bedeutung waren, an die Österreicher weitergegeben werden konnten.«
»Natürlich ist Euch nicht in den Sinn gekommen, dies gegenüber einem Vertreter der Autoritäten zu erwähnen? Schließlich ist es Hochverrat.«
Trevelyan holte tief Luft und atmete die Würze seines Brandys ein.
»Oh, ich dachte mir, ich könnte ihn einfach ein Weilchen beobachten«, sagte er ausdruckslos. »Herausfinden, was genau er vorhatte.«
»Herausfinden, ob er etwas tun würde, was Euch von Nutzen sein konnte, meint Ihr.«
Trevelyan spitzte die Lippen und schüttelte langsam den Kopf über seinem Brandy.
»Ihr habt eine ausgesprochen argwöhnische Denkweise, John - hat man Euch das schon einmal gesagt?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort. »Als Hal also mit seinem Verdacht bezüglich Eures Sergeanten O'Connell ankam, drängte sich die Frage auf, ob ich hier möglicherweise zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen könnte, versteht Ihr?«
Hal hatte die angebotenen Dienste Jack Byrds sofort angenommen, und Trevelyan hatte diesem Bediensteten seines Vertrauens die Aufgabe gestellt, den Sergeant zu beschatten. Falls O'Connell die Papiere aus Calais hatte, ließ es sich eventuell arrangieren, dass Reinhardt Mayrhofer davon Wind bekam.
»Es schien mir erstrebenswert herauszufinden, was Mayrhofer mit einem solchen Fund tun würde; zu wem er gehen würde, meine ich.«
»Hmm«, brummte Grey skeptisch. Er betrachtete seinen Brandy argwöhnisch, doch er enthielt kein Sediment. Er trank einen vorsichtigen Schluck und stellte fest, dass er ihm angenehm auf der Zunge brannte und die muffigen Gerüche nach Meer, Krankheit und Sickergrube auslöschte. Er fühlte sich sofort viel besser.
Trevelyan hatte seine Perücke weggelassen. Er trug das Haar kurz geschnitten; es lag flach an und hatte einen unauffälligen Braunton, doch es veränderte seine Erscheinung vollkommen. Manche Männer - Quarry zum Beispiel - waren, wer sie waren, ganz gleich, wie sie sich herausgeputzt hatten, doch Trevelyan nicht. Ordentlich mit seiner Perücke angetan, war er ein eleganter Herr; in Hemdsärmeln und barköpfig, den blutbefleckten Verband um den Arm, hätte er ein Bukanier sein können, der den Untergang eines Beuteschiffes plante, das schmale Gesicht leuchtend vor Entschlossenheit.
»Also habe ich Jack Byrd auf O'Connell angesetzt, wie Hal es erbeten hatte - aber der Kerl hat nichts Besonderes getan! Ist einfach nur seinem Alltag nachgegangen und hat seine Zeit ansonsten mit Schnaps und Huren verbracht, bevor er zu dieser kleinen Näherin heimgegangen ist, mit der er sich eingelassen hatte.«
»Hmm«, sagte Grey erneut, während er absolut erfolglos versuchte, sich Iphigenia Stokes in irgendeiner Hinsicht als klein vorzustellen.
»Ich habe Byrd gesagt, er sollte versuchen, die Stokes herumzubekommen - zu sehen, ob man sie nicht dazu bringen konnte, O'Connell zum Handeln zu bewegen aber sie ist unserem Jack gegenüber überraschend unempfänglich gewesen«, erzählte Trevelyan und schürzte die Lippen.
»Möglicherweise hat sie Tim O'Connell ja tatsächlich geliebt«, merkte Grey trocken an. Trevelyan reagierte, indem er die Augenbrauen hochzog und ungläubig schnaubte. Liebe war offenbar ausschließlich der Oberklasse vorbehalten.
»Jedenfalls -«, Trevelyan tat derartige Überlegungen mit einer Handbewegung ab, »- hat Jack schließlich berichtet, dass O'Connell in einem Wirtshaus die Bekanntschaft eines Mannes gemacht hatte, der zwar selbst nicht wichtig war, von dem aber bekannt war, dass er vage Verbindungen zu einigen Sympathisanten der Franzosen unterhielt.«
»Wem bekannt?«, unterbrach Grey. »Doch wohl nicht Euch.«
Trevelyan warf ihm einen raschen Blick zu, wachsam, aber interessiert.
»Nein, nicht mir. Kennt Ihr zufällig einen Mann, der sich Bowles nennt?«
»Ja, das tue ich. Woher zum Teufel kennt Ihr ihn?«
Trevelyan lächelte schwach.
»Regierung und Handel arbeiten Hand in Hand, John, und was Auswirkungen auf das eine hat, hat auch Auswirkungen auf das andere. Mr. Bowles und ich haben schon seit einigen Jahren eine Abmachung bezüglich des Austauschs kleinerer Auskünfte.«
Er wäre mit seiner Geschichte fortgefahren, doch Grey kam blitzartig eine Einsicht.
»Eine Abmachung, sagt Ihr. Diese Abmachung - hatte sie vielleicht etwas mit einem Etablissement namens >Lavender House< zu tun?«
Trevelyan starrte ihn spöttisch an.
»Das ist sehr klug beobachtet, John«, sagte er und zog eine belustigte Miene. »Dickie Caswell hat mir gesagt, dass Ihr viel intelligenter wärt, als Ihr ausseht - nicht dass Ihr irgendwie den Eindruck machen würdet, dass es Euch an Verstand mangelt«, fügte er hastig hinzu, als er Greys beleidigten Gesichtsausdruck registrierte, »sondern nur, dass Dickie sich gern von männlicher Schönheit beeindrucken lässt und daher zur Blindheit gegenüber anderen Qualitäten eines Mannes neigt, wenn dieser im Besitz derartiger Schönheit ist. Doch ich beschäftige ihn ja schließlich nicht, um solche Unterscheidungen zu treffen, sondern nur, um mir Dinge zu berichten, die möglicherweise von Interesse sind.«
»Ach du lieber Himmel.« Grey spürte, wie ihn der Schwindel erneut zu überwältigen drohte, und sah sich gezwungen, ein paar Sekunden die Augen zu schließen. Dinge, die möglicherweise von Interesse sind. Die bloße Tatsache, dass ein Mann das »Lavender House« besucht hatte - ganz zu schweigen davon, was er möglicherweise dort getan hatte -, war in jedem Fall »von Interesse«. Dieses Wissen ermöglichte es Mr. Bowles -oder seinen Agenten -, Druck auf diese Männer auszuüben. Und die Drohung, bloßgestellt zu werden, zwang sie dann zu tun, was auch immer man von ihnen verlangte. Wie viele Männer hielt die Spinne in ihrem Erpressernetz gefangen?
»Caswell arbeitet also in Eurem Auftrag?«, fragte er. Er öffnete die Augen und schluckte den metallischen Geschmack in seiner Kehle hinunter. »Dann seid Ihr der Besitzer des >Lavender House«
»Und des Bordells an der Meacham Street«, sagte Trevelyan und die Belustigung in seiner Miene nahm noch zu.
»Eine große Hilfe im Geschäftsleben. Ihr wisst ja gar nicht, John, was manchen Männern entschlüpft, wenn Alkohol oder Lust sie im Griff haben.«
»Ach nein?«, sagte Grey. Er trank einen sparsamen Schluck Brandy. »Dann überrascht es mich aber, dass Caswell mir gegenüber so freigiebig mit Auskünften gewesen ist, was Euer eigenes Tun angeht. Er ist es gewesen, der mich informiert hat, dass Ihr dort eine Frau besucht.«
»Hat er das?« Trevelyan sah wenig entzückt darüber aus. »Davon hat er mir gar nichts gesagt.« Er lehnte sich ein wenig zurück und runzelte die Stirn. Dann lachte er kurz auf und schüttelte den Kopf.
»Nun, es ist so, wie meine Großmutter oft zu mir gesagt hat. >Leg dich mit den Schweinen schlafen, und du stehst dreckig auf.< Es hätte Dickie mit Sicherheit wunderbar gepasst, mich festnehmen und einkerkern oder exekutieren zu lassen - und er hat wohl gedacht, die Gelegenheit sei endlich da. Er geht davon aus, dass das >Lavender House< an ihn übergeht, sollte mir irgendetwas zustoßen; ich glaube, es ist allein diese Annahme, die ihn so lange am Leben gehalten hat.«
»Er geht davon aus? Ist es denn nicht so?«
Trevelyan zuckte desinteressiert mit den Achseln.
»Das spielt jetzt keine Rolle mehr.« Er erhob sich unruhig und trat erneut an das Bett. Grey sah, dass er es nicht lassen konnte, sie zu berühren; seine Finger hoben eine feuchte Haarsträhne von ihrer Wange und strichen sie ihr hinter das Ohr. Sie regte sich im Schlaf; ihre Augenlider flatterten, und Trevelyan nahm ihre Hand und kniete sich hin, um ihr etwas zuzumurmeln, während er mit dem Daumen ihre Fingerknöchel streichelte.
Grey sah, dass auch Scanion ihn beobachtete. Der Apotheker hatte angefangen, einen Trank über einer Spirituslampe zu brauen; bitter riechender Dampf begann, aus dem Topf aufzusteigen und sich an den Fenstern niederzuschlagen. Als er wieder zum Bett blickte, sah er durch die Fenster, dass England weit zurückgefallen war; das Land war nur noch als flache Erhebung jenseits der brodelnden See zu sehen.
»Und Ihr, Mr. Scanion«, sagte Grey, der sich jetzt erhob und vorsichtig auf den Apotheker zuging, den Becher in der Hand. »Wie seid Ihr in diese Affäre verwickelt?«
Der Ire warf ihm einen ironischen Blick zu.
»Ach, ist die Liebe nicht umwerfend?«
»Das kann man wohl sagen. Ich nehme an, Ihr bezieht Euch auf die gegenwärtige Mrs. Scanion?«
»Francie, aye.« Es leuchtete warm in den Augen des Iren, als er den Namen seiner Frau aussprach. »Wir haben uns zusammengetan, sie und ich, nachdem ihr verfluchter Mann sich davongemacht hatte. Es war mir egal, dass wir nicht heiraten konnten, obwohl ich es gern getan hätte. Aber dann kommt der Schweinehund zurück!«
Bei diesem Gedanken ballten sich die reinlichen Hände des Apothekers zu Fäusten.
»Hat gewartet, bis ich nicht da war, der Mistkerl. Da komme ich von einem Krankenbesuch nach Hause, und was finde ich? Meine Francie auf dem Boden in ihrem eigenen Blut, das hübsche Gesicht eingeschlagen -« Er hielt abrupt inne und zitterte bei der Erinnerung an seine Wut.
»Ein Mann stand über sie gebeugt; ich dachte, er war's gewesen, und bin auf ihn los. Ich hätte ihn bestimmt umgebracht, wäre Francie nicht so weit bei Bewusstsein gewesen, dass sie mir zuflüstern konnte, nicht er war's gewesen, sondern Tim O'Connell, der sie verprügelt hatte.«
Der Mann, den er angetroffen hatte, war Jack Byrd, der O'Connell zu der Apotheke gefolgt war. Als er die gewaltsame Auseinandersetzung und die Schreie einer Frau gehört hatte, war er die Treppe hinauf geeilt und hatte O'Connell überrascht und vertrieben.
»Der Gute, er war gerade rechtzeitig zur Stelle, um ihr das Leben zu retten«, sagte Scanion und bekreuzigte sich. »Und ich habe zu ihm gesagt, dass ich dafür mit all meinem Besitz in seiner Schuld stehe, doch er wollte keine Belohnung dafür.«
Bei diesen Worten fuhr Grey zu Trevelyan herum, der sich von der Seite seiner Frau erhoben hatte und wieder zu ihnen getreten war.
»Ein sehr nützlicher Mensch, dieser Jack Byrd«, sagte Grey. »Das scheint in der Familie zu liegen.«
Trevelyan nickte.
»Den Eindruck habe ich auch. War das Tom Byrd, den ich draußen im Flur gehört habe?«
Grey nickte ebenfalls, doch er konnte es nicht abwarten, den Rest der Geschichte zu hören.
»Ja. Warum in aller Welt ist O'Connell zu seiner Frau zurückgekehrt, wisst Ihr das?«
Trevelyan wechselte einen Blick mit dem Apotheker, doch es war Trevelyan, der antwortete.
»Wir wissen es nicht genau - aber angesichts der späteren Ereignisse vermute ich, dass er nicht gekommen war, um seine Frau zu sehen, sondern vielmehr, um ein Versteck für die Papiere in seinem Besitz zu suchen. Ich hatte doch gesagt, dass er Verbindung zu einem unbedeutenden Spion aufgenommen hatte?«
Das hatte Jack Byrd Harry Quarry berichtet - und damit auch Mr. Bowles -, doch als der treue Untergebene, der er war, hatte er es auch seinem Arbeitgeber gesagt. So hatte er es schon immer gemacht; zusätzlich zu seinen Aufgaben als Hausdiener hatte er den Auftrag, in Wirtshäusern Gerüchte aufzuschnappen, die sich als interessant oder wertvoll herausstellen konnten und dann je nach Trevelyans Anordnungen weiter verfolgt wurden.
»Also handelt Ihr nicht nur mit Zinn oder indischen Gewürzen«, sagte Grey und sah Trevelyan finster an. »Hat mein Bruder gewusst, dass Ihr zusätzlich mit Informationen handelt, als er Euch um Hilfe bat?«
»Das ist gut möglich«, erwiderte Trevelyan ausdruckslos. »Ich habe Hals Aufmerksamkeit schon öfter auf kleinere Angelegenheiten von Interesse lenken können - und er hat das Gleiche auch schon für mich getan.«
Es war zwar nicht gerade eine Überraschung für Grey, dass Männer von Bedeutung Staatsangelegenheiten vor allem im Interesse ihres persönlichen Wohlergehens betrachteten, doch er war noch nie so unsanft mit dieser Tatsache konfrontiert worden. Aber Hal konnte doch unmöglich die Hand bei einer Erpressung im Spiel gehabt haben. Er würgte den Gedanken ab und widmete sich hartnäckig erneut dem vorliegenden Problem.
»Also, O'Connell hat diesem unbedeutenden Intriganten Avancen gemacht, und Ihr habt davon erfahren. Und dann?«
»O'Connell war nicht damit herausgerückt, was für Informationen er besaß; nur, dass er etwas hatte, was den richtigen Partnern Geld wert sein könnte. «
»Das stimmt mit den Vermutungen der Armee überein«, sagte Grey. »O'Connell war ja kein professioneller Spion; er war sich nur der Wichtigkeit der gestohlenen Listen bewusst, und so hat er die Gelegenheit beim Schopf gepackt. Eventuell kannte er ja jemanden in Frankreich, an den er sie verkaufen wollte - doch dann wurde das Regiment heimgeschickt, bevor er Gelegenheit hatte, seinen Käufer zu kontaktieren.«
»Genau.« Trevelyan nickte voll Ungeduld über die Unterbrechung. »Ich wusste natürlich, um was für Material es sich handelte. Aber ich war der Meinung, dass es von größerem Nutzen sein könnte, die möglichen Interessenten herauszufinden, als die Information einfach zurückzuholen. «
»Natürlich ist es Euch nicht in den Sinn gekommen, diese Überlegungen Harry Quarry oder sonst jemandem mitzuteilen, der mit dem Regiment zu tun hatte«, meinte Grey höflich.
Trevelyans Nasenlöcher weiteten sich.
»Quarry - diesem ungehobelten Klotz? Nein. Hal hätte ich es wohl erzählt - aber er war ja nicht da. Es schien mir das Beste zu sein, die Dinge selbst zu steuern.«
Wie passend, dachte Grey zynisch. Ganz gleich, ob das Wohlergehen der halben britischen Armee von besagten Dingen abhing; natürlich, ein Kaufmann konnte das am besten beurteilen!
Doch an Trevelyans nächsten Worten wurde offensichtlich, dass es ihm um mehr gegangen war als um Geld oder militärische Dispositionen.
»Ich hatte von Maria erfahren, dass ihr Mann mit Geheimnissen handelte«, sagte er und blickte hinter sich auf das Bett. »Ich hatte vor, O'Connell und sein Material als Köder zu benutzen, um Mayrhofer zu einer kriminellen Handlung zu verleiten. Sobald er als Spion entlarvt war.«
»Würde er entweder verbannt oder exekutiert, was Euch viel mehr Freiheit in Bezug auf seine Frau verschafft hätte. Einiges mehr.«
Trevelyan fixierte ihn scharf, beschloss jedoch, nicht auf seinen Tonfall einzugehen.
»Einiges«, sagte er nicht minder ironisch als Grey. »Es war allerdings eine delikate Angelegenheit, alles so zu arrangieren, dass O'Connell und Mayrhofer zusammengebracht werden konnten. O'Connell war ein argwöhnischer Schuft; er hatte lange damit gewartet, die Fühler nach einem Käufer auszustrecken, und er begegnete jeder Avance mit großem Misstrauen.«
Trevelyan stand unruhig auf und trat wieder an das Bett.
»Ich war gezwungen, O'Connell selbst aufzusuchen und mich als möglicher Mittelsmann auszugeben, um den Sergeant anzulocken und ihm zu versichern, dass ihn Geld erwartete -natürlich bin ich verkleidet gegangen und habe ihm einen falschen Namen genannt. Unterdessen war ich allerdings am anderen Ende erfolgreich gewesen und hatte Mayrhofers Interesse geweckt. Er beschloss, mich zu hintergehen - falscher Schurke, der er war! -, und hat einen seiner eigenen Bediensteten auf O'Connells Fährte gesetzt.«
Als er Mayrhofers Namen noch von einer anderen Quelle hörte und begriff, dass sein Gesprächspartner unter falschem Namen agierte, war O'Connell zu dem logischen Schluss gekommen, dass Trevelyan Mayrhofer war und er inkognito verhandelte, um den Preis zu drücken. Daher ging er Trevelyan nach ihrem letzten Treffen nach - und folgte seiner Spur mit Geduld und Geschick zum »Lavender House«.
Da er nach einigen Fragen in der Nachbarschaft die Natur dieses Hauses erkannte, hatte er geglaubt, dem Mann gegenüber, den er für Mayrhofer hielt, beträchtlich im Vorteil zu sein. Er konnte den Mann am Ort seiner vermeintlichen Verbrechen zur Rede stellen und verlangen, was er wollte, ohne notwendigerweise selbst etwas abgeben zu müssen.
Dieser Plan war durchkreuzt worden, als er im »Lavender House« niemanden fand, der den Namen Mayrhofer kannte. Verblüfft, aber hartnäckig hatte sich O'Connell so lange in der
Nähe herumgetrieben, bis er Trevelyan aufbrechen sah, und war ihm bis zu dem Bordell in der Meacham Street zurück gefolgt.
»Ich hätte niemals direkt zum >Lavender House< fahren dürfen«, gab Trevelyan achselzuckend zu. »Doch das Gespräch mit O'Connell hatte länger gedauert als angenommen - und ich hatte es eilig.« Er konnte den Blick nicht von der Frau abwenden. Selbst von dort, wo er saß, konnte Grey sehen, wie ihr die Fieberröte in die blassen Wangen stieg.
»Normalerweise wärt Ihr erst zu dem Bordell gefahren, von dort zum »Lavender House« und wieder zurück, in Eurer Verkleidung?«, fragte Grey.
»Ja. Das war das übliche Arrangement. Niemand wundert sich, wenn ein Mann in ein Bordell geht - oder eine Hure eines verlässt, um einen Kunden aufzusuchen«, sagte Trevelyan. »Aber natürlich konnte Maria mich dort nicht treffen. Gleichzeitig jedoch hätte niemand eine Frau verdächtigt, das >Lavender House< zu betreten; niemand, der wusste, was für ein Haus es ist.«
»Eine geniale Lösung«, sagte Grey mit kaum verhohlenem Sarkasmus. »Eines nur - warum habt Ihr immer ein grünes Samtkleid benutzt? Oder vielleicht Kleider? Habt Ihr und Mrs. Mayrhofer beide diese Verkleidung benutzt?«
Trevelyan sah einen Moment so aus, als verstünde er nicht, doch dann lächelte er.
»Ja, das haben wir«, sagte er. »Warum allerdings Grün -« Er zuckte mit den Achseln. »Ich mag Grün. Es ist meine Lieblingsfarbe.«
O'Connell hatte sich in dem Bordell hartnäckig nach einem Herrn in einem grünen Kleid erkundigt, dessen Name möglicherweise Mayrhofer war - doch Magda und ihre Angestellten hatten ihm nahe gelegt, dass er den Verstand verloren hatte. Das versetzte O'Connell selbstverständlich in helle Aufregung.
»Wie Ihr bemerkt, war er kein erfahrener Spion«, sagte Trevelyan und schüttelte seufzend den Kopf. »Von Anfang an argwöhnisch, kam er jetzt zu der Überzeugung, dass eine Perfidie im Gange war -«
»Was ja auch stimmte«, warf Grey ein, was ihm einen kurzen, verärgerten Blick von Trevelyan einbrachte, der dennoch fortfuhr.
»Also gehe ich davon aus, dass er zu dem Schluss kam, ein sichereres Versteck für seine Papiere zu brauchen und daher in das Quartier seiner Frau an der Brewster's Alley zurückgekehrt ist.«
Wo er die Frau, die er im Stich gelassen hatte, hoch schwanger von einem anderen Mann vorfand und sie mit der Irrationalität der Eifersucht prompt bewusstlos geprügelt hatte.
Grey massierte sich die Stirn und schloss kurz die Augen, um den Schwindeltendenzen seines Kopfes entgegenzuwirken.
»Nun gut«, sagte er. »Bis hierhin ist mir die Affäre einigermaßen klar. Aber«, fügte er hinzu und öffnete die Augen, »es sind immer noch zwei Todesfälle zu erklären. Magda hat Euch doch offenbar erzählt, dass O'Connell Euch ausgekundschaftet hatte. Und doch sagt Ihr, dass Ihr ihn nicht umgebracht habt? Und Mayrhofer auch nicht?«
»Ich bin es gewesen, die meinen Mann umgebracht hat, werter Sir.«
Die Stimme aus dem Bett war leise und heiser und hatte nur den Hauch eines fremdländischen Akzentes, doch die Männer fuhren alle drei zusammen, erschrocken, als sei es ein Trompetenstoß gewesen. Maria Mayrhofer lag auf der Seite, das wirre Haar über das Kissen gebreitet. Ihre Augen waren riesig, glasig vom steigenden Fieber, doch leuchtend vor Intelligenz.
Trevelyan begab sich augenblicklich zu ihr und kniete sich an ihre Seite, um ihre Wange und Stirn zu befühlen.
»Scanion«, sagte er, und ein bittender Unterton mischte sich unter seinen Kommandoton.
Der Apotheker trat sofort neben ihn, berührte sie sanft unter dem Kinn und blickte ihr in die Augen - doch sie wandte den Kopf von ihm ab und schloss die Augen.
»Im Moment geht es mir gut«, sagte sie. »Dieser Mann -«, sie machte eine Handbewegung in Greys Richtung, »wer ist er?«
Grey erhob sich, behielt umständlich das Gleichgewicht, als das Deck unter ihm schwankte, und verbeugte sich vor ihr.
»Ich bin Major John Grey, Madam. Ich bin von der Krone beauftragt, in einer Angelegenheit zu ermitteln -« Er zögerte, unsicher, wie - oder ob - er es ihr erklären sollte. »Einer Angelegenheit, die in gewissem Zusammenhang mit Eurem eigenen Schicksal steht. Habe ich recht verstanden, dass Ihr gesagt habt, Ihr hättet Herrn Mayrhofer umgebracht?«
»Ja, das habe ich.«
Scanion hatte sich zurückgezogen, um sein Höllengebräu zu prüfen, und sie ließ den Kopf wieder zurückrollen, um Grey anzusehen. Sie war zu schwach, um den Kopf vom Kissen zu heben. Und doch lag etwas Stolzes in ihrem Blick - beinahe herausfordernd, trotz ihres Zustandes -, und er ahnte plötzlich, was es war, das Trevelyan so angezogen hatte.
»Maria.« Trevelyan legte ihr warnend die Hand auf den Arm, doch sie beachtete ihn nicht und hielt ihren Blick gebieterisch auf Grey gerichtet.
»Was spielt es für eine Rolle?«, fragte sie. Ihre Stimme war leise, aber kristallklar. »Wir sind jetzt auf dem Wasser. Ich spüre die Wellen, die uns tragen; wir sind entkommen. Das ist doch dein Reich, nicht wahr, Joseph? Die See ist dein Königreich, und wir sind in Sicherheit.« Ein feines Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie Grey beobachtete, und er bekam ein sehr merkwürdiges Gefühl.
»Ich habe eine Nachricht hinterlassen«, glaubte Grey sagen zu müssen. »Mein Aufenthaltsort ist bekannt.«
Das Lächeln nahm zu.
»Es ist also bekannt, dass Ihr nach Indien unterwegs seid«, sagte sie spöttisch. »Glaubt Ihr auch, dass man Euch dorthin folgen wird?«
Indien. Die Dame hatte Grey nicht gestattet, sich in ihrer Gegenwart zu setzen, doch er tat es dennoch. Die Nachgiebigkeit seiner Knie lag zwar auch im Schwanken des Schiffes und den Nachwirkungen der Quecksilbervergiftung begründet - mehr noch allerdings in der Neuigkeit, wie ihr Zielort lautete.
Während er noch gegen das trunkene Gefühl ankämpfte, war sein erster Gedanke Erleichterung, dass er jene dahingekritzelte Notiz an Quarry zuwege gebracht hatte. Wenigstens werden sie mich nicht als Deserteur erschießen, wenn - oder besser, falls -mir irgendwann die Heimkehr gelingt. Er schüttelte kurz den Kopf, um ihn klar zu bekommen, dann setzte er sich gerade hin und biss die Zähne aufeinander.
Es war nicht zu ändern, und momentan blieb ihm nichts anderes übrig, als seine Pflicht zu Ende zu führen, so gut er konnte. Alles Weitere musste er der Vorsehung überlassen.
»Wie dem auch sei, Madam«, sagte er bestimmt. »Es ist meine Pflicht, die Wahrheit über Timothy O'Connells Tod herauszufinden - und alles, was möglicherweise damit zusammenhängt. Wenn es Euer Zustand erlaubt, würde ich gern hören, was immer Ihr mir sagen könnt.«
»O'Connell?«, murmelte sie und verdrehte den Kopf unruhig auf dem Kissen, die Augen halb geschlossen. »Ich kenne diesen Namen, diesen Mann nicht. Joseph?«
»Nein, Liebste, es hat nichts mit dir, mit uns zu tun.« Trevelyans Ton war beruhigend, doch seine Augen durchforschten beklommen ihr Gesicht. Als er von ihm zu ihr blickte, konnte auch Grey es sehen; ihr Gesicht wurde deutlich blasser, als presste ihr irgendeine Kraft das Blut aus der Haut.
Ganz plötzlich lagen graue Schatten in den Mulden ihrer Knochen; die volle Kurve ihres Mundes verblasste und verkrampfte sich, bis ihre Lippen fast verschwanden. Auch ihre Augen schienen zurückzuweichen, wurden stumpf und verschwanden in ihrem Schädel. Trevelyan sprach auf sie ein; Grey spürte die Sorge in seinem Tonfall, achtete jedoch nicht auf die Worte, denn seine ganze Aufmerksamkeit galt der Frau.
Scanion war herbeigetreten, um sie sich anzusehen, sagte etwas. Chinin, irgendetwas über Chinin.
Ein plötzlicher Schauer schloss ihr die Augen und ließ ihre Züge erbleichen. Die Haut selbst schien sich eng um ihre Knochen zu legen, und sie hüllte sich zitternd fester in die Bettwäsche. Grey hatte die Malaria und ihre Schüttelfröste schon öfter gesehen, doch trotzdem erschrak er über die Plötzlichkeit und Heftigkeit der Attacke.
»Madam«, begann er und streckte hilflos die Hand nach ihr aus. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte, hatte jedoch das Gefühl, etwas tun zu müssen, ihr irgendwie Erleichterung bieten zu müssen - sie war so zerbrechlich, so wehrlos im Griff der Krankheit.
»Sie kann nicht mit Euch sprechen«, sagte Trevelyan scharf und ergriff seinen Arm. »Scanion!«
Der Apotheker hatte ein kleines Kohlebecken entzündet; er hatte bereits eine Zange in der Hand und zog einen großen Stein heraus, den er zwischen den Kohlen erhitzt hatte. Diesen ließ er in ein Leinenhandtuch fallen, um ihn dann vorsichtig zum Bett zu tragen, wo er in den Laken nachgrub, um den heißen Stein zu ihren Füßen zu platzieren.
»Kommt mit«, befahl Trevelyan. »Mr. Scanion muss sich um sie kümmern. Sie kann jetzt nicht sprechen.«
Das stimmte eindeutig - und doch hob sie den Kopf und öffnete gewaltsam die Augen, die Zähne fest gegen den Schüttelfrost zusammengebissen.
»J-J-J-Josseph!«
»Was denn, Liebe. Was kann ich tun?« Trevelyan ließ Grey stehen und fiel neben ihr auf die Knie.
Sie ergriff seine Hand und hielt sie fest, während sie gegen die Kälte ankämpfte, die ihr die Knochen durchrüttelte.
»Erzzzähl's ihm. Wenn wir bbeide ttot sind. wäre ich gggerechtfertigt!«
Beide?, wunderte sich Grey. Er hatte jedoch keine Zeit, Spekulationen über die Bedeutung dieser Worte anzustellen; Scanion war mit seinem dampfenden Becher herbeigeeilt und hatte ihren Kopf vom Kissen gehoben. Er hielt ihr das Gefäß an die Lippen und ermunterte sie murmelnd, beschwor sie, daran zu nippen, obwohl die heiße Flüssigkeit überschwappte und von ihren klappernden Zähnen spritzte. Ihre langen Hände hoben sich und schlangen sich um den Becher, klammerten sich fest an die flüchtige Wärme. Das Letzte, was er sah, bevor Trevelyan ihn aus der Kabine schubste, war der Smaragdring, der lose an ihrem knochigen Finger hing.
Er folgte Trevelyan durch das Halbdunkel hinauf ans offene Deck. Die Konfusion des Aufbruchs hatte sich gelegt, und die Hälfte der Mannschaft war unter Deck verschwunden. Grey hatte seine Umgebung vorhin kaum zur Kenntnis genommen; jetzt sah er die Wolken aus schneeweißem Leinen, die sich über ihm blähten, und das polierte Holz- und Metallwerk des Schiffes. Die Nampara fuhr unter vollen Segeln und flog dahin wie ein lebendiges Wesen; er konnte spüren, wie das Schiff unter seinen Füßen summte, und empfand ein plötzliches, unerwartetes Hochgefühl.
Die Wellen hatten nach dem Grau des Hafens jetzt das Lapisblau der Hochsee angenommen, und der heftige Wind, der ihm durch das Haar fuhr, trug die Gerüche von Krankheit und
Enge davon. Auch die letzten Reste seiner Krankheit schienen mit diesem Wind davonzufliegen vielleicht ja auch nur, weil seine Zipperlein bedeutungslos schienen im Vergleich mit dem verzweifelten Ringen der Frau unter Deck.
Oben herrschte immer noch geschäftiges Treiben, und Rufe gingen zwischen dem Deck und dem mysteriösen Reich des Segeltuchs darüber hin und her, doch es war jetzt geordneter und weniger aufregend. Trevelyan begab sich zum Heck und fand einen Platz an der Reling, wo sie den Matrosen nicht im Weg waren. Dort lehnten sie sich eine Zeit lang an, ließen sich vom reinigenden Wind durchpusten und beobachteten gemeinsam, wie das Letzte, was von England zu sehen war, im fernen Nebel verschwand.
»Glaubt Ihr, sie wird sterben?«, fragte er schließlich. Es war der Gedanke, der ihm nicht aus dem Kopf ging; Trevelyan musste es genauso gehen.
»Nein«, schnappte Trevelyan. »Das wird sie nicht.« Er stützte sich auf die Reling und starrte trübsinnig auf das dahinrasende Wasser.
Grey verstummte. Er schloss die Augen und ließ das auf den Wellen glitzernde Sonnenlicht tanzende Muster in Rot und Schwarz auf die Innenseiten seiner Lider malen. Er brauchte nicht zu drängen; jetzt war genug Zeit für alles.
»Es geht ihr schlechter«, sagte Trevelyan schließlich, als er das Schweigen nicht mehr ertragen konnte. »Das ist nicht normal. Ich habe schon oft Malariakranke gesehen; die erste Attacke ist normalerweise die schlimmste - wenn sie mit Chinarinde behandelt wird, kommen die folgenden Attacken in immer größeren Abständen und sind weniger heftig. Das sagt Scanion auch«, fügte er beinahe im Nachhinein hinzu.
»Leidet sie schon lange daran?«, fragte Grey neugierig. Stadtbewohner wurden nur selten von dieser Krankheit befallen, doch möglicherweise hatte die Dame sich ja auf Reisen mit ihrem Mann angesteckt.
»Seit zwei Wochen.«
Grey öffnete die Augen und sah, dass Trevelyan sich aufgerichtet hatte, das kurze Haar vom Wind zu einem Hahnenkamm hochgeweht, das Kinn vorgeschoben. Ihm stand das Wasser in den Augen; vielleicht lag es ja am rauschenden Wind.
»Ich hätte nicht zulassen sollen, dass er es tut«, murmelte Trevelyan. Seine Hände hielten die Reling in ohnmächtiger Wut umklammert, unter die sich Verzweiflung mischte. »Himmel, wie konnte ich nur zulassen, dass er es tut?«
»Wer denn?«, fragte Grey.
»Scanion natürlich.« Trevelyan wandte sich kurz ab, fuhr sich mit dem Handgelenk über die Augen, dann drehte er sich wieder um und lehnte sich mit dem Rücken zum Meer an die Reling. Er verschränkte die Arme vor der Brust und starrte finster vor sich hin, ganz auf seine eigenen, trostlosen Visionen konzentriert.
»Lasst uns ein Stück laufen«, schlug Grey schließlich vor. »Kommt, die Luft wird Euch gut tun.«
Trevelyan zögerte, zuckte dann aber mit den Achseln und willigte ein. Sie umkreisten wortlos das Deck und wichen den Matrosen aus, die ihrer Arbeit nachgingen.
Grey lief zunächst sehr vorsichtig, weil seine Schuhe Ledersohlen hatten und das Deck schlingerte, doch die Planken waren trocken, und die Schiffsbewegungen regten seine Sinne an; trotz seiner eigenen, misslichen Lage spürte er seine Lebensgeister erwachen, das Blut stieg ihm in die Wangen und erfrischte seine steifen Gliedmaßen. Zum ersten Mal seit Tagen begann er, sich wieder wirklich wie er selbst zu fühlen.
Es stimmte zwar, er war auf einem Schiff gefangen, das nach Indien unterwegs war, und es war unwahrscheinlich, dass er seine Heimat in nächster Zeit wieder sehen würde. Doch er war
Soldat und an lange Reisen und Trennungen gewöhnt - und der Gedanke an Indien mit seinen Mysterien des Lichtes und seiner Geschichte voller Blut war unleugbar aufregend. Und er konnte sich darauf verlassen, dass Quarry seiner Familie mitteilen würde, dass er noch am Leben war.
Was würde seine Familie in Bezug auf die Hochzeitsvorbereitungen unternehmen?, fragte er sich. Trevelyans abrupte Flucht würde einen enormen Skandal auslösen, dem ein noch größerer folgen würde, wenn publik wurde - und das würde es ohne Zweifel -, welche Rolle Frau Mayrhoferdabei spielte, deren Mann auf solch schockierende Weise ermordet worden war. Er war nicht geneigt, die Behauptung der Dame zu glauben, dass sie Mayrhofer umgebracht hatte; nicht, nachdem er die Leiche gesehen hatte. Sebst eine gesunde Frau brachte das nicht zustande. und Maria Mayrhofer war schmal und nicht größer als seine Cousine Olivia.
Die arme Olivia; ihr Name würde wochenlang als die sitzen gelassene Verlobte die Londoner Gazetten zieren doch wenigstens würde ihr Ruf verschont bleiben. Gott sei Dank, dass die Affäre sich vor der Hochzeit zugespitzt hatte und nicht hinterher. Das war wenigstens etwas. Wäre Trevelyan genauso zurückgeschreckt, wenn Grey ihn nicht zur Rede gestellt hätte? Oder wäre er geblieben und hätte Olivia geheiratet, seine Geschäfte weitergeführt, seine Nase in die Politik gesteckt und sich als Vertrauter von Herzögen und Ministern in der feinen Gesellschaft bewegt, seine Fassade als grundsolider Kaufmann aufrecht erhalten - während er insgeheim seine leidenschaftliche Affäre mit der Witwe Mayrhofer weiterführte? Grey warf einen Seitenblick auf seinen Begleiter. Dessen Gesicht war immer noch finster, doch jenes kurze Aufflammen der Verzweiflung war vorbei. Er hatte jetzt entschlossen die Zähne zusammengebissen. Was mochte der Mann denken? So zu fliehen, wie er es getan hatte, und einen Skandal zu hinterlassen, würde katastrophale Folgen für sein Geschäft haben. Seine Firmen, deren Investoren, seine Kunden, die Arbeiter, Kapitäne und Seeleute, Bürokräfte und Lagerverwalter, die für die Firmen arbeiteten - selbst der Bruder im Parlament; alle würde von Trevelyans Flucht betroffen sein.
Dennoch war seine Miene entschlossen, und er schritt dahin wie ein Mann, der auf ein fernes Ziel zusteuerte, nicht wie ein müßiger Spaziergänger.
Grey erkannte nicht nur die Entschlossenheit, sondern auch die Willenskraft, der sie entstammte. Doch er begann auch zu begreifen, dass die Fassade des soliden Kaufmanns tatsächlich genau das war; dahinter verbarg sich ein quecksilberner Verstand, der die Umstände in Sekunden einschätzen und genauso schnell den Kurs wechseln konnte - und seine Entscheidungen mehr als rücksichtslos fällte.
Er begriff mit klopfendem Herzen, dass Trevelyan ihn ein wenig an Jamie Fraser erinnerte. Doch nein - Fraser war gnadenlos und schnell von Verstand, und er mochte zu genauso großer Leidenschaft imstande sein -, vor allem war er jedoch ein Ehrenmann.
Im Gegensatz dazu konnte er jetzt die tiefe Selbstsucht sehen, die Trevelyans Charakter zugrunde lag. Jamie Fraser hätte die Menschen, die von ihm abhängig waren, niemals im Stich gelassen, nicht einmal um einer Frau willen, die er - das musste Grey einräumen - eindeutig mehr liebte als das Leben selbst. Und was den Gedanken anging, einem anderen die Frau zu stehlen, so war dies unvorstellbar.
Für einen Romantiker oder Romancier mochte die Welt sich richtig drehen, solange es nur Liebe darin gab. Doch fragte man Grey nach seiner Meinung, so war Liebe, die die Ehre opferte, weniger aufrichtig als simple Lust. Und sie degradierte jene, die behaupteten, sich darin zu sonnen.
»Mylord!«
Bei diesem Ruf blickte er auf und sah die beiden Byrds wie Äpfel über sich in der Takelage hängen. Er winkte, froh, dass wenigstens Tom Byrd seinen Bruder gefunden hatte. Würde jemand auf die Idee kommen, den Byrds eine Nachricht zukommen zu lassen? Oder würden sie über das Schicksal zweier Söhne im Ungewissen bleiben?
Dieser Gedanke bedrückte ihn, und ein noch schlimmerer folgte ihm auf den Fersen. Er hatte zwar die Listen in seinen Besitz gebracht, doch er konnte niemandem mitteilen, dass er es getan hatte und die Informationen in Sicherheit waren. Bis er einen Hafen erreichte, von dem aus er eine Mitteilung schicken konnte, wäre das Kriegsministerium längst gezwungen gewesen zu handeln.
Und diese Handlungen würden auf der Annahme basieren, dass die Informationen tatsächlich in Feindeshand gefallen waren - eine Annahme mit weit reichenden Folgen, was die notwendigen strategischen Kursänderungen und ihre Kosten anging. Kosten, die möglicherweise nicht nur mit Geld, sondern auch mit Menschenleben bezahlt werden würden. Er presste den Ellbogen gegen seine Seite und spürte das Knistern der Papiere, die er eingesteckt hatte. Dabei unterdrückte er den jähen Impuls, sich über Bord zu stürzen und gen England zu schwimmen, bis die Erschöpfung ihn in die Tiefe zog. Er hatte seine Mission erfüllt - und das Ergebnis würde doch das Gleiche sein, als hätte er total versagt.
Ganz abgesehen vom Ruin seiner eigenen Karriere, würden Harry Quarry und das Regiment - und Hal - großen Schaden nehmen. Einen Spion in den eigenen Reihen beherbergt zu haben, war schon schlimm genug; ihn nicht rechtzeitig gefasst zu haben, war noch viel schlimmer.
Es sah so aus, als würde ihm schließlich nur die Genugtuung bleiben, endlich die Wahrheit zu hören. Bis jetzt hatte er erst einen Bruchteil gehört - doch bis Indien war es weit, und da sowohl Trevelyan als auch Scanion hier mit ihm festsaßen, war er sich sicher, dass er letztlich alles herausbekommen würde.
»Woher habt Ihr gewusst, dass ich mich angesteckt hatte?«, fragte Trevelyan abrupt.
»Habe Euren Schwanz beim Pinkeln im >Beefsteak< gesehen«, erwiderte er unverblümt. Jetzt erschien es ihm absurd, dass er diesbezüglich je auch nur eine Sekunde lang Zurückhaltung oder Scham empfunden hatte. Und doch wären die Dinge anders verlaufen, wenn er sofort etwas gesagt hätte?
Trevelyan grunzte überrascht auf.
»Wirklich? Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, Euch dort gesehen zu haben. Aber ich war wohl mit den Gedanken anderswo.«
Das war er eindeutig auch jetzt; seine Schritte hatten sich verlangsamt, und ein Matrose mit einem kleinen Fass war gezwungen auszuscheren, um einen Zusammenstoß zu verhindern. Grey nahm ihn beim Ärmel und führte ihn in den Windschatten des Vordermastes, wo ein großes Wasserfass stand, an dem ein Zinnbecher an einer dünnen Kette hing.
Er trank Wasser aus dem Becher und genoss bei aller Niedergeschlagenheit die Kühle in seinem Mund. Es war das erste Mal seit einer Woche, dass er etwas richtig schmeckte.
»Das muss.« Trevelyan kniff die Augen zu und rechnete nach. »Anfang Juni gewesen sein - am sechsten?«
»In etwa. Spielt das eine Rolle?«
Trevelyan zuckte mit den Achseln und ergriff die Schöpfkelle.
»Eigentlich nicht. Es ist nur so, dass ich die Wunde da selbst zum ersten Mal bemerkt habe.«
»Das muss ein ziemlicher Schreck gewesen sein«, sagte Grey.
»Ziemlich«, erwiderte Trevelyan trocken. Er trank etwas, dann ließ er den Zinnbecher wieder in das Fass fallen.
»Vielleicht wäre es besser gewesen, nichts zu sagen«, fuhr Trevelyan fort, als spräche er mit sich selbst. »Aber. nein. Das
wäre nicht gegangen.« Er machte eine Handbewegung und verwarf seinen Gedanken, wie auch immer er gelautet hätte.
»Ich konnte es kaum glauben. Bin den Rest des Tages wie benebelt herumgelaufen und habe die Nacht damit zugebracht, mich zu fragen, was ich tun sollte - aber ich wusste, dass es Mayrhofer war; es gab keine andere Möglichkeit.«
Er blickte auf, sah Greys Miene, und ein ironisches Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus.
»Nein, nicht direkt. Durch Maria. Seit ich mit ihr zusammen kam, hatte ich das Bett mit keiner anderen mehr geteilt, und das war über ein Jahr vorher. Aber sie war eindeutig von ihrem herumhurenden Mann angesteckt worden; sie war unschuldig.«
Nicht nur unschuldig, sondern eindeutig auch unwissend. Da er sie nicht sofort mit seiner Entdeckung konfrontieren wollte, hatte Trevelyan stattdessen ihren Arzt aufgesucht.
»Ich hatte doch gesagt, dass sie ein Kind verloren hatte, kurz bevor ich ihr das erste Mal begegnet bin? Ich konnte den Arzt, der sie behandelt hat, zum Reden bewegen; er hat mir bestätigt, dass das Kind aufgrund der Syphiliserkrankung der Mutter missgebildet war - doch natürlich hatte er ihr nichts davon gesagt.«
Trevelyans Finger trommelten unruhig auf dem Fassdeckel herum.
»Das Kind wurde missgebildet, aber lebend geboren es ist einen Tag nach der Geburt in seiner Wiege gestorben. Mayrhofer hat es erstickt, da er weder damit belastet zu werden wünschte noch wollte, dass seine Frau den Grund seines unglücklichen Schicksals erfuhr.«
Grey spürte, wie sich sein Magen verkrampfte.
»Woher wisst Ihr das?«
Trevelyan rieb sich das Gesicht mit der Hand, als sei er müde.
»Reinhardt hat es ihr - Maria - gegenüber zugegeben. Ich habe den Arzt nämlich zu ihr gebracht; ihn gezwungen, ihr zu sagen, was er mir gesagt hatte. Ich dachte wenn sie wüsste, was Mayrhofer getan hatte, sie anzustecken, ihr Kind zum Sterben zu verdammen, vielleicht würde sie ihn verlassen.«
Das tat sie nicht. Nachdem sie den Arzt betäubt und schweigend angehört hatte, hatte sie lange Zeit dagesessen und nachgedacht. Dann hatte sie Trevelyan und den Arzt gebeten zu gehen, da sie allein sein wollte.
Sie war eine Woche allein geblieben. Ihr Mann war nicht da, und sie ließ niemanden zu sich außer den Dienstboten, die ihr das Essen brachten - das sie unberührt zurückgehen ließ.
»Sie hat mir gesagt, dass sie an Selbstmord gedacht hat«, sagte Trevelyan, der auf die endlose See hinausstarrte. »Besser, dachte sie, es sauber zu beenden, als langsam auf solche Weise zu sterben. Habt Ihr schon einmal jemanden an der Syphilis sterben sehen, Grey?«
»Ja«, sagte Grey, und der üble Geschmack stahl sich erneut in seinen Mund. »Im Irrenhaus.«
Er erinnerte sich besonders an einen Mann, dem die Krankheit die Nase und das Gleichgewicht geraubt hatte, sodass er wie betrunken über den Boden schlingerte und hilflos mit den anderen Insassen zusammenstieß. Dann war er mit dem Fuß im Nachtgeschirr stecken geblieben, und Rotz und Wasser waren ihm über das zerfurchte Gesicht gelaufen. Grey hatte nur hoffen können, dass die Syphilis dem Mann auch den Verstand geraubt hatte, sodass er sich seiner Lage nicht bewusst war.
Dann sah er Trevelyan an und stellte sich zum ersten Mal dieses kluge, schmale Gesicht zerstört und sabbernd vor. Es würde geschehen, begriff er leicht erschrocken. Die einzige Frage war, wie lange es dauern würde, bis sich die Symptome zeigten.
»Wenn ich es wäre, würde ich vielleicht auch an Selbstmord denken«, sagte er.
Trevelyan sah ihm ins Gesicht, dann lächelte er reumütig.
»Wirklich? Dann sind wir aus verschiedenem Holz geschnitzt«, sagte er ohne jeden wertenden Unterton. »Dieser Weg ist mir nie in den Sinn gekommen, bis Maria mir ihre Pistole gezeigt und mir erzählt hat, woran sie gedacht hatte.«
»Ihr habt nur daran gedacht, wie man die Tatsache benutzen könnte, um die Dame von ihrem Mann zu trennen?«, sagte Grey, der die Schärfe in seiner Stimme genau hörte.
»Nein«, sagte Trevelyan, der sich nicht angegriffen zu fühlen schien. »Obwohl das mein Ziel gewesen war, seit ich ihr zum ersten Mal begegnete; ich habe nicht daran gedacht, es aufzugeben. Ich habe versucht, sie zu sehen, nachdem sie mich fortgeschickt hatte, aber sie wollte mich nicht empfangen.«
Stattdessen hatte Trevelyan sich auf die Suche nach möglichen Heilmitteln gemacht.
»Jack Byrd wusste von dem Problem; er war es, der mir gesagt hat, dass Finbar Scanion sich mit solchen Dingen auszukennen schien. Er war nämlich noch einmal zu der Apotheke zurückgekehrt, um sich nach Mrs. O'Connells Befinden zu erkundigen, und hatte Bekanntschaft mit Scanion geschlossen.«
»Und dort seid Ihr Sergeant O'Connell begegnet, der nach Hause zurückkehrte?«, fragte Grey, dem plötzlich die Erleuchtung kam. Trevelyan wusste ja bereits von O'Connells Unterschlagung und hatte mit Sicherheit nicht nur Jack Byrd zu seiner Verfügung. Er musste bestens gerüstet gewesen sein, dachte Grey, den Sergeant ermorden zu lassen und die Papiere an sich zu bringen, um sie für seine eigenen Zwecke in Bezug auf Mayrhofer zu benutzen. Und da diese Zwecke nun erfüllt waren, konnte er die Papiere natürlich zurückgeben, als sei nichts gewesen, ohne sich darum zu kümmern, welcher Schaden in der Zwischenzeit angerichtet worden war!
Er spürte, wie ihm bei diesem Gedanken das Blut zu Kopfe stieg - doch Trevelyan starrte ihn verständnislos an.
»Nein«, sagte er. »Ich bin O'Connell nur das eine Mal persönlich begegnet. Brutaler Kerl«, fügte er nachdenklich hinzu.
»Und Ihr habt ihn nicht umbringen lassen?«, wollte Grey wissen. Seine Skepsis war ihm deutlich anzuhören.
»Nein, warum sollte ich das?« Trevelyan sah ihn stirnrunzelnd an; dann glättete sich sein Gesicht.
»Ihr habt gedacht, ich hätte ihn erledigen lassen, um an die Papiere zu gelangen?« Trevelyans Mund zuckte; er schien irgendetwas an dieser Vorstellung komisch zu finden. »Mein Gott, John, Ihr habt wirklich eine furchtbar schlechte Meinung von meinem Charakter!«
»Ihr haltet das für ungerechtfertigt, oder?«, erkundigte sich Grey beißend.
»Nein, das wohl nicht«, räumte Trevelyan ein und rieb sich die Nase. Er hatte sich seit einiger Zeit nicht mehr rasieren lassen, und die winzigen Wassertropfen, die auf seinen Bartstoppeln kondensierten, verliehen ihm ein versilbertes Aussehen.
»Dennoch, nein«, wiederholte er. »Ich habe Euch doch gesagt, dass ich niemanden umgebracht habe - und ich hatte auch nichts mit O'Connells Tod zu tun. Das ist Mr. Scanions Geschichte, und er wird sie Euch sicher erzählen, sobald er Muße dazu hat.«
Als könne er sich nicht davon losreißen, sah Trevelyan zu der Tür hinüber, die zum Unterdeck führte, dann wandte er den Blick ab.
»Möchtet Ihr bei ihr sein?«, fragte Grey leise. »Geht, wenn Ihr möchtet. Ich kann warten.«
Trevelyan schüttelte den Kopf, ohne ihn anzusehen.
»Ich kann ihr nicht helfen«, sagte er. »Und ich kann es kaum ertragen, ihre Qualen mit anzusehen. Scanion wird mich holen, wenn - wenn ich gebraucht werde.«
Er blickte defensiv auf, als spürte er eine unausgesprochene Anklage in Greys Verhalten.
»Ich bin das letzte Mal bei ihr geblieben, als das Fieber kam. Sie hat mich fortgeschickt und gesagt, es bereite ihr Kummer, mich so außer mir zu sehen. Sie zieht es vor, allein zu sein, wenn. die Dinge außer Kontrolle geraten.«
»Ach, wirklich. Genau, wie sie es gemacht hat, nachdem sie von ihrem Arzt die Wahrheit gehört hatte, habt Ihr gesagt.«
Trevelyan holte tief Luft und richtete sich auf, als rüste er sich für eine unangenehme Aufgabe.
»Ja«, sagte er trostlos. »Da auch.«
Sie war eine Woche lang allein geblieben. Selbst die Dienstboten hatten sich auf ihre Bitte hin von ihr fern gehalten. Niemand wusste, wie lange sie an jenem letzten Tag in ihrem weiß verhangenen Boudoir allein dagesessen hatte. Es war schon lange dunkel, als ihr Mann schließlich zurückgekehrt war. Er war ziemlich betrunken gewesen, aber immer noch so weit bei Verstand, dass er ihre Anklage verstand, ihre Forderung, die Wahrheit über ihr Kind zu erfahren.
»Sie sagte, er hätte gelacht«, sagte Trevelyan. Sein Tonfall war distanziert, als berichte er von einem geschäftlichen Desaster; einem Minenunglück vielleicht oder einem Schiffsuntergang. »Da hat er ihr gesagt, dass er das Kind umgebracht hatte; hat ihr gesagt, sie solle ihm dankbar sein, dass er sie davor bewahrt hätte, Tag um Tag mit der Schande seiner Missbildung zu leben.«
Bei diesen Worten hatte die Frau, die jahrelang geduldig mit dem Wissen seiner Untreue und Promiskuität gelebt hatte, gespürt, wie das Band ihres Gelöbnisses entzwei riss, und Maria Mayrhofer hatte jene feine Linie der Hemmung überschritten, die Justiz von Rache trennt. Rasend vor Wut und Trauer, hatte sie ihn mit sämtlichen Erniedrigungen konfrontiert, die sie in den Jahren ihrer Ehe ertragen hatte, und ihm gedroht, seine flatterhaften Affären publik zu machen, die Tatsache seiner Syphiliserkrankung in der Gesellschaft zu verbreiten, ihn öffentlich des Mordes zu beschuldigen.
Diese Drohungen hatten Mayrhofer etwas ernüchtert. Er war aus dem Zimmer seiner Frau gestolpert und hatte sie tobend und weinend zurückgelassen. Sie hatte die Pistole, die sie während der ganzen Woche ihres Grübeins nicht aus den Augen gelassen hatte, zur Hand. Sie hatte oft in den Bergen ihrer österreichischen Heimat gejagt und war den Umgang mit Schusswaffen gewöhnt; es war die Arbeit weniger Sekunden, die Waffe zu laden.
»Ich weiß nicht genau, was sie vorhatte«, sagte Trevelyan, den Blick auf einen Möwenschwarm geheftet, der über dem Ozean kreiste und nach Fisch tauchte. »Sie hat mir erzählt, dass sie es selbst nicht wusste. Möglich, dass sie vorhatte, sich selbst umzubringen - oder sie beide.«
Schließlich hatte sich jedoch die Tür zu ihrem Boudoir einige Minuten darauf geöffnet, und ihr Mann war wieder hereingeschwankt, in das grüne Samtkleid gekleidet, das sie zu ihren Treffen mit Trevelyan trug. Rot vom Alkohol und vor Aufregung, hatte er herausfordernd zu ihr gesagt, sie solle es nicht wagen, ihn bloßzustellen sonst werde er dafür sorgen, dass sowohl sie als auch ihr ach so wunderbarer Geliebter einen noch größeren Preis zahlen würden. Was würde wohl aus Joseph Trevelyan werden, fragte er schwankend gegen den Türrahmen gelehnt, wenn bekannt wurde, dass er nicht nur ein Ehebrecher war, sondern ein Sodomit dazu?
»Also hat sie ihn erschossen«, schloss Trevelyan mit einem kleinen Achselzucken. »Direkt ins Herz. Könnt Ihr ihr das verdenken?«
»Was glaubt Ihr, wie er von Euren Treffen im >Lavender House< erfahren hat?«, fragte Grey, ohne auf die Frage einzugehen. Er fragte sich mit einem dumpfen Gefühl, was Richard Casewell wohl über seine eigenen Besuche dort ausgeplaudert haben mochte, zehn Jahre zuvor. Trevelyan hatte nichts davon erwähnt, und das hätte er doch mit Sicherheit, wenn.
Trevelyan schüttelte den Kopf, seufzte, und schloss die Augen, um sie vor dem Gleißen der Sonne auf dem Wasser zu schützen.
»Ich weiß es nicht. Wie gesagt, Reinhardt Mayrhofer war ein Intrigant. Er hatte seine Quellen - und er kannte Magda, die aus dem Dorf in der Nähe seines Anwesens kam. Ich habe sie gut bezahlt, aber eventuell hat er sie besser bezahlt. Man kann schließlich keiner Hure trauen«, fügte er mit einem leisen Hauch von Bitterkeit hinzu.
Es kam auf die Hure an, dachte Grey, der sich an Nessie erinnerte, doch er sagte nichts.
»Aber Mrs. Mayrhofer hat doch ihrem Mann gewiss nicht das Gesicht zerschmettert«, sagte er stattdessen. »Wart Ihr das?«
Trevelyan öffnete die Augen und nickte.
»Jack Byrd und ich.« Er hob den Kopf und blickte suchend in die Takelage, aber die beiden Byrds waren verschwunden. »Er ist ein guter Junge, Jack. Ein guter Junge«, wiederholte er mit noch mehr Nachdruck.
Vom Knall der Pistole abrupt zur Vernunft gebracht, hatte Maria Mayrhofer sofort ihr Boudoir verlassen und einen Dienstboten gerufen, den sie eiligst in die Stadt schickte, um Trevelyan zu rufen. Nach seiner Ankunft in Begleitung dieses Bediensteten, der ihr Vertrauen besaß, hatten die beiden Männer die Leiche, die nach wie vor in grünen Samt gekleidet war, zur Remise hinausgetragen und beraten, was sie damit tun sollten.
»Ich konnte nicht zulassen, dass die Wahrheit ans Licht kam«, erklärte Trevelyan. »Es war gut möglich, dass man Maria hängen würde, wenn sie vor Gericht gestellt wurde - obwohl es gewiss noch nie einen Mord gegeben hat, der sein Opfer so verdient getroffen hat. Doch selbst wenn man sie freisprach, hätte die bloße Tatsache einer Verhandlung Enthüllung bedeutet. Vollständig.«
Jack Byrd war es gewesen, der auf den Gedanken mit dem Blut gekommen war. Er hatte sich unauffällig davongemacht und war mit einem Eimer Schweineblut vom Metzger zurückgekommen. Sie hatten der Leiche mit einer Schaufel das Gesicht zerschmettert und sie dann mitsamt dem Eimer in der Kutsche verstaut. Jack hatte das Gespann die kurze Strecke zum St. James Park gefahren. Inzwischen war es nach Mitternacht, und die Fackeln, die normalerweise die öffentlichen Wege beleuchteten, waren schon lange gelöscht.
Sie hatten die Pferde festgebunden und die Leiche rasch ein kleines Stück in den Park getragen, wo sie sie unter einem Busch abgelegt und mit Blut übergossen hatten. Dann waren sie zurück zur Kutsche geflüchtet.
»Wir hofften, dass man die Leiche für die einer einfachen Prostituierten halten würde«, erklärte Trevelyan. »Solange niemand sie genau unter die Lupe nahm, würde man sie für eine Frau halten. Und wenn ihr wahres Geschlecht entdeckt wurde. nun, dann hätte das zwar für größere Neugier gesorgt, doch Männer mit gewissen perversen Vorlieben sterben oft auch eines gewaltsamen Todes.«
»Tatsächlich«, murmelte Grey, der darauf achtete, sein Gesicht von jeder Regung freizuhalten. Es war kein schlechter Plan - und er war trotz allem erfreut, ihn korrekt erraten zu haben. Der Tod einer anonymen Prostituierten - beiderlei Geschlechtes - hätte weder einen Aufschrei noch Ermittlungen nach sich gezogen.
»Aber wozu das Blut? Es war doch offensichtlich wenn man genau hinsah -, dass der Mann erschossen worden war.«
Trevelyan nickte.
»Ja. Wir dachten, das Blut könnte die Todesursache verschleiern, weil es darauf hinzudeuten schien, dass er zu Tode geprügelt worden war - aber vor allem diente es dazu, zu verhindern, dass jemand die Leiche auszog und damit ihr Geschlecht entdeckte.«
»Natürlich.« Wenn an einer Leiche brauchbare Kleidungsstücke gefunden wurden, war es üblich, dass ihr diese ausgezogen und verkauft wurden, entweder durch den Aufseher des Leichenschauhauses, der sie übernahm, oder spätestens durch den Totengräber, der die Leiche in einem anonymen Armengrab verscharrte. Doch niemand - außer Grey - hätte dieses nasse, stinkende Gewand auch nur angefasst.
Wäre das grüne Samtkleid nicht Magruder aufgefallen, oder wären sie so schlau gewesen, sich der Leiche in einem anderen Stadtviertel zu entledigen, hätte sich höchst wahrscheinlich kein Mensch die Mühe gemacht, die Leiche zu untersuchen; man hätte sie schlicht als eines der Opfer der dunklen Welt Londons abgeschrieben und keinen weiteren Gedanken an sie verschwendet, ähnlich wie wenn ein streunender Hund unter die Räder einer Kutsche kommt.
»Sir?«
Er hatte das Geräusch der herannahenden Schritte nicht gehört und schreckte auf, als er Jack Byrd neben ihnen stehen sah, das dunkle Gesicht ernst. Trevelyan warf nur einen kurzen Blick darauf, und schon war er zur Tür nach unten unterwegs.
»Geht es Mrs. Mayrhofer schlechter?«, fragte Grey, der beobachtete, wie Trevelyan durch eine Traube von Matrosen stolperte, die Segel flickten.
»Ich weiß es nicht, Mylord. Ich glaube, es könnte sein, dass es ihr besser geht. Mr. Scanion ist aus der Kajüte gekommen und hat gesagt, ich solle Mr. Joseph holen. Er sagt aber, er geht für ein Weilchen in die Mannschaftsmesse, falls Ihr ihn sprechen wollt«, fügte er als logischen Schluss hinzu.
Grey sah den jungen Mann an, an dem ihm irgendetwas bekannt vorkam. Nicht die Ähnlichkeit mit Tom; etwas anderes. Jack Byrds Augen waren immer noch auf seinen Herrn gerichtet, als Trevelyan die Luke erreichte. Es lag etwas Unbewachtes in seiner Miene, das Greys Instinkt erkannte, lange bevor es sein Verstand identifizierte.
Es war im Bruchteil einer Sekunde verschwunden, und Jack Byrds Gesicht verwandelte sich schlagartig wieder in eine ältere, schmalere Version des Gesichtes seines jüngeren Bruders. Dann wandte er sich an Grey.
»Braucht Ihr Tom, Mylord?«, fragte er.
»Im Augenblick nicht«, erwiderte Grey automatisch. »Ich gehe jetzt zu Mr. Scanion, um mich mit ihm zu unterhalten. Sagt Tom, ich werde ihn rufen lassen, wenn ich ihn brauche.«
»Sehr wohl, Mylord.« Jack Byrd verbeugte sich ernst, die elegante Geste eines Hausdieners, die so gar nicht zu seinen Matrosenlatschen passte. Dann ging er davon und überließ es Grey, sich selbst zurechtzufinden.
Er begab sich unter Deck, um die Mannschaftsmesse aufzusuchen. Er nahm seine Umgebung kaum war, denn sein Verstand suchte mit Verspätung nach den logischen Verbindungen, die den Schluss untermauern konnten, zu dem seine unteren Instinkte gekommen waren.
»Jack Byrd wusste von dem Problem«, hatte Trevelyan gesagt, als er von seiner Infektion sprach. »Er war es, der mir gesagt hat, dass Finbar Scanion sich mit solchen Dingen auszukennen schien.«
Und Maria Mayrhofer hatte gesagt, ihr Mann habe Trevelyan gedroht, sie gefragt, was mit ihm geschehen werde, wenn bekannt wurde, dass er nicht nur ein Ehebrecher war, sondern ein Sodomit dazu.
Nicht so schnell, mahnte Grey sich selbst. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte Mayrhofer sich ja nur auf Trevelyans Verbindungen zum »Lavender House« bezogen. Und es war keineswegs ungewöhnlich, dass ein ergebener Diener in die intimen Angelegenheiten seines Herrn eingeweiht war - er erschauerte bei dem Gedanken daran, was Tom inzwischen über seine eigene Intimsphäre wusste.
Nein, er musste sich eingestehen, dass dies bloße Fetzen von etwas waren, das als Beweis längst nicht ausreichte. Noch weniger konkret - jedoch vielleicht verlässlicher war sein eigener Eindruck von Joseph Trevelyan. Grey hielt sich für alles andere als unfehlbar - er wäre in hundert Jahren nicht darauf gekommen, dass Egbert Jones »Miss Irons« war, wenn er es nicht selbst gesehen hätte. Und doch war er sich so sicher, wie es eben möglich war, dass Joseph Trevelyan keine derartigen Neigungen verspürte.
Um der Logik willen vergaß er jede Bescheidenheit und räumte errötend ein, dass diese Schlussfolgerung vor allem anderen darauf basierte, dass Trevelyan nicht auf seine Person ansprach. Männer wie er lebten im Verborgenen - doch es gab Signale, und er war geübt darin, sie zu lesen.
Möglich also, dass auf Trevelyans Seite wirklich nicht mehr vorlag als die tiefe Wertschätzung eines guten Dienstboten. Doch Jack Byrds Seele bestand nicht nur aus hingebungsvoller Diensterfüllung, das hätte er auf eine ganze Gallone Brandy geschworen. So sagte er sich grimmig, während er wie ein Affe in die Eingeweide des Schiffes kletterte, um nach Finbar Scanion und der endgültigen Lösung des Rätsels zu suchen. Und nun, zu guter Letzt, die Wahrheit.
»Seht Ihr, wir sind Soldaten, wir Scanions«, sagte der Apotheker und schenkte sich Bier aus einem Krug ein.
»Das ist bei uns Familientradition. Jeder Mann bei uns, seit fünfzig Jahren, bis auf die, die als Krüppel zur Welt kommen oder nicht kräftig genug sind.«
»Ihr macht aber nicht den Eindruck, als wärt Ihr nicht kräftig genug«, merkte Grey an. »Und ein Krüppel schon gar nicht.« Scanion war in der Tat ein gut aussehender, kräftiger Mann mit klar geformten Gliedmaßen.
»Oh, ich bin auch Soldat gewesen«, sagte er mit glitzernden Augen. »Ich habe eine Zeit lang in Frankreich gedient, hatte aber das Glück, der Assistent des Regimentschirurgen zu werden, als sein eigentlicher Helfer auf dem Schlachtfeld ins Gras gebissen hat.«
Scanion hatte festgestellt, dass ihm die Arbeit lag und Freude machte, und hatte innerhalb weniger Monate alles gelernt, was ihm der Stabsarzt beibringen konnte.
»Dann sind wir bei Rouen unter Artilleriebeschuss geraten«, sagte er achselzuckend. »Schrapnell.« Er lehnte sich auf seinem Hocker zurück, zog den Hemdsaum aus seiner Hose und schob ihn hoch, um Grey ein großes Netz von Narben zu zeigen, die sich - immer noch rosa - über seinen muskulösen Bauch zogen.
»Ist an mir entlanggeschrammt und hat mir die Eingeweide herausgerissen«, sagte er beiläufig. »Aber dank der Mutter Gottes war der Chirurg in der Nähe. Hat sie mit der Faust gepackt und sie mir wieder in den Bauch gestopft und mich dann fest in Honig und Verbände eingeschnürt. «
Wie durch ein Wunder hatte Scanion überlebt, war aber natürlich als Invalide aus der Armee entlassen worden. Da er einen anderen Weg finden musste, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, hatte er sich seinem Interesse an der Medizin zugewandt und war bei einem Apotheker in die Lehre gegangen.
»Aber meine Brüder und meine Vettern! Eine ganze Reihe von ihnen sind immer noch Soldaten«, sagte er. Er trank einen Schluck Ale und schloss genussvoll die Augen, während es ihm durch die Kehle lief. »Und zufälligerweise hat keiner von uns viel für einen Mann über, der den Verräter spielt.«
Nach dem tätlichen Angriff auf Francine hatte Jack Byrd ihr und Scanion erzählt, dass der Sergeant wahrscheinlich ein Spion war und sich im Besitz wertvoller Papiere befand. Und O'Connell hatte Francine bei seinem überstürzten Rückzug zugerufen, dass er wiederkommen und zu Ende führen würde, was er begonnen hatte.
»Nach dem, was Jack über das Weibsstück gesagt hat, bei dem O'Connell untergekommen war, konnte ich mir nicht vorstellen, dass er nur zurückkommen würde, um Francie zu ermorden. Und daher.« Scanion zog eine Augenbraue hoch. ». war es ja wohl sehr wahrscheinlich, dass er entweder kommen würde, um sich etwas zu holen, was er zurückgelassen hatte - oder um etwas dort zu lassen. Und weiß der Himmel, dass es dort nichts zu holen gab.«
Angesichts dieser Überlegungen lag der Schluss nahe, Francines Zimmer und die darunter liegende Apotheke zu durchsuchen.
»Sie waren in einer der Gussformen mit den Kondomen, die Ihr Euch angesehen habt, als Ihr zum ersten Mal in der Apotheke wart«, sagte Scanion, und sein Mundwinkel kräuselte sich. »Ich konnte sehen, worum es sich handelte - und so sehr mir der gute Jack inzwischen ans Herz gewachsen war, hielt ich es doch für besser, sie zu behalten, bis ich die richtige Autorität gefunden hatte, der ich sie überreichen konnte. So wie Euch zum Beispiel, Sir.«
»Nur, dass Ihr es nicht getan habt.«
Der Apotheker reckte sich, bis seine langen Arme beinahe die niedrige Decke berührten, dann setzte er sich wieder bequem auf dem Hocker zurecht.
»Tja, nein. Einerseits war ich Euch ja noch gar nicht begegnet, Sir. Und dann könnte man sagen, dass sich die Ereignisse überstürzt haben. Vor allem musste ich Tim O'Connell und seinen üblen Scherzen Einhalt gebieten. Denn er hatte ja gesagt, dass er zurückkommen würde und egal was er sonst gewesen sein mag, er war doch ein Mann, der sein Wort hielt.«
Scanion hatte sich prompt darangemacht, mehrere Freunde und Verwandte zusammenzutrommeln, allesamt Soldaten oder ehemalige Soldaten - »Und ich bin mir sicher, dass Euer Gnaden mir verzeihen werden, wenn ich ihre Namen nicht erwähne«, sagte Scanion mit einer kleinen, ironischen Verneigung in Greys Richtung -, die sich in der Apotheke, oben in Francines Zimmer oder in Scanions großer Vorratskammer auf die Lauer gelegt hatten
Und natürlich war O'Connell noch am selben Abend kurz nach Anbruch der Dunkelheit zurückgekehrt.
»Er hatte einen Schlüssel. Er schließt also die Tür auf und kommt mucksmäuschenstill in den Laden geschlichen, hebt die Form auf - und stellt fest, dass sie leer ist.«
Der Sergeant war herumgefahren und hatte sich Scanion gegenübergesehen, der hinter der Theke stand und ihn beobachtete, ein sardonisches Lächeln im Gesicht.
»Sein Gesicht ist angelaufen wie eine rote Rübe«, sagte der Apotheker. »Ich konnte es im Lampenschein sehen, der durch den Vorhang an der Treppe kam. Und seine Augen haben sich zu Schlitzen zugekniffen wie die einer Katze. >Diese Hure<, hat er gesagt. >Sie hat es Euch gesagt. Wo sind sie?<«
O'Connell war mit geballten Fäusten auf Scanion zugestürzt, um sich einer Horde wütender Iren gegenüber zu sehen, die die Treppe herunterkamen oder aus der Vorratskammer hasteten und sich in aller gebotenen Eile über die Theke schwangen.
»Also haben wir ihm zu spüren gegeben, was er der armen Francie angetan hatte«, sagte der Apotheker mit verhärtetem Gesicht. »Und wir haben uns damit Zeit gelassen.«
Und die Nachbarn zu beiden Seiten des Hauses hatten ohne eine Miene zu verziehen geschworen, sie hätten in jener Nacht kein Geräusch gehört, erinnerte sich Grey zynisch. Tim O'Connell war kein beliebter Mensch gewesen.
Nachdem er tot war, lag es auf der Hand, dass O'Connell nicht auf Scanions Grund und Boden gefunden werden durfte. Daher hatte die Leiche zunächst einige Stunden hinter der Theke gelegen, bis es in den frühen Morgenstunden auf den Straßen ruhig geworden war. Die Männer hatten die Leiche in ein Laken gewickelt, sie lautlos durch die kalte Schwärze der Seitengassen getragen und sie vom Puddle Dock geworfen - »wie Abfall, und das war er ja auch, Sir« -, nachdem sie sie zunächst der Uniform beraubt hatten, auf die O'Connell als Verräter kein Anrecht hatte. Sie war schließlich gutes Geld wert.
Am nächsten Tag war Jack Byrd zurückgekehrt und hatte seinen Arbeitgeber, Mr. Trevelyan, mitgebracht.
»Und der Ehrenwerte Mr. Trevelyan hatte einen Brief dabei, in dem Lord Melton, der Oberst Eures Regimentes, Sir - hat er nicht gesagt, dieser sei Euer Bruder? -, ihn um seine Hilfe dabei bat herauszufinden, was O'Connell im Schilde führte. Er hat mir erklärt, Lord Melton selbst sei nicht in London, doch Mr. Trevelyan wusste eindeutig alles über die Angelegenheit, und daher war es logisch, ihm die Papiere auszuhändigen, damit sie an die zuständige Person weitergereicht werden konnten.«
»Und Ihr seid darauf hereingefallen, nicht wahr?«, erkundigte sich Grey trocken. »Nun, es spielt keine Rolle. Er hat schon Klügere als Euch zum Narren gehalten.«
»Euch zum Beispiel, nicht wahr, Sir?« Scanion zog beide Augenbrauen hoch und lächelte, wobei seine weißen Zähne aufblitzten.
»Ich hatte eigentlich an meinen Bruder gedacht«, sagte Grey mit einer Grimasse und hob seinen Becher. »Aber mich gewiss auch.«
»Er hat Euch die Papiere doch zurückgegeben?« Scanion runzelte die Stirn. »Er hat gesagt, dass er das wollte.«
»Das hat er, ja.« Grey legte die Hand auf seine Rocktasche, in der die Papiere ruhten. »Aber da die Papiere zurzeit mit mir unterwegs nach Indien sind, gibt es keine Möglichkeit, die >zuständigen Autoritäten< davon zu unterrichten. Es ist daher genau so, als seien die Papiere niemals aufgetaucht.«
»Doch sicher besser niemals aufgetaucht als den Franzmännern in die Hände gefallen, oder?« Zweifel begann in Scanions Augen aufzuflackern.
»Das kann man nicht sagen.« Grey erklärte die Lage kurz, während Scanion stirnrunzelnd mit einem verschütteten Biertropfen Muster auf den Tisch malte.
»Ah, ich verstehe«, sagte er und verstummte. »Vielleicht«, sagte der Apotheker kurz darauf, »sollte ich mit ihm sprechen.«
»Habt Ihr den Eindruck, dass er darauf eingehen würde, wenn Ihr das tut?« Greys Frage war genauso von ungläubigem Hohn wie von Neugier erfüllt, doch Finbar Scanion lächelte nur und reckte sich erneut, sodass sich die Muskeln seiner Unterarme unter der Haut fest ballten.
»Oh ja, den habe ich, Sir. Mr. Trevelyan hat die Güte besessen zu sagen, dass er sich als in meiner Schuld stehend betrachtet - und so ist es wohl auch.«
»Dass Ihr mitgekommen seid, um seine Frau zu pflegen? Ja, da hat er wohl Grund zur Dankbarkeit.«
Doch der Apotheker schüttelte den Kopf.
»Nun, das mag so sein, Sir, doch das ist eher reine Geschäftssache. Wir haben eine Übereinkunft getroffen, dass er für Francies sichere Überfahrt nach Irland sorgen würde, ihr und dem Kind bis zu meiner Rückkehr genug Geld zur Verfügung stellen und mich für meine Dienste bezahlen würde. Und dass ich, sollten meine Dienste nicht länger benötigt werden, im nächsten Hafen an Land gesetzt werde und für meine Rückfahrt nach Irland gesorgt ist.«
»Ja? Nun, dann -«
»Ich meinte das Heilmittel, Sir.« Grey sah ihn verwundert an. »Heilmittel? Was, für die Syphilis?«
»Aye, Sir. Die Malaria.«
»Was in aller Welt meint Ihr damit, Scanion?«
Der Apotheker hob seinen Becher und trank einige Schlucke Bier, dann stellte er ihn wieder hin und atmete zufrieden aus.
»Das ist etwas, was ich von dem Chirurgen gelernt habe -dem Mann, der mir das Leben gerettet hat. Er hat es mir erzählt, als ich im Krankenbett lag, und ich habe ein paarmal gesehen, wie er es mit Erfolg angewendet hat, in der Armee.«
»Was gesehen, in Gottes Namen?«
»Die Malaria. Wenn ein Mann, der an der Syphilis litt, sich die Malaria einfing und sich wieder von dem Fieber erholte -falls er sich erholte -, dann war auch die Syph geheilt.«
Scanion nickte ihm zu und hob erneut seinen Becher, als hätte er ihm gerade ein Amtsgeheimnis anvertraut.
»Es funktioniert, Sir. Zwar ist es möglich, dass das Tertianfieber dann und wann zurückkehrt, doch die Syphilis tut es nicht. Das Fieber brennt die Syph aus dem Blut, versteht Ihr?«
»Heiliger Himmel«, sagte Grey, dem plötzlich ein Licht aufging. »Ihr habt diese Frau mit der Malaria infiziert?«
»Aye, Sir. Und habe heute Morgen das Gleiche für Mr. Trevelyan getan, mit Blut, das wir einem sterbenden Matrosen an den Ostindiendocks abgenommen haben. Mr. Trevelyan fand es sehr passend, dass es einer seiner eigenen Männer war, der ihm das Mittel zu seiner Erlösung lieferte.«
»Das passt zu ihm!«, sagte Grey beißend. Das war es also. Als er die skarifizierte Haut an Trevelyans Arm gesehen hatte, hatte er gedacht, Scanion hätte den Mann nur zur Ader gelassen, um seiner Gesundheit zu dienen. Er hatte nicht die leiseste Ahnung
gehabt »Dann ist Blut also das Transportmittel? Ich hatte gedacht, das Fieber würde übertragen, wenn man faulige Luft einatmet.«
»Nun, das ist es ja auch oft«, pflichtete ihm Scanion bei. »Aber das Geheimnis der Heilung liegt im Blut, versteht Ihr? Das Okulum war das Geheimnis, das der Stabsarzt entdeckt hat und an mich weitergegeben hat. Obwohl es wahr ist, dass man manchmal mehr als einen Versuch braucht, um eine richtige Infektion herbeizuführen«, fügte er hinzu und rieb sich die Nase. »Bei Mrs. Maria habe ich Glück gehabt; die Anwendung hat nur eine Woche gedauert, und schon hat sie wunderbar gebrannt. Ich hoffe, bei Mr. Trevelyan wirkt es genauso gut. Er wollte aber erst mit der Behandlung beginnen, wenn wir sicher auf hoher See waren.«
»Oh, ich verstehe«, sagte Grey. Und so war es auch. Trevelyan hatte sich nicht entschlossen, mit Maria Mayrhofer zu fliehen, um mit ihr zu sterben - sondern in der Hoffnung, den Fluch zu überwinden, der auf ihnen lag.
»Nun gut, Sir.« Bescheidener Triumph leuchtete aus den Augen des Apothekers. »Versteht Ihr nun auch, Sir, warum ich glaube, dass Mr. Trevelyan in der Tat geneigt sein dürfte, auf mich zu hören?«
»Das tue ich«, stimmte Grey ihm zu. »Und sowohl die Armee als auch ich werden Euch dankbar sein, Scanion, wenn Ihr es zuwege bringt, dass diese Information rasch zurück nach London gelangt.« Er schob seinen Hocker zurück, hielt jedoch inne, um noch eine Bosheit abzufeuern.
»Ich glaube allerdings, dass Ihr bald mit ihm sprechen solltet. Seine Dankbarkeit dürfte beträchtlich schwinden, wenn Frau Mayrhofer dank Eurer Wunderheilkunst stirbt.«