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An aufgeklappte Fächer erinnerten die Segel auf dem Fluss, manche rot, viele gelb, die meisten von der Farbe brauner Eier oder in gealtertem Weiß.

Wie ein brodelnder Ozean umspülten Fortune die Leiber der Lastenträger, ihre Stimmen Wellen, die sich hoch über ihren Köpfen schäumend brachen, um sich wenig später erneut zu überschlagen. Die Geschäftigkeit, mit der sie über die Anlegestelle eilten und die wartenden Dschunken mit Säcken voller Getreide und Reis und Bohnen beluden, machte Fortune beinahe seekrank. Die vielen Tage, die er auf einem Ochsenkarren durch Anhui gerumpelt war, steckten ihm noch in den Knochen.

Vom Kai aus sah er zu, wie Wang die Seeleute anherrschte, auf welche Weise sie die Kisten mit Pflanzen an Deck anzuordnen und zu sichern hatten. Obwohl er fürchtete, Wangs Wichtigtuerei könnte zu viel Aufmerksamkeit auf ihre Fracht ziehen, mischte er sich nicht ein. Er hatte gelernt, Wang zu vertrauen, wenn es um die Feinheiten von mianzi ging: das Gesicht, das man in den Augen der chinesischen Welt hatte. Das um keinen Preis beschädigt werden oder gar verloren gehen durfte, sondern möglichst groß und glänzend zu sein hatte.

Wenn es in seinem Fall auch ein geborgtes Gesicht war: das eines Edelmannes aus den fernen und fernsten Provinzen. Das geliehene Gesicht des fiktiven Xinghua.

Trotzdem rann es Fortune heiß den Nacken hinab, wenn ihn die Lastenträger im Vorübereilen musterten. Sobald die Männer an Bord der Dschunke ihre Blicke für einen Moment von den Pflanzenkisten hoben und zu ihm hinüberwandern ließen.

Das Gefühl von Sicherheit, das ihn in Anhui eingehüllt hatte wie eine warme Decke, umgeben von den vertrauten Gesichtern wohlmeinender Menschen im Haus der Wangs, im Dorf und auf den Feldern, war auf der Fahrt über holprige Straßen nach und nach von ihm abgefallen wie loser Putz. Übriggeblieben war die nackte Furcht vor argwöhnischen Fremden, die seine Tarnung durchschauten. Vor misstrauischen Gesetzeshütern, die ihn wegen Schmuggels verhafteten. Aufatmen würde er erst, sobald die Teepflanzen und das Saatgut an Bord eines Schiffes die chinesische Küste hinter sich gelassen hatten.

Zwischen den ehemals weißen oder blauen Tüchern, die sich die Seeleute um den Kopf gebunden hatten, leuchtete immer wieder ein schmutziggelbes auf: das des tung-chia, des Kapitäns, wie Fortune annahm. Ein unsteter Farbfleck in der Betriebsamkeit an Deck, der jetzt jedoch neben Wang zur Ruhe kam. Gründlich nahm der tung-chia die Pflanzenkisten in Augenschein, richtete dann seine Aufmerksamkeit auf Fortune und bewegte sich auf ihn zu, mit den tänzelnden, geschmeidigen Barfußschritten eines Mannes, der schwankenden Boden gewohnt ist.

Schweiß troff in den Kragen von Fortunes Übergewand.

»Seid gegrüßt, verehrter Herr.« Ein sehniges Männchen war der tung-chia, mit seiner Lederhaut von unbestimmbarem Alter. »Es ist mir eine Ehre, Euch mit meinem jämmerlichen Kahn nach Shanghai geleiten zu dürfen. Wenn Ihr mir Eure persönliche Habe anvertrauen wollt, so sorge ich dafür, dass sie unter Deck gebracht wird, in Euer Quartier.«

Zögernd streifte Fortune den Gurt seiner Botanisiertrommel ab und übergab sie dem tung-chia, der sie an einen seiner Matrosen weiterreichte, ebenso die Tasche mit dem Saatgut und sein dickes Reisebündel.

Nur widerstrebend löste der tung-chia seine Augen von Fortunes Flinte und deutete ein verlegenes Lächeln an.

»Verzeiht mein ungebührliches Verhalten, werter Herr«, erklärte er. »Aber ich kam nicht umhin, Eure Feuerwaffe zu bewundern. Machtvoll sieht sie aus. Gewiss habt ihr reichlichen Vorrat an Pulver und Kugeln?«

Fortune dachte an die Keilerjagd in den Wäldern von Tiantung; er konnte sich nicht vorstellen, was er hier auf dem Fluss für den Kapitän wohl schießen sollte.

»Weshalb fragt Ihr?«

»Die Gewässer weiter im Osten werden von hai dao heimgesucht.«

»hai dao

Das sonnengegerbte Gesicht des tung-chia verzog sich kummervoll.

»Unsere größte Sorge hier auf dem Fluss. Schlimmer noch als jeder Taifun. hai dao nehmen alles mit, was sie auf ihre Schiffe laden können, und stecken dann die geplünderte Dschunke in Brand. Und wen sie nicht getötet haben, den halten sie als Geisel, um Geld zu erpressen. Eine Plage, gegen die wir uns kaum zur Wehr setzen können. Denn die Mandarine erlauben uns keine Feuerwaffen.«

Er dämpfte seine Stimme zu einem Raunen.

»Manche Dschunken führen heimlich Feuerwaffen mit. Was ein großes Wagnis ist, weil die Mandarine keine Gnade kennen, wenn sie ein Schiff durchsuchen und verbotene Waffen finden. Wenn ich wählen kann, so sterbe ich lieber durch die Kugel eines hai dao als in den kaiserlichen Verliesen.«

Seine Augen, schimmernd wie schwarze Bohnen, huschten über das Deck und die Anlegestelle.

»Es heißt, die Mandarine fürchten, wir Schiffer könnten uns gegen sie erheben, hätten wir die Macht des Feuers. In Wahrheit aber ist es ein zu gutes Geschäft, müsst Ihr wissen. Es dauert oft Tage, mit ihnen über Geleitschutz zu verhandeln, und immer wollen sie viel Geld dafür. Mehr als das, was wir an Gütern geladen haben. Da kann ich meine Fracht auch gleich an die hai dao übergeben!«

Hilfesuchend wanderte Fortunes Blick über das Deck, doch Wang war nirgendwo zu entdecken.

»Euch und Eure Waffe müssen gewiss die Götter gesandt haben, werter Herr. Bitte, kommt an Bord, wir legen ab.«

Mit langen Schritten und eingezogenem Kopf marschierte Fortune durch den Bauch der Dschunke. Durch den mit Kisten und Säcken vollgestopften Laderaum, durch den Schwaden von Räucherwerk zogen. Auf die Kabine zu: die einzige an Bord und kaum mehr als ein mit Holzlatten abgetrennter Winkel unter Deck. In den bläulichen Qualm hinein, der in seinen Augen kratzte, in den Lungen brannte.

In der Tür blieb Fortune stehen. Der winzige Tisch bog sich unter Früchten und Gemüseknollen, unter Schalen mit würzig duftenden Gerichten und glimmenden Räucherstäbchen. Daneben stand ein Seemann, der Fortune über seine aneinander gelegten Hände entgegenblinzelte; sein Murmeln, das eben noch die Kabine gefüllt hatte, war jäh verstummt.

Um seinen Respekt für dieses Ritual zu bezeugen, legte Fortune ebenfalls die Handflächen aneinander und senkte den Kopf. Aus dem Augenwinkel sah er zu Wang; die Art, wie dieser geduckt zwischen seinen Siebensachen in der Koje kramte, verriet sein schlechtes Gewissen.

Der Seemann nahm sein Gebet wieder auf. In doppelter Geschwindigkeit, wie entrüstet, dass man ihn in seiner Andacht unterbrochen hatte; vielleicht spürte er auch die Spannung, die seit Fortunes Eintreten in der Luft knisterte.

Mit einer tiefen Verbeugung verabschiedete er sich, und Fortune schloss mit Nachdruck die Tür.

»hai dao

»Halb so wild«, wiegelte Wang ab, ohne ihn anzusehen. »Mal gibt es mehr, mal gibt es weniger davon hier. Und meistens sind sie auf lohnendere Schiffe aus als auf eine kleine Dschunke wie unsere.«

Fortune rieb sich über das Gesicht. »Warum in aller Welt hast du vorgeschlagen, über diesen Fluss nach Shanghai zu reisen? Nicht über den Fluss im Süden, über den wir hergekommen sind? Dann hätten wir auch eine kürzere Fahrt mit dem Ochsenkarren gehabt.«

Wang zog eines seiner Gewänder auseinander und begutachtete es gründlich, bevor er es akkurat wieder zusammenfaltete.

»hai dao gibt es überall, wo es Wasser gibt. Auf einem großen Fluss eben mehr als auf einem kleinen. Ist wie in einer großen Stadt. In der gibt es auch mehr Halunken als auf dem Land.«

Obwohl Wangs Gelassenheit die bedrohlichen Schilderungen des tung-chia auf Seemannsgarn zusammenschrumpfen ließ, fühlte Fortune sich nicht gänzlich beruhigt. Stumm sah er zu, wie Wang die Laken in der Koje glattstrich und sich dann der Fülle an Speisen auf dem Tisch zuwandte.

»Sieh nur: So viel gutes Essen haben wir geopfert! So reiche Gaben und so viel Räucherwerk. Die Götter werden mit uns sein!«

Er griff sich eine faustgroße Pflaume und biss herzhaft hinein. Fortune rieb sich erneut das Gesicht; er wusste nicht, was ihm mehr Kopfzerbrechen bereitete: seine Furcht vor den Beamten des Kaisers oder die Gerüchte über Piraten.

»Der Yangzi ist der schönste Abschied, den China dir machen kann«, nuschelte Wang mit vollem, safttriefendem Mund und versetzte Fortune einen aufmunternden Schlag in den Rücken. »Und außerdem bist du jetzt doch ein echter Abenteurer, ja?«

Der große und mächtige Strom des Yangtsekiang.

Wie groß, wie mächtig – davon hätte Fortune sich keine Vorstellung machen können, hätte er es nicht mit eigenen Augen gesehen, an Deck der Dschunke.

Gewaltig war dieser Strom, der sich durch die Landschaft schob, und nicht weniger majestätisch waren die Schluchten zu beiden Seiten, die Klippen und die bewaldeten Hänge. Von Farben und Texturen, die des Tags und in der Dämmerung an Smaragde und an Malachit erinnerten. An Aquamarine, Lapislazuli und Türkise, manchmal an das Braungold von Topasen, von der gleichen Leuchtkraft und Pracht, der gleichen Erhabenheit.

Eine starke Lebensader Chinas war der Yangtsekiang, langsam und doch mit überbordender Lebenskraft pulsierend. Nicht nur, indem er das Land zu seinen Ufern wässerte und nährte: Boote, Kähne und Dschunken trugen Reis und Getreide durch seine Fluten, Baumwolle, Tee, Süßkartoffeln, Holz und Bambus und alle Früchte des Sommers, begleitet von den Leibern der Delfine, die silbern im Wasser aufglänzten.

Unerschöpflich schien dieser Lebensstrom. In seiner Weite, seinem Reichtum. Endlos.

Doch er würde ein Ende nehmen, das wusste Fortune. Dort, wo sich seine Wasser mit denen des Meeres mischten, in Shanghai.

In den Nächten fühlte er die Macht des Yangtsekiang am stärksten. Wenn sich die Sterne im dunklen Wasser spiegelten und oben und unten eins waren, alles Himmel, alles im Fluss. Sobald Wolken den großen Strom zu einem finsteren Tunnel zusammenzogen, in dessen Sog Fortune dahinglitt.

In diesen Nächten spürte Fortune besonders stark, dass der Yangtsekiang ihn in die falsche Richtung trug: unaufhaltsam auf den Rand Chinas zu anstatt weiter hinein. Nicht in die Richtung, auf die sein innerer Kompass unbeirrt zuhielt.

Dann spürte er, wie klein und schwach er war, nicht mehr als eins der Lichtlein, die die Schiffe auf dem Yangtsekiang des Nachts beleuchteten. Zu klein und zu schwach, um den eingeschlagenen Kurs noch zu ändern.

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