23
Ich kauerte im Innenhof unserer Herberge und sah Fortune zu.
Er pflanzte die Stecklinge und Ableger ein, die er in den vergangenen Tagen in Huadi und anderen Gärten erworben hatte. In einen Kasten, der – bis auf sein Gerüst aus lackiertem Holz – ganz aus Glas bestand.
Immer wieder tauchten Gesichter an den Fensteröffnungen auf, verweilten einige Zeit und verschwanden dann wieder. Schaulustige schlenderten wie zufällig in den Hof und blickten neugierig herüber.
»tieqiao«, verkündete Fortune und hob die Schaufel mit dem kurzen Stiel an.
Ich nickte.
Er versenkte die Schaufel in dem Sack Erde. »tie. qiao. Um den Boden zu schneiden. Richtig?«
Ich nickte wieder.
»Mir gefällt eure Sprache. Ihre Logik«, sagte er auf Chinesisch.
Er lernte schnell. Vor allem, wenn Wang nicht in der Nähe war und ihn mit endlosen Strömen von Pidgin überflutete.
Unsere Fahrten über den Fluss, aus der Stadt hinaus, und das Verhandeln mit den Gärtnern hatten Wang so sehr erschöpft, dass er in der Kammer oben ein Nickerchen halten musste, mitten am Tag.
»Mir gefällt an eurer Sprache ihre … Poesie.«
Wie ich musste Fortune dennoch oft auf seine eigene Sprache zurückgreifen.
»Po-e- …?«
»Poesie. Ein Gedicht. Verse. Wie ein Lied? Worte, die sich schön anfühlen. Nachklingen. Hier drin.«
Er klopfte sich mit dem Handballen auf das Brustbein; der einzige Teil seiner Hand, der nicht voll Erde war. Seine Mundwinkel kräuselten sich.
»Sogar ich merke, wie poetisch sie ist. Obwohl ich sonst keine poetische Ader habe.«
Po-e-sie.
Ich wiederholte die Laute in Gedanken. Ein kleines Juwel mehr in meinem Schatz aus Worten.
»Wie die Narzisse hier.«
Er hob die Pflanze an der Zwiebel an, deren Wurzeln dem Kinnbart eines alten Mannes glichen, und betrachtete sie versonnen.
»shui xian hua. Die Blume der Wasserfee.”
»Oder lingbo xianzi«, ergänzte ich. »Die Göttin über den Wellen.«
»Die Göttin über den Wellen«, wiederholte er murmelnd.
Sorgsam legte er die Pflanze beiseite, wischte seine Hände an der Jacke ab und holte sein Notizbuch hervor.
Ich wartete, bis er seine Gedanken aufgeschrieben hatte.
»Was bedeutet bei euch Narzisse?«
»Narcissus war ein schöner Jüngling. So schön, dass die Nymphe Echo und viele andere Nymphen des Wassers, der Berge und Täler ihn umwarben. Aber er war zu stolz, auch nur eine von ihnen zu erhören. Als er sich eines Tages selbst im Wasser erblickte, verliebte er sich in sein eigenes Spiegelbild. Er verzehrte sich so sehr nach seinem Ebenbild, dass er dort verschmachtete.«
»Wie dumm von ihm«, entfuhr es mir.
Fortune schmunzelte. »Mir gefallen eure Namen für die Narzisse auch besser.«
»Also wachsen sie auch bei euch?«
Er nickte.
»Bei uns werden sie allerdings nicht in Miniaturgröße gezüchtet oder in Form gebracht. Wir belassen sie, wie sie sind. Es ist auch eine andere Art von Narzisse: die Blüte ist größer und meist einfarbig gelb. Im Frühling wachsen sie überall, ganze Felder davon. Felder wie aus Gold.«
Ein Bild voller Poesie.
»Fortune …«
Ein leichtes Heben seiner Brauen verriet, dass er mir zuhörte, während er weiter seine Narzissen pflanzte.
»Wie kann es sein, dass die gleichen Pflanzen an Orten wachsen, die so weit auseinander liegen? In zwei verschiedenen Welten? Die gleichen Pflanzen – und doch nicht in der gleichen Gestalt?«
Fortune hielt inne und dachte nach.
»Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. »Vielleicht hatten diese beiden Arten von Narzissen einen gemeinsamen Vorfahr, der vor unendlich vielen Generationen von Ost nach West gebracht wurde oder umgekehrt. Wie die Menschen seit jeher Pflanzen von einem Land in das andere mitgenommen haben, von Kontinent zu Kontinent. Und seither haben sich diese Narzissen verschieden entwickelt. In unterschiedlichem Boden, unterschiedlichem Klima. Vielleicht ist diese Variante aus einer Urform gezüchtet. Wie der Mensch schon immer versucht hat, größere oder süßere Früchte wachsen zu lassen. Schönere Blumen, in bestimmten Farben.«
Er blinzelte vor sich hin, öffnete und schloss den Mund, als suchte er nach den richtigen Worten.