19

Da waren sie. mudan.

Irgendwo im Gedärm der Stadt, wo übelriechende Rinnsale über das Pflaster liefen. Wo die Häuser sich so weit aufeinander zu neigten, dass nur dünne Streifen Licht in die Gassen fielen und sich der Wind schneidend hindurchpresste.

Strauchpäonien.

Hinter einer baufälligen Fassade, vor der es nach ranzigem Fett und Unrat stank. Jenseits eines Hofs mit einem Schweinepferch und eifrig pickenden Hühnern. Auf der anderen Seite einer Mauer, die auf ihrem krummen Rücken Jahrhunderte zu tragen schien.

Paeonia suffruticosa.

Buschig und hochgewachsen, fast schon kleine Bäume, und in prachtvoller Blüte stehend. In Schattierungen von leuchtendem Pink und sattem Purpur, Pfirsichfarbe und Korallenrot. Von einem blassen Rosa, das bläulich angehaucht war. Reinstes Weiß, zur Blütenmitte hin golden auslaufend.

Farben, die den kleinen Innenhof erleuchteten, irgendwo tief in dieser grauen Stadt. Ein Garten inmitten der weiten Steinwüste, wohl kaum größer als zwanzig auf zwanzig Schritte, die Luft darin wie frischgewaschen und süß, ähnlich feuchtem Herbstlaub oder überreifem Obst.

Fortune konnte der Versuchung nicht länger widerstehen. Zwischen Daumen und Zeigefinger ließ er die Blütenblätter einer Päonie hindurchgleiten, die ihn an die Schwingen eines Schwans erinnerten. Bestimmt gab es selbst in ganz China keine Seide, die sich damit vergleichen konnte.

Sein Blick kreuzte den des Wachmanns, der sie eingelassen hatte. Die Hand am umgegürteten Schwert, die Miene reglos; trotzdem fühlte Fortune sich ertappt und schob seine Finger rasch in die Hosentasche.

Ein zweites Paar Augen beobachtete ihn; schieferdunkel waren sie. Die Riefen darunter fächerten sich jetzt auf, wie zu einem wissenden Lächeln.

Der Hüter dieser Kostbarkeiten. Dieses kleinen botanischen Wunders.

Mit seinem verwitterten Walnussgesicht, der Bart wie Fäden gesponnen Zuckers, erinnerte er Fortune an einen fernöstlichen Magier im Guckkasten eines Jahrmarkts.

Auch wenn es reine Wissenschaft sein musste, die dieses Fleckchen Sommer möglich machte, mitten im Shanghaier Winter.

»Bitte, Lian – frag ihn, wie er das macht. Dass sie blühen, obwohl es Winter ist und kalt.«

Er verfolgte die auf- und absteigenden Laute ihrer Frage und der Antwort des Gärtners, die für Fortunes Ohren verblüffend kurz ausfiel.

»Er sagt, er muss nichts machen. Nur Wasser geben und pflegen. Und auch nicht viel. Bester … bester … ich weiß nicht, wie es heißt in deiner Sprache. Was man Pflanzen gibt, dass sie gut wachsen?«

Fortune brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, was sie meinte.

»Dünger? Wie Dung? fenfei?«

»Ja. Dünger. Er sagt, bester Dünger ist der Schatten des Gärtners. Und Winter in Shanghai – der tut ihnen nichts.«

Päonien, die nicht nur in üppiger Fülle, in prächtigen Farben blühten, sondern dazu noch äußerst robust waren – Fortune musste sie haben.

»Frag ihn bitte, ob ich welche davon kaufen kann. Und wie viel er dafür haben will.«

Angespannt verfolgte er den Wortwechsel zwischen Lian und dem Gärtner, obwohl er nicht das Geringste davon enträtseln konnte; ihre Mienen blieben unbewegt.

Als die beiden Stimmen leiser wurden, nur noch flüsterten, gab er auf, richtete seine Aufmerksamkeit stattdessen ganz auf Lian. Selbstbewusst wirkte sie, aber nicht fordernd; Respekt zeigte sie, ohne jede Spur von Unterwürfigkeit.

Frauen waren in solchen Dingen oft gewandter als Männer, das hatte er immer wieder festgestellt. Mit einem sechsten Sinn für den Umgang mit anderen Menschen ausgestattet. Einem besonderen Geschick für das Praktische, das Notwendige.

Sogar dieses Mädchen, das kämpfte wie ein Mann.

Er hatte nie die herrschende Meinung geteilt, Frauen seien das schwache Geschlecht. Niemand, der wie er auf dem Land großgeworden war, konnte das ernsthaft glauben. Dort arbeiteten Frauen genauso hart wie Männer. Kämpften sich genauso durch die Schwierigkeiten eines entbehrungsreichen Lebens, nicht selten sogar tapferer, ausdauernder, zäher. Und jeder Mann, der jemals Zeuge geworden war, wie eine Frau ein Kind zur Welt brachte, musste danach doch einen tiefen, unauslöschlichen Eindruck von der Stärke der Frauen zurückbehalten.

Frauen waren es, die diese Welt am Laufen hielten. In all den kleinen alltäglichen Entscheidungen und Tätigkeiten, die als selbstverständlich betrachtet und so leicht abgetan wurden.

England hatte Elizabeth I. hervorgebracht und Queen Victoria – trotzdem waren es Männer, die Gesetze erließen und für deren Einhaltung sorgten. Männer führten Kriege und beendeten sie wieder, und Männer gaben in Gesellschaft, Kunst und Wissenschaft den Ton an.

Nicht zum ersten Mal fragte er sich, wie die Welt wohl aussehen mochte, hätten mehr Frauen das Sagen. Sicher besser, war er dann jedes Mal geneigt zu glauben. In vielerlei Hinsicht.

Allein schon um der Gerechtigkeit willen.

Was definierte überhaupt einen Mann? Eine Frau?

Der Graben zwischen männlich und weiblich zog sich durch das gesamte Tierreich und sogar durch die Welt der Pflanzen. Die meisten Blüten waren sowohl männlich als auch weiblich, mit Staubblatt und Stempel. In der Botanik als »vollkommene Blüte« bezeichnet und ein Sinnbild für die höchste Verbindung zwischen Mann und Frau: die Ehe.

Was aber, wenn es vielmehr ein Sinnbild dafür war, dass jeder Mensch in seinem Wesen männliche wie weibliche Anteile besaß und in sich vereinte? In unterschiedlicher Ausprägung und Gewichtung, mit individuellen Stärken und Schwächen, Vorteilen und Nachteilen?

So wie manche Pflanzenarten männliche und weibliche Blüten trieben, und wieder andere ihre Blüten auf durchgehend männliche oder weibliche Pflanzen verteilten.

War es nicht gerade diese Vielfalt, die die Schönheit und den Reichtum der Natur ausmachte?

Ein Gedankengang, der ihn umso mehr beschäftigte, je länger er ihn verfolgte. Der aber auch die alte Unsicherheit weckte, die ihn in seiner Jugend gequält hatte.

Wenn er darüber nachsann, wie es genau vor sich ging, dass nach der Bestäubung durch Bienen aus der Blüte eine Birne wurde und sein Vater ihn dann für seine Verträumtheit an den Ohren zog. Wenn er lieber las oder durch die Natur streifte, als mit den anderen Burschen im Pub einen zu heben. Wenn ihn die Tatsache, dass Äpfel und Rosen miteinander verwandt waren, mehr faszinierte, als hübschen Mädchen nachzusteigen.

Eine Unsicherheit, aus der er herausgewachsen war, nach und nach. In seiner Lehrzeit, seinen Studien. Der Arbeit. Der Ehe mit Jane und der Vaterschaft.

Die jetzt jedoch wieder ihr hässliches Haupt erhob. Das ungute Gefühl mit sich brachte, dass er auf seinem Lebensweg etwas verpasst hatte. Ein paar Schritte übersprungen, bestimmte Erlebnisse und Erfahrungen ausgelassen, die ihn zu einem ganzen Mann gemacht hätten.

Ein Mangel, der ihm zu Hause nie aufgefallen war.

Er sollte so nicht empfinden, als Mann.

Es kam ihm nicht ungelegen, als ein fliegender Wechsel von kurzen Lauten, wie Vogelrufe, ihn aus diesen Gedanken riss.

Die Hände in die weiten Ärmel seines braunen Gewands geschoben, verneigte sich der chinesische Gärtner. Lian tat es ihm gleich, nur dass sie dabei ihre Handflächen aneinanderlegte.

»Komm«, warf sie Fortune über die Schulter zu, als sie auf das Tor zuging.

Mit einer harschen Endgültigkeit, die ihn bestürzte.

Er wollte nicht so schnell klein beigeben. Mit leeren Händen gehen. Wo doch die Päonien zum Greifen nahe waren.

Hilfesuchend sah er den Gärtner an, der seinen Blick ungerührt erwiderte.

Nicht unfreundlich, aber mit der Entschiedenheit des letzten Worts.

Schweigend wanderten sie durch die Gassenschluchten.

Irgendwo in einem Hinterhof keifte eine Frauenstimme, hämmerte es in einer Werkstatt; ein Hahn krähte.

Nicht ein einziges Mal hob Lian die Augen, um ihn anzusehen. Ihre Brauen waren fortwährend in Bewegung; mal wirkte sie ungehalten, mal grüblerisch.

Erst als ihre Stirn sich wieder glättete, sprach er sie an.

»Was hat er gesagt? Warum wollte er mir nichts verkaufen?«

Lian blieb stehen, atmete tief durch.

»Er hat gesagt … wenn die Leute hören, dass er an einen … einen …«

Sie zögerte.

»… an einen kwei-tsz?«, sprach er gutmütig das Wort aus, das sie offenbar umgehen wollte.

In ihren Augen glomm es auf, und ihre Mundwinkel kräuselten sich zu einem flüchtigen Lächeln.

»… an einen hong mou jin verkauft hat, macht er nie wieder Geschäfte. So viel Geld kannst du nicht geben, um es wettzumachen.«

»Es hätte doch niemand erfahren müssen.«

Lian nickte auf die Gasse hinaus, deutete dann auf die endlosen Reihen von Türen und Fenstern.

»Die Stadt hier … Tausend Augen. Tausend Zungen und Ohren. Überall.«

Unwillkürlich wanderte Fortunes Blick zu den Dachfirsten hinauf. Er dachte an die Gassenjungen heute Morgen und an ihr ausgeklügeltes System, sich miteinander zu verständigen.

Seine Finger in den Hosentaschen ballten sich zu Fäusten.

»Ganz Shanghai tut doch gerade nichts anderes, als Waren auf unsere Schiffe zu verladen!«

»Alles da draußen«, Lians Hand beschrieb einen weiten Bogen, »alles könnt ihr kaufen. Aber nicht mudan

Die ganzen Reichtümer Chinas hätte er hier in Shanghai erwerben können. Seide und Baumwollstoffe. Porzellan und bemalte Fächer. Mobiliar und lackierte Kästchen und Tee, den wertvollsten Schatz überhaupt.

Nur keine Päonien.

Die Enttäuschung saß tief, ein nagendes Gefühl tief im Bauch, an der Grenze zur Übelkeit.

»Ist nicht gerecht. Tut mir sehr leid.«

»Nein, es ist nicht gerecht. Aber ich kann es verstehen.«

»Ja?« Lians Blick flog überrascht zu seinem Gesicht.

»Ja.«

Dass Päonien hier solche Kostbarkeiten waren, höher geschätzt als alles Porzellan und sogar als Tee, eifersüchtig gehütet und nicht mit Silber oder Gold aufzuwiegen – das entsprach seinem eigenen Weltbild, imponierte ihm sogar.

»Warum …« Es war ihr anzusehen, wie vorsichtig sie sich an diese Frage herantastete. »Warum sind mudan wichtig für dich?«

Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort.

»Sie wären auch in England viel Geld wert«, sagt er nach einer Weile leise. »Und ich gebe zu, ich wäre stolz darauf, würde eine davon dort meinen Namen tragen. Aber mehr noch wäre ich stolz darauf, diese Schönheit nach Hause zu bringen. Damit die Leute dort sie sehen. Sich daran erfreuen können.«

Unsicher, wie viel Lian von seinen Beweggründen verstand und was sie davon halten mochte, sah er sie an.

Ein kleines Lächeln glitt über ihr Gesicht.

»Er hat auch gesagt, er weiß nicht, ob mudan stark genug für so lange Reise. Aber du sollst nach Guangzhou gehen. Guangzhou – Canton? Dort viel, viel mehr mudan. Dort … wie sagt man für Sonne und Regen und Wärme und alles?«

»Klima. Das Klima ist dort besser?«

»Klima, ja. Viel besser für Blumen. In Canton gibt alle Formen. Alle Farben. Für weniger Geld als hier.«

Misstrauen regte sich in ihm. »Und dort wird man sie mir verkaufen?«

»Vielleicht. Canton …« Lian hob eine Schulter. »Canton ist freier. Die Stadt ist mehr fremde Teufel gewohnt, von vor vielen Jahren.”

Es bedrückte ihn, wie schlecht sie aussah. Hohlwangig und mit tiefen Schatten unter den Augen, schien sie seit jenen Tagen in Chusan schlechte Zeiten mitgemacht zu haben; er war froh, zumindest heute eine üppige Mahlzeit in ihrem Magen zu wissen.

Trotzdem wirkte sie alles andere als mutlos oder verzagt; vielmehr zäh und unbeugsam. Von einem Stolz, der auch durchschien, als sie von ihrem Leben als jianghu erzählt hatte, ungewohnt wortreich. Mit einer Leidenschaft, die ihre Augen glänzen ließ.

Ein Leben, das ihm zu fantastisch vorkam, um wirklich zu sein. Selbst in diesem Land voller Merkwürdigkeiten kam Lian ihm vor wie eine Figur aus einem Abenteuerroman. Hätte sie in der Garküche nicht seine Hand genommen, um ihm den Umgang mit den Essstäbchen zu zeigen, würde er wohl daran zweifeln, ob es sie tatsächlich gab.

Als ob er mit Lian hier, in dieser Gasse abseits der geschäftigen Straßen Shanghais, am Rand einer magischen Welt stand, die ihn ebenso anzog wie sie ihm unheimlich war. Am Ufer einer anderen Zeit.

Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück.

Ganz rational an die naheliegendsten, die praktischen Dinge zu denken, gab ihm wieder Sicherheit.

»Würdest du mitkommen nach Canton? Mir helfen, die Pflanzen dort zu finden und zu erwerben? Ich kann dir nicht viel bezahlen, aber …«

Er brach ab, als ihr Gesicht für einen Augenblick ausdruckslos wurde, sich dann verfinsterte. Jetzt war sie es, die einen Schritt zurücktrat und dabei den Kopf schüttelte.

Sie deutete auf die nächste Hausecke, von der geschäftiger Lärm in Wellen zu ihnen in die Gasse schwappte.

»Da kommst du wieder auf die großen Straßen.«

Das scharfe Essen brannte in seinem Bauch. »Dann … hab vielen Dank für deine Hilfe.«

So hölzern, wie seine Worte klangen, so geschmeidig war die Geste, mit der Lian ihre Handflächen aneinanderlegte.

»Viel Glück für deinen Weg, Fortune. Für deine Suche.«

Ohne ihn noch einmal über ihre Fingerspitzen hinweg anzusehen, drehte sie sich um.

Er sah ihr nach, als sie durch die Gasse ging und zwischen den grauen Mauern verschwand.

Mit einer seltsamen Mischung aus Bedauern und Erleichterung richtete er seine Schritte nach den Geräuschen der Stadt aus.

Ein Satz des chinesischen Gärtners fiel ihm ein, von Lian in seine Sprache übertragen. Ein Satz, der sich in ihm festhakte und wohltuend alle anderen Gedanken beiseitedrängte. Im Gehen zog er sein Notizbuch aus der Jacke, hielt den Bleistift mit klammen Fingern.

Der beste Dünger ist der Schatten des Gärtners. (chin. Sprichwort)

Fortune blieb stehen und dachte nach.

Dieser Ausspruch gefiel ihm. Gab er doch das wieder, was die wichtigsten Eigenschaften eines Gärtners waren: Geduld und Beharrlichkeit.

Er war immer sicher gewesen, sich in beiden Eigenschaften auszuzeichnen. Nicht nur in der Hege, die er Pflanzen angedeihen ließ.

Lange brütete er darüber nach.

Nur beiläufig nahm er wahr, wenn er angerempelt wurde. Wenn jemand ihn anschrie und beschimpfte. Diesen dummen, grobschlächtigen kwei-tsz, der so ungeschickt im Weg herumstand, den unaufhörlich vorwärtsströmenden Fluss aus Menschenleibern, Karren und Waren behinderte.

Bis es wie ein Ruck durch ihn ging und ihn nicht länger zögern ließ.

Er steckte sein Notizbuch ein und machte kehrt.

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