15

Ich musste mich nicht nach ihm umdrehen, er war nicht zu überhören.

Schwer trat er auf dem Erdboden auf. Jeder seiner Schritte ließ die hohen Gräser rascheln und knistern, in dieser ruhigen, ausgreifenden Gangart, die nie aus dem Takt geriet.

Erstaunlich, wie arglos er mir durch den Wald folgte, anscheinend ohne jeden Hintergedanken.

Erstaunlich, wie wenig von meinem Misstrauen übriggeblieben war. Von meiner Vorsicht.

Sie leuchteten uns schon entgegen: diese Früchte, nach denen er mich gefragt hatte, Tropfen aus warmem Gold in den dunklen Baumkronen.

Ich hörte ihn überrascht einatmen, bevor ich etwas sagen konnte.

»Hier«, erklärte ich trotzdem. »Das sind die …«

Aus all den Worten, die mir im Lauf der Zeit zugeflogen waren, zimmerte ich mir wieder und wieder im Geiste Sätze zusammen – und brachte dann doch nur Splitter heraus, die sich auf meiner Zunge ineinander verkeilten.

Er wanderte um die Bäume herum, betastete die Blätter und die kleinen, ovalen Früchte, betrachtete sie genau.

»Das sind sie? cum-quat

Mit seiner unbefangenen Neugier hatte er etwas von einem zu groß geratenen Jungen. Und mit seinem kindlichen, grenzenlosen Staunen.

»gam gwat. Ja. Gold… Goldmandarin.«

»Und man kann sie wirklich essen?«

Er grub beide Daumennägel in die gam gwat zwischen seinen Fingern, um die Schale zu lösen.

»Nein. Nicht. Einfach essen.«

Ich rupfte auch eine vom Zweig und biss hinein, durch die zähe Schale hindurch zum bittersüßen, festen Fleisch.

Er tat es mir nach, kaute angestrengt und verzog das Gesicht. Es war ihm anzusehen, dass er sie nicht mochte; lustig sah er dabei aus.

Ich wollte ihm sagen, dass sie trotz ihrer kräftigen Farbe noch nicht ganz reif waren. Im tiefsten Winter schmeckten sie am besten, und kandiert waren sie eine Köstlichkeit.

Aber ich blieb stumm, schaute ihm einfach zu, wie er mit seinen Utensilien hantierte, Maß nahm und alles aufschrieb.

Von allen Fragen, die er mir hätte stellen können, hatte er sich die nach meinem Namen ausgesucht.

Nicht in Worten. Mit seinem eigenen Namen. Seinen Gesten, seinem Blick.

Schon lange hatte mich niemand mehr nach meinem Namen gefragt. Ein Name nützte hier nichts, wenn er nicht in Bezug zu jemandem stand.

Ich war niemandes Tochter, niemandes Schwester. Niemandes Frau. Das sah man mir an.

Ein geborgter Name war es ohnehin gewesen. Das Recht darauf hatte ich verwirkt, als ich wegging, und irgendwann aufgehört, mich damit gleichzusetzen.

Bis er kam und mich danach fragte.

Und ich wieder Lian sein konnte.

Er. Fu-Chung.

Hatte er seinen Namen selbst nach Gehör in unsere Sprache übertragen? Falls es jedoch jemand für ihn übernommen hatte, hatte derjenige auf jeden Fall einen guten Blick bewiesen; ich musste mir immer ein Lachen verkneifen, wenn ich daran dachte.

Reicher Grashüpfer.

Seinen richtigen Namen mochte ich sehr.

Fortune.

Dieses Wort kannte ich.

xingyun. Erfolg. Wohlstand. Segen. Glück.

Obwohl er nicht besonders reich aussah, selbst für einen Fremden, und nicht so leichtherzig und beschwingt wirkte, wie ich mir immer einen Glückspilz vorgestellt hatte, war ich manchmal versucht, über den Ärmel seiner Jacke zu streichen. Wie unabsichtlich. Um eine Prise Glück mit den Fingerspitzen aufzuwischen.

Nur für alle Fälle, jeder konnte ja ein Quäntchen Glück brauchen.

Ich mochte, dass er mich zwar immer wieder forschend musterte, aber auf eine vorsichtige, respektvolle Art. Und nie versuchte er, näher an mich heranzurücken oder mich gar anzufassen; das nahm mich sehr für ihn ein.

Unbedarft kam er mir zuweilen vor. Unbeholfen, fast ein bisschen einfältig. Als hätte er noch nicht besonders viel vom Leben gesehen, obwohl er doch ein erwachsener Mann war.

Einen weisen Narren hätte Anshin ihn vielleicht genannt.

Dabei war er alles andere als dumm. Nicht mit der gerissenen Schläue eines Händlers. Nicht mit dem Schriftwissen eines Kaiserlichen Beamten. Eher wie ein Gelehrter – wäre er nicht so sehr ein Mann der Natur gewesen.

Er war anders als die anderen fremden Teufel, die ich bisher gesehen hatte. Leiser. Ernsthafter. In sich gekehrt; ich konnte mir nicht vorstellen, dass er je so ausgelassen und übermütig gewesen war wie die Jungen, mit denen ich aufwuchs.

Manchmal hätte ich gern mehr über ihn gewusst. Über das Land, aus dem er kam. Aber ich war es nicht gewohnt, Menschen über ein begrenztes Maß hinaus näherzukommen.

Ich wünschte, wir hätten Freunde sein können.

Der Himmel verdüsterte sich. Ein Geräusch wie von Wellen rollte heran, und ich legte den Kopf in den Nacken.

Eine Schar Schwanengänse zog über uns hinweg, mit rauschendem Flügelschlag und trockenen Rufen.

Als Kind hatte ich davon geträumt, mit ihnen zu fliegen. Genauso frei zu sein.

Jedes Mal, wenn ich heute welche sah, stand ich in Gedanken wieder vor der Hütte, in der ich geboren worden war. Hörte hinter mir das Grunzen und Quieken des Schweins in seinem Verschlag, das Meckern der Ziegen. Das Zischen der Sichel in der Hand meines Vaters und die Stimmen meiner Mutter und meiner Geschwister. Und jedes Mal erinnerte ich mich daran, wie mir alles aus den Händen glitt und ich losstürmte, den Gänsen nach. Schneller und schneller rannte ich, überzeugt, mich in die Lüfte erheben zu können, wenn ich nur schnell genug lief. Berauscht von der Geschwindigkeit und mit dem herrlichen Gefühl der schweren, nassen Erde unter meinen bloßen Füßen.

Die Gänse waren früh dran in diesem Jahr, auf ihrem Weg nach Süden. Ich hatte mein Gefühl für Zeit verloren und beinahe die Zeichen übersehen, die den nahen Winter ankündigten. Bald würde es zu kalt sein, um in der Wildnis zu leben.

Das altbekannte heiße Sehnen brannte in meinen Armen und Beinen.

Es war Zeit, weiterzuziehen, ich war schon zu lange geblieben.

Ich hätte ohnehin nicht gewusst, wie man mit jemandem gut Freund war.

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