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Sobald ich Hongkong hinter mir gelassen hatte und auf das Festland übersetzte, ließ ich mich davonspülen wie ein Stück Treibholz. Über die Bäche, Flüsschen und Seen im Land der Tausend Wasser. Durch das Land der Sümpfe und heißen Quellen, bis hinauf zu den schlangengleichen Windungen des Flusses des Ostens.

In Guangzhou blieb ich nicht lange, dort erinnerte mich zu viel an Fortune. Lieber driftete ich durch das Land der Hundert Flüsse, in dem ein immerwährender Sommer herrschte.

Meine Augen, meine Ohren hielt ich dabei immer offen. Ich beobachtete die Leute, hörte mir an, was sie untereinander redeten, redete auch selbst mit ihnen. Als wäre das Land, das ich einmal so gut gekannt hatte, ein fremdes, das ich erst kennenlernen musste.

Vom Regen hörte ich, der das Getreide auf dem Feld ertränkt hatte, und von angeschwollenen Wasserläufen, die die Reispflanzen fortgerissen hatten und das Vieh gleich mit. Von ungerechten, bestechlichen Beamten voller Willkür. Über Diebe und Räuber wurde geklagt, um die sich der Arm des Gesetzes nicht scherte, wenn die zum Opfer wurden, die ohnehin nicht viel hatten.

Vertraute Klagen, die vielleicht so alt waren wie China selbst.

So alt wie die Dynastie der Qing war der Unmut gegen die fremden Herrscher aus dem Norden. Daneben nahm sich zwar der Unwille gegen die fremden Barbaren aus dem Westen jung aus, dennoch war auch dieser inzwischen ein Gemeinplatz. Besonders in den Gegenden, die noch nie einen weißhäutigen, rothaarigen Mann gesehen hatten.

Es war die Art, wie dieser frische Hass den ewigwährenden, nie schwindenden Zorn befeuerte, die ganz neu war. Jetzt, nachdem die Mandschu in ihrer Eitelkeit, ihrem Starrsinn diesen Krieg verloren hatten, der nicht nur Unmengen an Silber und Blut kostete, sondern auch den Teufeln aus dem Westen die Tore zu unserem Reich öffnete.

Mit Gedanken und Worten schlugen die Menschen Funken über einer schon lange schwelenden Glut und schürten sie tüchtig, mit einem fieberhaften Eifer, einer Ungeduld und Heftigkeit, die mich erschreckte.

Ich floh vor dieser Unruhe, die die Luft auflud wie kurz vor einem Gewitter und schweflig roch. Den Fluss des Westens hinauf floh ich. Durch die tiefen Schluchten und dunklen Wälder von Landschaften wie aus den alten Legenden. Wo Wehrtürme seit Jahrhunderten über das Land zu ihren Füßen wachten und Felsen wie versteinerte Krieger das Ufer behüteten, mochte ich mich sicher fühlen.

Dort, wo sich der Fluss zu einem stillen, verträumten See weitete, gingen Wasser und Land fast ununterscheidbar ineinander über. Bis zum Horizont reichten die Seen, in denen sich Felsen spiegelten, grüne Wälder und die Wolken am Himmel. Eine Welt, die nicht fest gegründet, sondern auf den Weiten der Wasser dahinzugleiten schien.

Umso standhafter zeigte sich die Stadt mit ihren massiven Mauern, die als Insel im Fluss des Westens lag. Weit hinaus ins Land blickten ihre Türme und erinnerten an damals, als China noch nicht geeint gewesen war, seine Reiche miteinander im Streit lagen. Mehr als nur ein Hauch von Geschichte lag hier in der Luft: Ein überdauernder Atem der Geschichte sickerte beständig aus den Rissen und Sprüngen im Stein.

Hier war es die Zeit, die sich im Fluss befand, zwischen einer Vergangenheit, die nie zu Ende gegangen war, und einer Gegenwart, die weit zurückreichte. Im Stimmengewirr der Menschen, die die engen, alten Gassen wohl auf die gleiche Weise bevölkerten wie all die Generationen vor ihnen. In der Frische der Früchte von Feldern und Gärten, die vor den betagten, immer noch kunstvollen Fassaden feilgeboten wurden, und den Rufen ihrer Händler. Im Hämmern und Klopfen aus den Werkstätten, in denen dasjenige neu gemacht wurde, was unter der Zeit gelitten hatte.

Ewiggleich, gewiss seit Menschengedenken, waren auch die Geräusche von Streit und Kampf. Wie überall, wo ich je gewesen war, und sicher auch sonst auf der ganzen weiten Welt.

Die Geräusche von Hieben. Lautes Keuchen und Stöhnen, mal im Schmerz, mal angestrengt und wutentbrannt. Flüche und gebrüllte Schimpfwörter. Geräusche, die im Brausen und Summen der Stadt fast verwehten; ein Kräuseln in den Wellen aus Stimmen, Schritten, Handgriffen, Atemzügen, dem Rascheln von Kleidern, Hufgeklapper und dem Knirschen von Wagenrädern. Ein Vibrieren auf der Haut, das manchen auf der Gasse schneller gehen ließ, wie um davor zu fliehen, andere wiederum wie magisch anzog, nach dem Ursprung suchen ließ.

So wie mich.

Im Schatten eines Torbogens und umringt von Schaulustigen, die sie noch anfeuerten, drosch eine Horde mit Mandschuzöpfen auf drei Gesellen ein. Schmächtige Kerle, vielleicht noch nicht einmal ausgewachsene Männer, die sich verbissen wehrten, mit aller Kraft selbst Schläge austeilten, aber hoffnungslos unterlegen waren.

Nichts deutete auf einen Raub hin. Nichts in den Beschimpfungen, die durch die Luft schwirrten, legte nahe, dass die drei etwas stehlen oder jemanden betrügen wollten. Für mich gab es keinen Zweifel, wer hier das Opfer war.

»He«, rief ich in das Getümmel hinein. Ein erstes Ausstrecken meiner Fühler, wie ernst diese Prügelei sein mochte.

Keiner der Männer mit Zopf hob auch nur den Blick; ein paar Gaffer – halbwüchsige Burschen mit Pickeln und den allerersten Barthärchen im Gesicht – lachten, stießen sich grinsend gegenseitig an. Wie so oft, wenn eine Frau die Stimme erhebt.

Ich folgte meinem eigenen Ruf und flog über die Gasse. Über die Papierfetzen hinweg, schwarzschlierig von Schriftzeichen, den Fragmenten ungelenker Zeichnungen, die den Boden bedeckten wie schmutziger Schnee.

Wie ein Windstoß fuhr ich zwischen die verknäulten Leiber. Hieb um Hieb löste ich nach und nach diesen Knoten. Einen Tritt nach dem anderen versetzte ich, gegen Arme, Beine, Kieferknochen und Weichteile.

Der Moment des Triumphs blieb aus, es gab noch nicht einmal ein Aufatmen. Mit jedem Mann, der zu Boden ging, wuchs die Unruhe in der Menge. Die ersten Schaulustigen, die das vorzeitige Ende dieses Spektakels fürchteten, machten sich daran, mit geballten Fäusten in die Bresche zu springen. Ein Stein traf mich an der Schulter, und aus dem Augenwinkel entdeckte ich einen drohend geschwungenen Hammer.

Es gab nur einen Weg, diesen Streit zu beenden, ohne unnötig Blut zu vergießen. »Lauft!« Ich zerrte einen der drei Gesellen vom Boden hoch, trieb die anderen beiden vor mir her.

Selbst die größte Stadt, mag sie sonst noch so lebhaft und laut sein, hat ihre stillen Winkel. Dunkel sind sie meistens, zumindest dämmrig und tags fast genauso leer wie in der tiefsten Nacht. Selbst in der Stunde des Pferdes, wenn die Sonne am höchsten steht.

Wie die Gasse, in der sich unsere atemlosen Laufschritte verlangsamten, wir schließlich stehenblieben. In der Ruhe eines menschenverlassenen Fleckchens, in Sicherheit. Nur eine alte Frau lugte aus einem Fenster und beäugte uns misstrauisch, bevor sie mit Nachdruck den Fensterladen zuschlug.

»Habt vielen Dank für Eure Hilfe«, keuchte einer der drei, während er sich mit dem Handrücken das Blut aus dem Mundwinkel wischte. »Ich bin Dong, und die beiden hören auf die Namen Chang und Chao. Frau …«

Ich ging auf seinen fragenden Blick nicht ein, dachte auch nicht daran, mir ihre Namen zu merken, das tat ich nie.

»Gebt Acht in der nächsten Zeit«, riet ich. »Solche Kerle schlagen wieder zu, solltet ihr noch einmal ihren Weg kreuzen. Verlasst vielleicht besser die Stadt, wenn ihr könnt. Wenigstens für einige Zeit. Die Menschen vergessen zum Glück schnell.«

Mit dem Ärmel fuhr ich über meine schweißnasse Stirn und wandte mich zum Gehen.

»Wartet bitte. Wir sind Euch zu großem Dank verpflichtet. Erweist uns die Ehre und seid heute unser Gast.«

Ich zögerte, allerdings nicht allzu lange: Die Aussicht auf eine ordentliche Mahlzeit war zu verlockend.

Die Garküche war nicht mehr als ein Verschlag aus Holzlatten, der schief an einem Stück Stadtmauer klebte. Kaum sauberer als in einem Stall war es dort, und genauso einfach war das Essen.

Über der großen Schüssel mit dampfendem Reis, den grob zerteilten gekochten Hühnern und bok choi, dem weißen Gemüse, musterte ich die drei Männer. Sehr jung waren sie noch, eher Burschen als Männer.

Mit seinen kleinen Augen, von denen eines gerade in Schattierungen von Purpur zuschwoll, und seinem pausbäckigen Gesicht erinnerte Chang an eine Bambusratte; dazu passten die dicken Borsten auf seinem Kopf und einzelne Barthaare, die überlang aus seinen Wangen sprossen. Chaos lange Schneidezähne und die Art, wie es fortwährend in seinem zerschlagenen Gesicht zuckte, während er an den Blättern des bok choi mümmelte, ließen mich an einen Hasen denken. Ein Hase, dem der geschorene Pelz auf dem Kopf gerade nachwuchs, rings um den Stummel des abgeschnittenen Zopfes.

Dong, dessen zerschrammtes Jochbein sich bläulich verfärbt hatte, mochte ein bisschen älter sein; vielleicht wirkte es so, weil er den Wortführer gab, sein schmales Gesicht mit den großen Ohren und den schräggestellten Augen etwas von einem Rotwolf hatte.

»Wie Ihr den hässlichen Fettwanst mit einem Schlag gegen sein gepolstertes Kinn außer Gefecht gesetzt habt …« Seine Faust schlug bekräftigend in die Luft, bevor er ein Stück Huhn in der feurigen roten Soße versenkte.

Ich runzelte die Stirn. Schön oder hässlich waren keine Kriterien im Kampf, ebenso wenig wie Wohlwollen oder Abneigung; dort gab es nur die Pole von stark und schwach, geschickt oder ungeschickt. Selten achtete ich dabei auf körperliche Eigenheiten, auf Gesichter.

Mein Blick war ein anderer. Meine Aufmerksamkeit galt allein den Bewegungen: den Vorahnungen davon, ihrer logischen Abfolge. Den Schwachpunkten des Körpers, die bei fast allen Menschen die gleichen waren.

»Ihr seid wahrlich eine Frau von bemerkenswerten Fähigkeiten. Ich empfinde es als eine große Ehre, Euch begegnet zu sein.«

Plötzlich auf der Hut, senkte ich meinen Blick auf das Stück Huhn zwischen meinen Stäbchen, zog es durch die klare Soße mit Ingwer und Knoblauch.

Alles, was ich über Schmeicheleien wusste, über ihre Macht auf die Menschen, hatte ich von Älterer Bruder gelernt. Darauf verstand er sich gut, wenn es ihm ein vielversprechender Weg schien, seine Ziele zu erreichen; eine harte Lektion war es für mich gewesen, als ich ihn endlich durchschaut hatte.

Ich musste an Meister Qiang denken, der sparsam gewesen war mit seinem Lob. Der mir nie welches spendete, ohne mir mit dem nächsten Atemzug meine Eitelkeit vorzuhalten. Mir schonungslos aufzuzeigen, wo mein Kampf, mein Charakter noch immer Mängel aufwiesen. Es war nie das gewesen, was ich hatte hören wollen, aber immer die Wahrheit. Etwas, das mir meinen weiteren Weg wies. Mir mehr half als jedes noch so kunstvolle Kompliment. Auch wenn ich lange gebraucht hatte, um zu verstehen, dass es seine Art gewesen war, mir zu sagen, dass ihm etwas an mir lag.

Trotzdem verfehlten Dongs Worte ihre Wirkung nicht; wider besseres Wissen fühlte ich mich von der Art, wie er mich umwarb, angezogen.

»Wir könnten jemanden wie Euch gut gebrauchen«, setzte er hinzu.

Die Lider halb gesenkt, sah ich zu ihm hin. »Wer ist wir?«

Mit gespreizten Fingern fuhr er sich durch das Haar. Glatt und glänzend war es, wie das Gefieder eines Raben, es reichte fast bis zu seinem dreieckigen Kinn.

»Siehst du das?«, fragte er. »Kein rasierter Kopf mehr. Kein Zopf. Ich habe das Joch der Mandschu abgestreift. Ich bin frei.«

Ein gewinnendes Lächeln erschien auf seinem Rotwolfgesicht. Mir wurde bewusst, wie gut er aussah mit seinen klaren Zügen, den schrägen Augen. Und dass er ebenfalls um die Wirkung seines Äußeren wusste, war offensichtlich.

»Auch du kannst das Los abwerfen, das diese Tyrannei dir auferlegt. Auch du kannst frei sein. Heute schon, wenn du willst.«

Mir gefiel nicht, wie vertraulich er mich unvermittelt anredete. Sich ein Urteil über meine Art zu leben anmaßte.

»Ich bin jianghu. Ich bin frei.«

»Keine Frau kann in diesem Land wirklich frei sein. Nicht, solange die Frauen nicht den Männern gleichgestellt sind. Solange wir noch die Last der alten Werte tragen. Solange die neue Zeit noch nicht angebrochen ist. Aber sei versichert – sie ist nah, diese neue Zeit. Ein neues Leben steht uns bevor, in Freiheit und Gleichheit und Gerechtigkeit. Uns allen.«

Dong verstand zu reden, das musste man ihm lassen. Er wusste seine Worte so zu wählen, dass sie Gewicht hatten. Worte, die einen umgarnten. Die Fantasie anregten und tief verborgene Sehnsüchte weckten. Hätte Älterer Bruder nicht stets darauf bestanden, der Anführer zu sein, alles besser zu können, besser zu wissen, wären die beiden bestimmt gut miteinander ausgekommen.

Dong schob seine leere Schale beiseite und lehnte sich über den Tisch, dämpfte seine Stimme zu einem Raunen.

»Falls du noch nichts von Hong Hsiu-ch‘uan weißt, so wirst du bald von ihm hören. Sehr bald sogar. Denn er ist kein anderer als der Auserwählte. Derjenige, der dazu bestimmt ist, das Joch der Mandschu zu zerbrechen und unser Volk in die Freiheit zu führen.«

Mein Blick wanderte von Chang, der triumphierend grinste, zu Chao, dessen Augen voller Bewunderung an Dong hingen, während er den Mund voll mit Reiskörnern und Hühnerfleisch hatte.

»Hsiu-ch’uan stammt von hier, aus Guangdong«, fuhr Dong fort. »Er schien dazu bestimmt, die Laufbahn eines kaiserlichen Beamten einzuschlagen. Doch ein ums andere Mal scheiterte er bei den Prüfungen, bis ihm untersagt wurde, es ein weiteres Mal zu versuchen. Hsiuch’uan wurde von einem rätselhaften Fieber befallen und lag im Delirium. Doch in dieser Finsternis erlangte er plötzlich eine ungeahnte Klarheit des Geistes, eine Erleuchtung der Seele. Er verstand, dass er durch diese Prüfungen hatte fallen müssen, weil er den falschen Weg gewählt hatte. Von Anfang an war er zu Höherem bestimmt gewesen. Sogar einen Fingerzeig hatte er bereits erhalten, ein Schriftstück, das ihm ein Kirchenmann des Westens ein Jahr zuvor überreicht hatte. Hsiu-ch’uan erkannte, dass er niemand Geringeres ist als der Sohn Gottes. Der jüngere Bruder von yesu jidu. Wie dieser ein Heilsbringer, von Gott, seinem Vater, nach China entsandt, um die Teufel aus dem Land zu vertreiben. Um Gottes Wort zu verkünden und das Königreich des Himmels hier zu errichten.«

Seine Stimme wurde heiser vor Erregung, und ein leidenschaftlicher Glanz überzog seine Augen.

»Ein großer Mann ist er, voller Weisheit und Güte und flammender Entschlossenheit. Unzählige Dämonen hat er bereits vertrieben. Die Mandschu werden die Nächsten sein, dann die fremden Barbaren. Hsiu-ch’uan wird China befreien und wieder groß machen. Zusammen mit uns allen, die wir ihm folgen. Zu einem Reich ohne Ungerechtigkeiten, ohne Hunger und Not wird unser China werden. In dem wir alle wie Brüder und Schwestern glücklich miteinander leben.«

Ein Bruch zog sich durch die polierte Oberfläche der Gedanken, die er vorgetragen hatte; eine scharfe Kante inmitten des sonst so geschmeidigen Wortflusses.

»Ihr folgt einem fremden Gott? Dem Gott, den die Barbaren mitgebracht haben – um dann diese Barbaren zu vertreiben? Eure Glaubensbrüder? Wie kann das sein?«

Der Glanz in Dongs Augen härtete aus, zu dunklem, unbeugsamem Stahl.

»Für Gott in seiner allumfassenden Weisheit und Güte sind wir alle seine Kinder, gleich welcher Hautfarbe. Es war sein Wille, dass wir durch die Barbaren sein Antlitz erblickt haben, das ist wahr. Aber sie haben sich längst schon von ihrem Glauben abgewandt. Alles, was sie tun, was sie sagen, was sie sind, ist gottlos und schändlich. Sie haben sich von ihrem Gott abgewandt, und nun ist er es, der sich von ihnen abgewandt hat. Wir sind jetzt das auserwählte Volk. Es ist Gottes Wille, dass wir sein Wort verteidigen. Seinen Glauben jeden einzelnen Tag leben und im Reich verbreiten. Auch wenn es dafür nötig sein wird, alle Abtrünnigen zu vernichten.«

Ich schlug die Augen nieder. Dongs Erklärung konnte den Bruch nicht kitten, der sich für mich nach wie vor durch diese Gedanken zog. Sie in zwei Hälften spaltete, die in unversöhnlichem Widerspruch zueinander standen. Trotzdem schlug mein Herz schneller bei der Vorstellung, die Mandschu fallen zu sehen. Die fremden Barbaren aus dem Land zu jagen, gleich unter welchem Vorwand.

Bis ich an Fortune dachte und mein Herz einen Schlag versäumte.

Es waren seine Landsleute, über die Dong auf diese Weise sprach. Über die ich genauso dachte.

Konnte ein einziger Mensch so viel Gewicht haben wie Dutzende, Hunderte, vielleicht gar Tausende seines Volkes?

»Noch sind wir wenige«, hörte ich Dong sagen. »Aber wir werden bald mehr sein. Viele, viele mehr. Und je mehr wir sind, desto näher rückt der Tag, an dem wir China für immer verändern. Ein Paradies werden wir hier schaffen, für all die Menschenseelen des Landes.«

Ich erinnerte mich an die schmutzigen, zerrissenen Flugblätter auf der Gasse.

»Haben sie euch deshalb verprügelt?«, fragte ich leise. »Für eure Worte?«

»Die Menschen sind dumm. Selbst schwingen sie laute Reden von Veränderung und Umsturz – aber wehe, jemand kommt daher, der die Dinge zwar genauso sieht, sich jedoch nicht mit Worten allein begnügt. Der Taten folgen lassen will.«

Die Verächtlichkeit, die eben noch sauer aus seiner Stimme troff, schmolz dahin, und er schlug einen versöhnlicheren Ton an, fast nachsichtig.

»Ich kann es ihnen nicht verdenken. Zu lange mussten sie sich unter der Knute der Mandschu ducken. Zu lange hat man ihnen Furcht vor dem Himmelssohn und Gehorsam eingebläut Es wird noch einige Zeit und vor allem viel Geduld brauchen, um ihre Augen zu öffnen. Damit sie die Wahrheit erkennen und danach handeln. Selbst wenn wir sie dazu zwingen müssen. Oder selbst dafür sterben.«

Das Feuer, das zwischen seinen Worten aufloderte, beunruhigte mich; ich konnte nicht einschätzen, ob es noch Leidenschaft war oder schon Besessenheit.

Hatte ich recht gehandelt, vorhin auf der Gasse, als ich mich auf die Seite der drei Burschen gestellt hatte? Ich wusste es nicht mehr. Die Linie zwischen Recht und Unrecht, immer scharf, von immer unverrückbarer Klarheit, verschwamm vor meinen Augen.

Sie war mein einziger Halt gewesen, in all den Jahren, auf all meinen Wegen.

Ich spürte, wie Dong sich noch weiter über den Tisch lehnte, seine Augen auf mich geheftet; sogar sein Atem klang jetzt wie der eines Rotwolfs, der Witterung aufnimmt.

»Stell es dir doch nur vor«, raunte er. »Ein freies China. Frei von der Herrschaft der Mandschu. Frei von den habgierigen, hässlichen Barbaren. Ein Land, das in Frieden lebt und nichts als Gerechtigkeit kennt. In dem es keine Herren und Diener mehr gibt, sondern nur noch Brüder und Schwestern. Männer und Frauen, die die gleichen Rechte besitzen.«

So leise sprach er weiter, dass ich mich unwillkürlich nach vorn neigte, um ihn noch verstehen zu können. Dabei war seine Stimme alles andere als schwach; sondern eindringlich und mit so viel Gefühl aufgeladen, dass mir ein wohliger Schauer den Nacken hinabrieselte.

»Wir brauchen dich, unbekannte Heldin mit dem Schwert. Wir brauchen Frauen wie dich, die unsere Kunde an die Frauen des Landes weitertragen. Ihnen Mut machen, ihre Fesseln zu sprengen und sich uns anzuschließen. Wir brauchen dich für die Kämpfe, die uns bevorstehen. Um Männer wie Frauen anzuleiten, für Gerechtigkeit und Freiheit zu streiten. Ohne Frauen wie dich werden wir es nicht schaffen, dieses Land zu verändern und seine Geschicke in die eigenen Hände zu nehmen.«

Zehn Jahre war ich durch das Land gezogen, um in den Wassern des Flusses des Westens, in dieser Stadt jenseits der Zeit, einem langmähnigen Burschen zu begegnen, der mit seinen Freunden die gleichen Sehnsüchte hegte wie ich. Im rußverschmierten Verschlag dieser Garküche, auf dem fettigen, von Essensresten verklebten Tisch entwarf Dong vor meinen Augen ein China, das ich mir insgeheim immer ersehnt hatte.

Ein freies Land, über dem allein der Gott der Gerechtigkeit herrschte. In dem Männer und Frauen gleich viel wert waren. Dafür zu kämpfen – davon hatte ich schon so lange geträumt. Davon geträumt hatte ich, eines Tages mein Wissen weiterzugeben. Eine Meisterin zu sein wie Ng Mui einst, vor so langer Zeit.

»Ich bitte dich – schließ dich uns an. Stell deine Fertigkeiten in den Dienst unserer Sache. Aus China ein Königreich des Himmels zu machen – lohnt es sich denn nicht, dafür zu kämpfen?«

Er war geschickt darin, Menschen zu umgarnen, das sah ich wohl, und für den Moment ließ ich es geschehen.

Zu groß war mein Sehnen in diesem Moment, irgendwo hinzugehören. Wieder Wurzeln zu schlagen zwischen Gleichgesinnten, auf einem gemeinsamen Weg, in einem gemeinsamen Ziel.

War es am Ende nicht gleich, welchen Namen man dem Gott gab, für den man stritt, und wo er herkam – solange es ein Gott der Gerechtigkeit war?

Alle meine Hoffnungen, alle meine Träume konnten wahr werden. Bald schon.

Ich brauchte nur Ja zu sagen.

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