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Von der Mauer des Klosters aus blickte ich über das tiefgrüne Tal, über die Reisfelder und die Teegärten. Hinunter zu Fortune, der in Begleitung zweier Mönche durch die Reihen der Pflanzen ging.

Ein Riese in Grau, der durch dieses grüne Meer pflügte wie ein baiji, ein Delfin aus dem Yangzi Jiang, zwischen zwei Goldfischen,

Während er vollkommen im Gleichgewicht schien, eins mit sich und der Welt, wuchs in mir eine Unrast. Mit jedem Tag, den wir hier verbrachten.

Ein flatterndes Gefühl war es, irgendwo tief in meiner Brust. Wie ein Vogel, der mit den Flügeln schlug, um sich freizukämpfen.

»Frau Lian.«

Hoshang Shun, einer der gut zwei Dutzend Mönche in Ling Chuan Yuan, war zu mir getreten. Ich erwiderte seinen Gruß mit dem Gruß meines Klosters. Seine Augen, groß wie die Kerne des schwarzen Kardamoms, leuchteten unter den ergrauten Brauen auf.

Mit einer halben Drehung machte er einen Ausfallschritt rückwärts und streckte mir seine Handkante entgegen, seine andere Hand aufrecht vor der Brust.

Die Herausforderung war zu verlockend, um sie nicht anzunehmen.

Wie sein Spiegelbild nahm ich die gleiche Haltung ein, und auf einen wortlosen Zuruf hin, den nur wir beide hören konnten, warfen wir uns den Kampf der leeren Hände. Leichtfüßig, mit flinken Fäusten und blitzenden Augen; in feierlichem Ernst, wie es sich gehörte, aber nicht verbissen.

Bis wir atemlos voneinander zurücktraten und uns verneigten.

»Ihr kämpft gut«, sagte ich.

Er lachte, dass sich sein weiches Gesicht in vergnügte Falten legte.

»Nicht annähernd so gut wie Ihr, Frau Lian. Ich kämpfe seit Langem nur noch gegen mich selbst. Um meine Gelenke davor zu bewahren, zu Stein zu werden.«

»Wo habt Ihr den Kampf gelernt?«

»In dem Kloster, in dem ich aufgewachsen bin. In den Bergen der Mysterien und der Höchsten Harmonie. Ich verließ es, als ich gewahr wurde, dass der Weg des Kampfes nicht mein Weg ist.«

In meiner Brust regte sich einmal mehr die Unruhe. Ein Gefühl, das einem Sehnen glich und so stark war, dass es fast schmerzte. Ich legte die Hand auf das Brustbein, wie um diesem Schmerz Einhalt zu gebieten. Um zu spüren, wo genau es wehtat.

Meine Blicke strebten zu den Gipfeln des Huangshan, zu den Wolken hinauf.

Ich vermisste den Kampf. Nicht den einsamen Kampf gegen die eigenen Dämonen.

Den Kampf mit einem Gegner aus Fleisch und Blut vermisste ich. Das Tändeln mit dem Unbekannten, dem Zufall, das oft nur ein Wimpernzucken lang währte. Das Messen der Kräfte, der Geschicklichkeit, von Mut und Ausdauer. Diesen Tanz zu zweit, zu mehreren, im wahrsten Sinn des Wortes auf Messers Schneide.

Das war es doch, was mich ausmachte. Wer ich war.

Mein Blick richtete sich wieder auf Fortune, unten im Teegarten. Undankbar kam ich mir vor, jetzt, da mein Sehnen nach ihm, so lange übersehen, dann nur insgeheim gehegt, erfüllt worden war.

Dabei wusste ich doch, dass ich ihn wieder ziehen lassen musste, bald schon. Es sei denn, er blieb. Oder nahm mich mit, wie eine mudan, wie eine Rose oder ein Teepflänzchen. In einem Kasten aus Glas.

»Bitte sagt mir, Hoshang Shun«, flüsterte ich, »woher weiß ich, dass ich auf dem richtigen Weg bin?«

»Zweifel sind dazu da, uns vorwärts zu bringen, Frau Lian. Wie die tastenden Schritte auf dem Fels, um sich zu versichern, dass er hält. Doch wenn diese Zweifel nicht verstummen, ihr euch das immer wieder fragen müsst … Ihr wisst es, wenn ihr auf dem richtigen Weg seid. Aus tiefstem Herzen.«

Ich nickte, ein wundes Gefühl in der Brust. Dort, wo der eingesperrte Vogel weiter mit den Flügeln schlug und doch nicht wusste, in welche Richtung er fliegen sollte, käme er frei.

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