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»Tochter. Des Windes.«

Vorsichtig schien sie den Worten auf ihrer Zunge nachzuschmecken. Ihre Stirn glättete sich.

Ermutigt schob Fortune sich den Bleistift hinter das Ohr.

»Ich heiße übrigens Robert. Robert Fortune.”

Wieder zeichnete sich eine Falte über der Nasenwurzel des Mädchens ab.

»Ro. Bert.” Mit der Handfläche klopfte er auf sein Brustbein. »For. Tune.«

Die Falte vertiefte sich.

»Fu-Chung?”, schob er ratlos nach.

Ihre Miene entspannte sich, zeigte fast so etwas wie ein Lächeln.

Womöglich traf seine Vermutung zu, dass Wangs Verballhornung seines Namens bestenfalls Nonsens war. Sofern die Laute hierzulande nicht so etwas wie Hornochse oder Pisspott bedeuteten.

»Lian. Mein Name. Lian.«

»Li-änn? Wie …” Fieberhaft blätterte er in den beschriebenen Seiten des Notizbuchs. »Hier! Lian. Wie die Trauerweide! Die bei euch Seufzende Weide heißt? Der Baum – so?«

Seine Finger ahmten schwer herabhängende Zweige nach, durch die ein sanfter Wind strich.

Sie schüttelte den Kopf.

»Das ist chui liu. Der Baum. Lian ist … Ast von dem Baum. Ast, der …«

Ihre Finger strichen durch die Luft und malten Lemniskaten hinein, anmutig und doch voller Kraft.

»Biegsam!«, rief Fortune aus. »Biegsame Weide!”

Sie nickte.

»Wenn Name für Mann. Für Frau meint Tochter der Sonne.”

Ein stolzer Name für dieses Mädchen, das in unförmiger Jacke und ausgebeulten Hosen im Gras kauerte, eine gute Armlänge von ihm entfernt. Ihre kräftigen Hände, die die Halme durchkämmten, waren rissig, voller Schwielen und mit Trauerrändern unter den kurzen Nägeln.

Ein Bauernmädchen, das tagein, tagaus Knochenarbeit auf den Feldern leistete und Weizengarben auf dem Rücken schleppte.

Nicht ein einziges Mal hob sie die Hand, um die feinen Strähnen, die der Wind aus ihrem Zopf gelöst hatte, aus dem Gesicht zu streichen. Flächig und rund war es, fast wie ein Herbstmond über den Feldern.

Wäre da nicht das entschlossene Kinn gewesen. Ein ausgeprägter Winkel des Jochbeins, der ihrem Gesicht seine Schärfe gab. Wie zu früh von Entbehrungen gezeichnet.

Ein Waisenmädchen, das sich durchs Leben schlug, indem es auf der Straße bettelte.

Dasselbe Mädchen, das unter der Pagode von Chimoo in geschmeidigen Sprüngen und Drehungen gezielt Tritte und Hiebe austeilte. Eine furchtlose Kriegerin mit funkelnden Augen, ihr Schwert ein glänzender Bannstrahl.

Womöglich spielte ihm seine Erinnerung gerade einen Streich, und er geriet ins Fantasieren. Es änderte jedoch nichts daran, dass er in der Schuld dieses Mädchens stand. Und Robert Fortune blieb nie jemandem etwas schuldig.

»Ich bin dir zu großem Dank verpflichtet. Für deine Hilfe. In Chimoo. Danke.«

Ein Blick aus dunklen Mandelaugen richtete sich auf ihn, senkte sich dann wieder; ihre Wangenknochen färbten sich leicht, und sie schüttelte den Kopf, wie unwillig.

»Doch«, blieb er beharrlich. »Ich weiß nicht, wie ich sonst …«

»Shenhu«, fiel sie ihm barsch ins Wort.

Verdutzt blieb Fortune einige Herzschläge lang stumm.

»Was heißt das … Schönn Schönn-jü?«

»Shenhu«, wiederholte sie mit Nachdruck. »Nicht Chimoo. Shenhu.«

Wieder und wieder versuchte er murmelnd die Laute nachzuahmen, während er sie in sein Notizbuch eintrug.

»Aber Chusan ist richtig, ja? Für das hier?«

Mit seiner Handbewegung schloss er den Hügel, auf dem sie kauerten, die Berghänge dahinter und die gesamte Insel ein.

»Zhoushan.«

»Chusan«, wiederholte er gehorsam.

»Zhou. Shan.«

»Tscho… Tschu… Ah.«

Er lachte auf, als er den feinen Unterschied zwischen den Lauten verstand, und auch in den Augen des Mädchens glomm es auf.

»Boot. Berg«, erklärte sie. »Zhou. Shan.«

»Boot und Berg«, murmelte Fortune und ließ seinen Blick über die Hügel und Täler schweifen.

Das Bild, wie diese gebirgige Insel als ein Boot im Meer lag, gefiel ihm.

»Ein Berg wie ein Boot … Ja, das verstehe ich.«

Er lächelte.

Ein Lächeln, das Lian erwiderte, bevor sie sich wieder den Gräsern widmete. Sie reckte die Hand vor, um unweit von Fortunes Knie über einen Halm zu streichen und ihn dann abzurupfen. Ihr Handrücken und ihre Finger waren übersät von feinen Narben, wie von Vogelschnäbeln. Eine weitere solche helle Kerbe entdeckte er oberhalb ihres Jochbeins, am äußeren Augenwinkel.

Biegsam wie eine Weide. Stolz und stark wie die Sonne.

Dieses rätselhafte Mädchen, bei dem er nicht einschätzen konnte, ob sie so lange geschwiegen hatte, weil sie ihn an der Nase herumführen wollte oder einfach nur misstrauisch und scheu war.

Um weitere Worte verlegen, konzentrierte Fortune sich wieder auf Anemone hupehensis. Auf die nüchternen Fakten, die er in den verlässlichen, eindeutigen Vokabeln der Botanik notierte.

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