56

Wir wanderten durch die Reisfelder, unsere Schritte im selben Takt, so bedächtig, als hätten wir alle Zeit der Welt.

Sein Gang hatte sich verändert. Weniger eckig, weniger stelzend. Geschmeidiger. Als fühlte er sich wohl in der chinesischen Haut, die er über seine englische gezogen hatte.

Wie ein kleines Wunder kam es mir vor, neben ihm einherzugehen. Auf dem Boden meiner Heimat, in die ich niemals hatte zurückkehren wollen. Mich frei zu fühlen, obwohl mich ein unsichtbares Band zu Fortune zurückgeholt hatte.

»Wie war es, hier aufzuwachsen?«

Ich nahm mir ein paar Herzschläge Zeit, obwohl es dazu nicht viel zu überlegen gab.

»Einfach. Ein paar Schweine und Ziegen. Getreidefelder und ein Gemüseacker. Zu viele Menschen in einem zu kleinen Haus. Einfach … Tage und Nächte zwischen Feldern und Stall.«

Er nickte. »So bin ich auch aufgewachsen. Neun Kinder in einem winzigen Haus. Felder und Äcker und Weiden, Kühe und Schafe. Viel Land, das alles dem Grundherrn gehörte. Mein Vater kümmerte sich um die Hecken, die dessen Felder und Weiden einfriedeten.«

Wie seltsam, dachte ich, dass man auf Fortunes englischer Insel sein Land einzäunen musste. Man wusste doch, wo ein Feld aufhörte und ein anderes begann. Wem in der Gegend welches Land gehörte. Und die Tiere beisammen zu halten, das war die Arbeit von uns Kindern gewesen.

»Wie bist du von hier ins Kloster gelangt?«

Ich bückte mich nach einem Reishalm, der sich von den glänzenden Wasserflächen hierher verirrt hatte, zwischen das Gras am Wegesrand, und rupfte ihn aus.

»Hast du gewusst, dass der Reis es nicht nötig hat, ins Wasser gepflanzt zu werden? Aber weil er darin gedeihen kann, setzt man ihn in diese Wasserfelder. Dort kann er frei wachsen, ohne von Unkraut bedrängt zu werden. Das erleichtert die Ernte. Auch um den Preis, dass sich manchmal Giftschlangen in den Feldern verstecken und mit ihrem Biss die Bauern töten.«

Ich brauchte noch etliche Schritte, bis ich den Anfang machte, während meine Finger mit dem Reishalm spielten.

»Ich war nicht immer Lian, musst du wissen.«

Die Art, wie er neben mir einherging, den Kopf andächtig gesenkt, machte es leichter.

»Da war einmal ein Bauernmädchen namens Qiuyue. Benannt nach dem Herbstmond, unter dem es geboren worden war. Ein Mond, goldgelb und voll wie die Ähren des Weizens auf dem Feld. Noch ein Mädchen mehr zu den dreien, die meine Eltern bereits hatten, und nur zwei Söhne.«

Nicht einmal ein besonders hübsches Mädchen. Nicht wie Pfirsichblüte, meine zweitältere Schwester, mit ihren zarten Zügen, der hellen Haut. Zum Glück war ich aber auch nicht allzu hässlich; bestimmt würde es reichen, dass mich einer der Söhne aus der Nachbarschaft zur Frau nahm, für nur eine Ziege und ein paar Hühner dazu.

Für mich zu jener Zeit nichts als nebensächliche Worte, die meine Mutter, mein Vater so achtlos fallen ließen wie eine Flaumfeder, die sich im Jackenärmel festgehakt hatte. Ich war ja noch ein kleines Mädchen. Glücklich, draußen zu sein. Glücklich, auf dem Feld mitzuhelfen oder bei den Tieren.

»Eines Tages wurde eine Sänfte vor unserem Haus abgesetzt, und die Träger halfen einer feinen Dame heraus.«

Ich hatte noch nie etwas so Schönes gesehen. Ihre Gewänder aus bestickter Seide, ihr Gesicht, blass und schmal wie ein Reiskorn. Mit Augen wie Kohle, einem Mund wie eine Mohnblüte und Brauen wie mit Tusche gezogen.

»Eine Heiratsvermittlerin war es, die von der Schönheit meiner Schwester gehört hatte und sich Pfirsichblüte einmal ansehen wollte. Doch es war ich, die ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.«

Ich, Qiuyue – die ich klein und schmal war für mein Alter, mit einem viel zu runden Gesicht und zu großen Augen. Ausgerechnet ich.

»Zur Frau eines wohlhabenden Mannes würde sie mich machen, versprach sie meiner Mutter. Ich sei zu Großem bestimmt. Etwas Besonderes hätte ich an mir, sagte sie.«

Wie eine Fee aus einem Märchen stand sie vor mir und versprach, alle meine Wünsche zu erfüllen. Wünsche, die so geheim waren, dass ich nicht einmal von ihnen gewusst hatte, bis sie sie vor mir ausbreitete, in ihrer ganzen verheißungsvollen Pracht. Eine betörend schöne und mächtige Zauberin, die mit einem Wink ein neues, ein glänzendes Leben vor mir ausbreitete, von dem ich kaum je etwas geahnt hatte.

Bereitwillig hätte ich einen Finger geopfert, wenn sie danach verlangt hätte.

Sie verlangte nach mehr.

»Es gab da nur eine Kleinigkeit …«

Sechs Jahre alt musste ich da gewesen sein. Vielleicht ein bisschen älter, ein wenig jünger. Ich wusste es nicht genau, Geburten eines Mädchens wurden nie so gefeiert wie die eines Jungen. Nie so im Gedächtnis behalten.

Jung genug jedenfalls, dass meine Knochen noch wie Wasser waren, wie es hieß.

Eine Lüge.

»Meine Füße. Gewöhnliche, plumpe Bauernfüße hatte ich. Lotosfüße sollten es aber sein.«

Damit aus einem Kind eine Frau werden konnte. Aus einem wertlosen Bauernmädchen gutes Heiratsmaterial.

Denn nichts machte eine Frau schöner und begehrenswerter als diese winzigen, neu geformten Füßchen. Ihr trippelnder, hüftschwingender Gang. Die Hilflosigkeit, die eine solche Frau an ihr Heim fesselte. Die die Hilfe einer Dienerin erforderte, musste sie sich dennoch einmal vor die Tür wagen.

Ich fragte mich, wie vielen ihrer Töchter die Wangs wohl ebenfalls Lotosfüße aufgezwungen hatten. Wie vielen Mädchen hier im Dorf man das Gleiche angetan hatte.

»Sie banden mir die Füße ein. Die Heiratsvermittlerin. Meine Mutter. Eine Frau aus der Nachbarschaft, die wusste, wie man dabei vorging.«

Weiß waren die Fesseln gewesen, die in mein Fleisch schnitten, bis die Haut aufbrach, den Stoff mit meinem Blut tränkte. Weiße, durch antrocknende Tinkturen versteifte Bänder, die die vier kleinen Zehen nach unten bogen, mit dem Ziel, die Knochen zu brechen, die Sehnen zu zerreißen.

Meine Hände verkrampften sich, meine Magennerven zogen sich zusammen; erstaunlich, wie viel Macht die Erinnerung haben konnte, auch nach zwanzig Jahren noch.

»Ich hatte nicht gewusst, wie viel Schmerzen man erleiden konnte. Ich war überzeugt, ich müsste sterben, allein am Schmerz. Den Tod hatte ich mir gewünscht, nur damit dieser Schmerz aufhörte. Stunden. Ganze Tage und Nächte. Erst viel später erfuhr ich, dass viele Mädchen an dieser Prozedur starben. Weil sich die Füße, die Nägel entzündeten und das Blut vergifteten. Dass viele dieser Lotosfüße faulten. Begleitet von einem Gestank, den auch die teuersten Düfte nicht überdecken können. Und dass viele Frauen unter den Schmerzen, die sie von Kindheit an begleiten, zum Opium greifen oder ihrem Leben ein Ende setzen, weil sie die Qualen nicht länger ertragen.«

Doch noch viel schlimmer als die körperliche Pein war das Begreifen, dass nicht nur meine Knochen gebrochen werden sollten. Sondern auch mein Geist. Mein Wille.

Das Wissen, dass ich danach nie wieder das Gras unter meinen bloßen Füßen spüren würde. Den sonnenwarmen Erdboden, oder wie der Matsch herrlich zwischen meinen Zehen hervorquoll.

»Ich nahm den Kampf auf. Schreiend und brüllend, mit meinen Fäusten, meinen Zähnen. Den Kampf gegen diese Fesseln. Gegen meine Mutter, gegen die Frau des Nachbarn, die mich auf meinen verbogenen und eingebundenen Füßen mit einem Stock durch das Zimmer trieben, damit die Knochen brachen. Aber meine Knochen waren stark. Ich war stark.«

Ein Lächeln breitete sich nun auf meinem Gesicht aus. Ich konnte noch immer die Kraft in mir spüren, die ich damals, als kleines Mädchen, aufgebracht hatte. Den ungeheuren Mut. Diesen unbedingten, unbezähmbaren Willen, mich zu befreien.

»Eines Nachts gelang es mir, die Fesseln zu lockern, mit denen sie mich an einen Stuhl gebunden hatten. Mich loszumachen und die Bänder um meine Füße zu lösen.«

Ich brachte sogar die Kraft auf, keinen Laut von mir zu geben, obwohl es so, so wehtat, als das Blut wieder in die abgebundenen Füße, die abgeschnürte Haut schoss. So leise war ich, dass ich meine Mutter nicht weckte, die auf dem Boden schlief. Nicht meinen Vater, der im vorderen Raum lag, zusammen mit den Kleinen. Während man die älteren Kinder bei Nachbarn untergebracht hatte, damit sie sich nicht erweichen ließen. Von meinem Weinen. Meinen Schreien. Meinem Betteln. Damit sie kein Herz zeigten und mich losbanden.

»Ich zwängte mich durch das Fensterchen und humpelte barfuß über die Felder und die Wiesen. In die Nacht hinaus.«

Ein Gang wie über Glasscherben, mit jedem Schritt. Ohne anzuhalten. Ohne einen Blick zurück.

Ich machte nur Halt, um aus einem Bach zu trinken, irgendwo ein Ei zu stehlen oder ein paar Pflaumen. Die Sohlen meiner Füße platzten auf und bluteten, aber ich lief weiter. Weiter und weiter auf meinen großen, starken Füßen.

Es war mir gleich, ob ich lebte oder starb.

Ich war frei.

»Manchmal … wenn ich heute daran zurückdenke … dann kommt es mir so vor, als wäre jenes kleine Mädchen damals tatsächlich gestorben, in jener Nacht.«

Als wäre Qiuyue noch einige Zeit als verlorene Seele umhergeirrt, in den Weiten Anhuis, zwischen den Getreidefeldern und Viehweiden.

In einem Reich der Schatten. Im Echo von Schmerz, Hunger und Durst, Angst und Einsamkeit.

»Das Nächste, an das ich mich erinnere, sind die Farben der aufgehenden Sonne. Das Rot und Gold eines Gewands. Ein Mönch, der mich auflas und auf seinem Esel mitnahm.«

In die weit, weit entfernten Berge zwischen den Wolken. In das Kloster der Alten Haine und Jungen Bäume.

Wo ich als Lian wiedergeboren wurde. Die lernte, dass kein Stock, keine Speerspitze und keine Klinge ihr jemals wieder solche Schmerzen zufügen konnte wie die, die sie als kleines Mädchen überstanden hatte. Dass das Schlimmste in ihrem Leben bereits hinter ihr lag. Die biegsam war wie Bambus und fließend wie Wasser und sich niemals brechen ließ.

Deshalb war es wie ein kleines Wunder für mich, hier vor Fortune zu stehen, fest und sicher auf meinen großen starken Füßen. Auf denen ich schnell laufen und viele, viele li zurücklegen konnte. Die mir beim Klettern Halt und Stütze gaben und mich beim Sprung in die Höhe katapultierten.

Die sich ebensowenig hatten brechen lassen wie ich.

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