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Das Herz, das zurückkehrt, ist wie der Flug eines Pfeils, sagt man.

Doch ich kehrte nirgendwohin zurück, und mein Weg war lang und beschwerlich.

Nach Westen führte mich dieser Weg. Durch das Land nördlich des Großen Sees, des Sees der Drachenboote und der kleinen Wale, die man jiangtun, Flussferkel, nannte. Dorthin, wo einst die Wiege des Reises stand, der unsere Schüsseln füllte. Durch den Wald der Steinsäulen und den Wald der Roten Bäume. Durch das Land des Nachtregens und durch die Drei Schluchten des Yangzi Jiang, wo so viel Wasser wie aus tausend Meeren zwischen den Klippen hindurchfloss. Ich durchquerte Felder von Weizen und Gerste, Süßkartoffeln und Bohnen. Gegenden, in denen die Menschen davon lebten, Singvögel zu fangen und zu verkaufen, und von Pfauenfedern, Edelsteinen, Messing und Moschus.

Ich kam durch die Dörfer der Wa, deren Frauen bunte Kopftücher trugen, deren Männer scharfen Schnaps brannten und wo man einen Büffel, ein Schwein oder ein Huhn schlachtete, um die Götter gnädig zu stimmen. Die Frauen der Derung trugen nur Schwarz und Weiß und ritzten sich mit Tinte Muster in ihre Gesichter, und bei den Mosuo waren die Frauen frei, ihre Männer zu wählen, die sie nur für Liebesnächte im Haus behielten und am anderen Morgen wieder wegschickten.

Durch das Land der Nüsse, des kostbaren Holzes und der wilden Pilze wanderte ich und durch die Gegend, wo der noch junge Yangzi Jiang, der Lantsang und der Nujiang ein Stück ihres jeweiligen Laufes nebeneinander herströmten.

Über weite Ebenen mit Feldern und Weiden führte mich dieser Weg, durch Täler und über Hügel. An den Ufern mächtiger Ströme entlang, an Seen und durch tiefe Schluchten, in Sonne und Regen und Wind und Nebel.

Den ganzen Sommer hindurch. Im Rot und Gold und Kupfer der herbstlichen Bäume. Im ersten kalten Hauch des nahen Winters.

Die Jahreszeiten lösten sich auf, als ich in die Berge hinaufstieg. Den Wolken entgegen, in ihre Kühle hinein.

Hell und Dunkel, Wachen und Schlafen waren alles an Zeit, was ich noch maß. Mein Herzschlag, mein Atem. Jeder Schritt, den ich ging, höher und höher hinauf.

Am Fuß des Berges war ich mir so sicher gewesen, dass er wirklich ausgesehen hatte wie eine erhobene Braue, und auch an den vier Flüssen, die im Kreis fließen, war ich vorbeigekommen.

Je höher ich stieg, desto größere Zweifel plagten mich. Die Angst, auf diesem Weg zu scheitern, weil ich doch noch nicht so weit war.

Umkehren konnte ich nicht, dafür würde meine Kraft nicht mehr reichen. Also marschierte ich verbissen weiter, den schmalen, steilen Pfad hinauf, der kaum mehr war als eine lange Kerbe in der Flanke aus Stein.

Mein Wille war es, der mich vorwärts trieb. Der feste Glaube daran, dass ich mein altes Leben hinter mir gelassen hatte; ich konnte doch spüren, dass ich ein neues Leben in mir trug!

Es begann zu schneien. Vielleicht waren es auch gar keine Schneeflocken, sondern Frühlingsblüten, die mich umtanzten und über meine glühenden Wangen strichen, ich wusste es nicht.

Ein Schatten türmte sich über mir auf, dunkel und ausladend; ich konnte nicht erkennen, was es war.

Ich schleppte mich weiter vorwärts, einen müden Schritt nach dem anderen. Ich wäre verloren, bliebe ich auch nur ein einziges Mal stehen.

Der Schatten über mir dehnte sich aus. Wie die Schwingen eines Vogels. Wie Arme, zum Willkommen ausgebreitet.

Wie das geschwungene Dach eines Tempels. Eines Klosters.

Meine Beine, die schwer waren, so schwer wie mein Leib, gaben nach. Ich fiel auf die Knie, in den Blütenschnee hinein, spürte dem Zucken und Flattern in mir nach, wie Schmetterlingsflügel.

Fortune hatte ich seine Last abgenommen; seither trug ich meine eigene.

Ich war dankbar für all die Geschenke, die er mir gemacht hatte. Wie er meinen Blick für die Schönheit der Welt öffnete. Mir eine neue Sicht auf das Leben gab. Wie er mich liebte und mich ihn lieben ließ. Eine neue Wirklichkeit schenkte er mir, die einer Art von Magie gleichkam. Den Mut, diesen Weg jetzt zu gehen und meinen alten Traum wahr werden zu lassen.

Bis hin zum letzten Geschenk. Dem Schönsten. Dem Größten. Ein Teil von ihm, der zu einem Teil von mir geworden war. Der fortleben würde und mir niemals mehr verloren gehen konnte.

Stimmen flogen mir entgegen. Durch die Schneeblüten vor meinen Augen sah ich Wirbel in Schwarz und Weiß; ein Segeln, ein Gleiten wie von einer Schar Kraniche. Wie die Gewänder von Mönchen und Nonnen.

Ich blickte in lächelnde, in besorgte Gesichter; freundliche Hände halfen mir auf die Füße, stützten und hielten mich. Unter der heißen Träne, die aus meinem Augenwinkel rann, lächelte ich.

Ich war zu Hause.

Finde mich, Fortune.

Auf dem Berg der erhobenen Braue, im Land, wo vier Flüsse im Kreis fließen.

Im Kloster des Weißen Kranichs.

… dennoch hege ich Hoffnung auf ein Einvernehmen zwischen diesen beiden Nationen, auf eine Versöhnung. Nichts kann dem chinesischen Volk eine bessere Idee von unserer Zivilisation und ihren Fähigkeiten vermitteln als unsere Liebe zu den Blumen. Nichts könnte besser dazu geeignet sein, um ein Gefühl zu bekommen, jeweils für sie als auch für uns.

Robert Fortune

Als wäre er von den Toten wiederauferstanden, werden die Leute sagen, so lange war er fort, und so wird es sich auch anfühlen, für Robert Fortune.

Wie nimmt man ein Leben wieder auf, das man drei Jahre zuvor zurückgelassen hat?

Ein Wiedersehen wird den Anfang machen. Ein Wiedersehen mit England. Mit Jane.

Mit Helen, die kein ganz kleines Mädchen mehr sein wird, sondern schon ein Schulmädchen, fröhlich, aufgeweckt und selbstbewusst, in manchen Momenten fast schon die junge Dame erahnen lässt, die sie einmal werden wird. Mit John, schon lange kein Baby mehr, sondern ein strammer kleiner Junge von drei Jahren, meist ruhig und in sich gekehrt und nur selten dickköpfig.

Als ein Fremder wird Fortune in das Cottage zurückkehren, in dem er einmal zu Hause gewesen war. Fremd sich selbst, im Leib und in der Seele. In der Sprache, den alltäglichen Lebensgewohnheiten. Ohne den Zopf aus Pferdehaar, das eigene Haar nachgewachsen, in seiner Gärtnerkleidung, einem Anzug.

Wie flickt man die Bande, die nie wirklich abgerissen sind, aber brüchig, nur noch an einer feinen Faser zusammenhalten?

Die Zeit hilft dabei. Die Vertrautheit des früheren Lebens, die immer stärker ist, mehr Gewicht hat als alles Neue, alles aus der Fremde Mitgebrachte.

Veränderung hilft.

Für Fortune wird es neue Aufgaben geben, als Kurator des Chelsea Physic Garden, mit einem höheren Gehalt und einem Haus auf dem Gelände des Botanischen Gartens; Jane wird den größeren Garten bekommen, von dem sie immer geträumt hat.

Im Rhythmus des alten, des neuen Alltags werden Robert und Jane die Fäden ihres Ehetuchs wieder zusammenknüpfen, das seine lange Abwesenheit aufgelöst hat. Ein Kind wird empfangen und geboren werden, allzu früh beweint und begraben. Ein neuer Riss wird sich auftun, im Tuch dieser Ehe, und dann umso fester gestopft werden.

China wird mehr und mehr wie ein Traum erscheinen. Fortune wird darüber schreiben, zusätzlich zu seinen Berichten für die Horticultural Society und wissenschaftlichen Artikeln, die ihm Ruhm einbringen.

Einen Reisebericht wird er verfassen, der den Nerv dieser Zeit trifft. Der den Hunger nach fernen Ländern stillt, die die Fantasie schon so lange beschäftigen, die Gier nach Exotik, nach Abenteuern im Lesesessel.

Die Pflanzen, die er mitgebracht hat, werden in Chiswick gedeihen und blühen und in Kew, genau wie die Teepflanzen in Calcutta.

Doch weil es eine Epoche der Unersättlichkeit ist, wird es nicht genug sein. Die Horticultural Society wird mehr wollen. Mehr von diesen außergewöhnlichen, betörend schönen Pflanzen. Mehr Tee.

Eine zweite Reise nach China.

Jane wird nicht begeistert sein, sie wird ein weiteres Kind erwarten. Robert wird zögern. Aber nicht allzu lange.

Zwischen dem, was er aufschreiben und veröffentlichen, was er von Angesicht zu Angesicht erzählen wird, Jane, den Kindern, wem auch immer, wird vieles ungesagt bleiben.

Inmitten der Blumen, die er in China noch sammeln wird, auf den Philippinen und in Japan, wird etwas fehlen. Obwohl es am Ende Tausende sein werden, von denen ein gutes Dutzend seinen Namen tragen wird, und Tausende und Abertausende von geschmuggelten Teepflanzen und Samen, die den Tee von Assam begründen und den Tee von Darjeeling. Eine Goldader, gewaltig und unerschöpflich wie die Wasser des Ganges, die gemeinsam mit dem Silberfluss des Opiums das Britische Empire zum größten und mächtigsten Reich der Welt machen wird.

Etwas wird fehlen.

Selbst dann noch, als er mit dem Porzellan, das er auf seinen Reisen durch China erwirbt, ein Vermögen zusammenträgt. Mit Jade und Edelsteinen, Lackkästchen und Schnitzereien und Bronzestauen.

Glück. Wohlstand. Erfolg. In glänzendem Ruhm. Wie er es sich immer erträumt hat.

Ein Sehnen wird bleiben, ihn heimsuchen, und wieder und wieder wird er ihm nachgeben.

Diesem Sehnen nach China.

Nach diesem Land, in dem er auf eine Art er selbst sein kann, wie es ihm in England nicht möglich ist, und doch auch ein anderer. Ein Mann, der Räuber in die Flucht schlägt, Taifune übersteht und Piraten austrickst. Ein Blütensammler, der ein Abenteurer ist.

Nur eine blutige Rebellion, die ein Königreich des Himmels in China errichten will, mit Gottes Segen, und ein zweiter Krieg um Opium und Tee werden ihn zwischendurch davon abhalten, diesem Sehnen nachzugeben.

Davon, das zu suchen, was er einst in China gefunden und verloren hat.

Ein Fluss aus Tausenden azurblau leuchtender Blütensterne neben einem Fluss aus Wasser und das Gesicht eines Mädchens.

Mit diesen Augen wie dunkle Mandelkerne, die unergründlich und tief waren und doch zu lächeln verstanden, manchmal mehr sagten, als Worte es vermocht hätten.

Ein Bauernmädchen, benannt nach dem Herbstmond, unter dem es geboren worden war. Das gegen ein herzloses Schicksal aufbegehrte, das man ihm aufzwingen wollte, und ihr Leben in ihre Kinderhände nahm. Im Kloster der Alten Haine und Jungen Bäume wiedergeboren, als das Mädchen mit dem Schwert, von leidenschaftlichem Herzen und unbezähmbarem Willen.

Lian. Biegsam wie eine Weide. Stolz und stark wie die Sonne.

Diese Tochter des Windes, die ihr Schwert für Gerechtigkeit und für die Schwachen erhob und dem Weg der Flüsse und Seen folgte. Die immer wieder fortgehen musste, um zurückzukehren.

Die ihn das Kämpfen lehrte und das Atmen. Ihn lehrte, was Freiheit war und was Mut.

Eine Frau gewordene Orchidee mit den Narben einer Kriegerin, unter seinen Händen, auf seiner Haut. In der er sich verlor und neu wiederfand, hoch oben in den Bergen, schwebend zwischen Himmel und Erde, über einem Meer aus Wolken. Wo sie ihn reich an allen Schätzen der Seele zurückließ und doch beraubt und leer.

Es kann nicht wirklich gewesen sein, wird sein Verstand ihm sagen. Die Unrast, die durch seine Adern pulst, wird bleiben. Dieser Hunger nach Antworten auf seine Fragen, seine Zweifel. Nach Spuren, nach Hinweisen, die ihm verraten, ob es Erinnerungen sind, die ihn heimsuchen, oder Träume.

Gewissheit kann er nur in China erlangen, auf alten Wegen dort und auf neuen.

Und überall, wo er in China hinkommt, wird er Ausschau halten nach dem Land der vier Flüsse, die im Kreis fließen. Den Berg der erhobenen Augenbraue suchen. Nach dem Kloster des Weißen Kranichs wird er überall fragen.

Immer wird er auf der Suche bleiben.

Auf der Suche nach Lian.

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