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Fallende Blätter kehren zu ihren Wurzeln zurück, heißt es.
Vielleicht war auch ich ein solches fallendes Blatt.
Letzten Endes hatte ich mich doch nicht Dong und seinen beiden Freunden angeschlossen. Nicht den Jüngern Hsiu-ch’uans, die auf chinesischem Boden ein Königreich des Himmels erschaffen wollten.
Es hätte mir gleich sein müssen, welchen Namen sie ihrem Gott gaben und wo dieser herkam. Ob Hsiu-ch’uan nun wahrhaftig der jüngere Bruder yesu jidus war. Des Gottessohnes, der für seinen Glauben an einem Kreuz aus Holz gestorben ist. Jeder Glaube war doch erst einmal fremd, sobald er sich über seinen Ursprungsort hinaus ausbreitete, bis man ihn sich zu eigen gemacht hatte. So war es auch mit der Lehre des Dao gewesen und mit derjenigen Buddhas, vor langer Zeit.
Es war mir jedoch nicht gleich.
Etwas an der Lehre Hsiu-ch’uans kam mir falsch vor und willkürlich. Dong sprach viel von Güte, noch mehr von Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit. Doch da war keine Güte, wenn er über den Weg zum Königreich des Himmels sprach. Nur Verachtung für alle, die derzeit noch diesen Weg versperrten. Keine Spur von Freiheit lag darin, Menschen mit wohlklingenden Worten zu verführen, statt sie zu überzeugen. Es zeugte nicht von Ehre, Seelen einzufangen, indem man Gewalt androhte oder gar anwandte. Ich fand keine Gerechtigkeit, keine Gleichheit in den flammenden Aufrufen, Andersgläubige zu vernichten und Andersdenkende auszumerzen.
In der glühenden Begeisterung Dongs für diese neue Bewegung witterte ich die Gier nach Macht, vielleicht nach Rache für eine früher erlittene Schmach. Einen Hunger nach Feuer und Blut, dem ich schon zu oft begegnet war.
Kein Umsturz konnte ohne Blutvergießen bleiben, das wusste ich. Und trotzdem graute mir davor, dieses Land mit einem neuen Krieg zu überziehen und Leid über die Schwachen zu bringen, über Frauen und Kinder, mochte die Sache auch noch so eine gute sein.
Das war nicht das, wofür ich meinen eigenen Kampf ausgefochten hatte, jeden einzelnen Tag in den vergangenen zehn Jahren.
Also verließ ich diese Stadt jenseits der Zeit. Diese Gegend, die vielleicht der Ursprung einer Ära sein würde. Eines neuen Krieges.
Ich ging ohne ein Wort des Abschieds und in tiefster Nacht, wie ich es gewohnt war.
Ich ließ mir Zeit auf meinem Weg. Einen ganzen Winter lang, während ich durch das Land zog.
Zu Fuß. Manchmal an Bord eines Kahns. Auf dem Karren eines Bauern, zwischen Kohlköpfen oder Brennholz.
Ich nahm nicht den direkten Weg. In Schleifen und Schlenkern legte ich ihn zurück und mit vielen Unterbrechungen.
Als suchte ich einen Grund, meinen Weg nicht fortzusetzen.
Einen Grund, ihn weiterzugehen.
In der Provinz des Weiten Landes begegnete ich weiteren Predigern Hsiu-ch’uans und ihres Weißen Gottes. Nur aus der Ferne; jedes Mal, wenn einer von diesen langhaarigen Gesellen meinen Weg kreuzte, wich ich rasch aus oder machte gleich ganz kehrt. Nicht, weil ich ihnen grollte oder sie verachtete: ich fürchtete, der Verlockung ihrer Worte doch noch zu erliegen.
Ihren inbrünstigen Reden entkam ich in Guangxi dennoch nicht, sie waren hier in aller Munde. Mit einer hoffnungsvollen Heftigkeit, einer glühenden Schärfe, die nicht zu diesem Landstrich passen mochte, der so sanft aussah mit seinen gewellten Reismeeren, den verwunschenen Seen und den Felsen wie verzauberte Zwergenvölker. Wo die Zhuang in ihren Trachten an fröhliche Wiesenblumen erinnerten und den Wasserbüffel verehrten und die Maonan ihre Kleidung für den Spiegel ihrer Seele hielten: je bunter, je aufwändiger bestickt und verziert, desto schöner war die Seele des Menschen, der sie trug.
Auch über die Nian erzählte man sich viel in dieser Gegend. So nannte man die gefürchteten Banden von Dieben und Räubern, die den Leuten im Süden das Leben schwer machten und die Jünger Hsiu-ch’uans totschlugen, wenn sie sie in die Finger bekamen. Ihre alten Rivalitäten untereinander hätten sie begraben, so munkelte man. Stattdessen rotteten sie sich zusammen und lauerten an den Ausläufern der Berge kaiserlichen Beamten und Steuereintreibern auf, mit dem Ziel, den Mandschu das Wasser ihrer Macht abzugraben.
Auf meinem Weg begleiteten mich nicht nur das Stampfen von Zugochsen und das Klappern von Eselshufen. Nicht nur Räderknirschen auf staubigen Straßen, das Rauschen des Regens und die vielen Stimmen des Windes, die Lieder der Vögel und die Stille der Nacht. Die Stimmen der Menschen im Land begleiteten mich ebenfalls. Die Namen, die sie mal voller Angst, mal mit glühender Begeisterung, aber immer ehrfürchtig im Mund führten.
Weißer Lotos. Rote Turbane.
Die Gesellschaft von Himmel und Erde.
Acht Trigramme. Drei Tropfen.
Die Namen alter Geheimbünde, die schon gegen die Herrschaft der Mongolen gekämpft und sich auch gegen die Mandschu erhoben hatten in früheren Zeiten, mit ihren Waffen sogar schon einmal vor den Toren der Verbotenen Stadt gestanden waren.
Sie sind wieder da, flüsterte man sich zu. Sie sind zurück und stärker denn je. Sie bringen die Mandschu zu Fall und holen uns die Ming zurück.
Überall hörte ich davon. In Hunan, dem Land der Katzenberge, der Moschusochsen und Honigbienen, wo man Tabak anbaute und Hanf. Wo die Tujia, die Tiger und Schildkröte verehrten, stets ein Lied auf den Lippen hatten. In ihrem uralten Tanz stellten sie Kriege dar, Liebeswerben, die Jagd und den Ackerbau und zahlten ihre Steuern an den Kaiser in kostbarstem Brokat. Die Frauen der Kam waren an ihrem reichen Kopfputz aus Blüten und Federn zu erkennen, während die Frauen der Miao schweren Silberschmuck liebten.
Die Gerüchte über Unruhen und Aufstand begleiteten mich durch das Land der vier Kostbarkeiten von Kupfer, Silber, Gold und Porzellan – Jiangxi, das Land des Wandernden Sees. Ein See, der so weit, so wild war, dass Schiffe in seinen Fluten verschwanden, und dessen Ufer im Winter weiß waren von den Kranichen, die für diese Zeit ihrer kalten Heimat entflohen waren. Zwischen den Bergen Fujians, im Land der runden Häuser der Hakka, wo die Frauen der She an prächtige Singvögel erinnerten und man die Toten verbrannte statt begrub, hörte ich sogar den Namen meines alten Klosters: Die Mönche der Alten Haine und Jungen Bäume würden ihr Nest in den Wolken verlassen und mit ihren Zauberkräften die Heere der Mandschu hinfortfegen. Die Hoffnung, die dabei in den Worten der Menschen mitschwang, schnitt mir genauso ins Herz wie mich Zorn und Hass in den Augen beunruhigte.
An der Küste der Tausend Inseln, von denen eine Zhoushan hieß, hörte ich zum ersten Mal von einem Geheimbund, der in Shanghai zusammengefunden hatte: der Bund der Kleinen Messer, manche nannten ihn auch den Bund der Kleinen Schwerter.
Sofort musste ich an Älterer Bruder und seine Schmetterlingsklingen denken. An all die hässlichen Worte, die er zu mir gesagt hatte, in jener Gasse in Shanghai, vor gut einem Jahr.
Worte, schon fast vergessen, die mich jetzt durch das Land der Stromschnellen begleiteten, das Land von Fisch und Reis. Durch die Berge des Wildgansweihers und Großen Drachensees. Durch die Berge der Himmlischen Augen und des Seelenfelsens.
Auf welcher Seite ich stünde, hatte mich Älterer Bruder gefragt.
Noch immer stand ich den Schwachen bei, den Unterlegenen. Verdiente mir damit eine Schüssel Reis und einen Platz für die Nacht. Ein Hemd, eine kaum getragene Jacke, sogar ein Paar fast neuer Stiefel – gute, haltbare Männerstiefel, der Dank eines betagten Schusters, weil ich eine Horde Plünderer aus seiner Werkstatt vertrieben hatte.
Noch immer stand ich auf der Seite meines Gottes, der tausend Gestalten hatte und doch kein Gesicht. Dessen Gesetze niemand je niedergeschrieben hatte und die doch wie in Stein gemeißelt waren. Ich kämpfte noch immer für Gerechtigkeit, aber ich wusste nicht, für welche Seite.
Es gab zu viele Seiten in diesem Land. Zu viele Sichtweisen auf die Welt, auf Richtig und Falsch, zu viele Ansprüche an Geltung und Macht. Zu viele Wahrheiten und zu viele Arten, Gerechtigkeit zu verstehen.
Unsere Welt teilte sich schon lange nicht mehr in Yin und Yang: Der Strudel eines beginnenden Chaos hatte es ergriffen.
Zerrissen war mein Land, unter der Herrschaft der Mandschu. Unter den alten Nahtstellen zwischen Han und Hakka und endlos vielen anderen Völkern und Völkchen. Vielleicht war es schon zerrissen gewesen, bevor die fremden Barbaren kamen, und der Krieg, der stetige Zustrom an Männern des Westens, ihre Gier nach Geld und Macht waren nur die letzten Tröpfchen, die das Fass bald zum Überlaufen bringen würden.
Man musste nicht weit in die Ferne blicken, um die finsteren Wolken zu sehen, die sich wie Pulverqualm am Horizont zusammenballten und unter denen sich der Himmel färbte, rot wie Blut.
China war drauf und dran, sich selbst zu zerfleischen.
Und es gab nichts, was ich hätte tun können, um das aufzuhalten.
Trotz aller Umwege hatte mich mein Weg immer weiter in den Norden hinauf geführt. Wie ein Zugvogel, der sich auf Strömen von Wärme dort hoch gleiten lässt, ins Landesinnere hinein.
Ich hatte mich nicht für irgendeine Seite entschieden. Nicht für ein großes Ziel.
Ich hatte mich für die Freiheit entschieden, das zu tun, was ich für das Richtige hielt. Mochten die Folgen auch noch so weitreichend, noch so unabsehbar sein. Dafür entschieden hatte ich mich, das zu tun, was ich tun wollte. Mochte es auch selbstsüchtig sein, ich danach mit leeren Händen, einem leeren Herzen zurückbleiben. Dieses Wagnis musste ich eingehen. Niemandem sonst war ich das schuldig – außer mir selbst.
Und dann war ich in Anhui.
Nicht das Anhui, in dem ich großgeworden war und in das ich niemals mehr zurückkehren wollte. Sondern das auf der anderen Seite des Flusses, am südlichen Ufer.
Nicht das Anhui der weiten Ebenen mit Vieh und Getreide, wo der Himmel endlos war. Sondern ein Anhui der weichen Hügel und Täler, mit mächtigen Bergen und Feldern von Tee und Reis.
Die Luft war jedoch dieselbe; nach Flusswasser und schwerer Erde roch sie. Nach der Mühsal und den Unwägbarkeiten eines Lebens, das sich aus dem Ackerboden speiste und den Launen der Elemente unterworfen war. Nach schmalen Hoffnungen und kleinen Freuden.
Dieselbe Luft, die bei meinem ersten Schrei meine Lungen gefüllt hatte und in der ich eine viel zu kurze Kindheit verbrachte. Die ich jetzt wieder atmete, tief in meine Lungen sog, mehr als zwanzig Jahre später, oben auf einem Hügel, mit Blick auf das Land vor mir.
Erinnerungen überfluteten mich. An meine Mutter. Meinen Vater. Meine Brüder und Schwestern. An das gleichmäßige Muster der Tage im Jahreslauf, an glückliche Momente und traurige. Die Geräusche und Gerüche in unserem Häuschen, im Stall, auf den Feldern: von Ziegen, Schweinen und Hühnern und dem Wetzen der Sense, nach Mist und Dungfeuer. Nach dem ersten zarten Grün jungen Getreides in nasser Erde, dem Staub abgeernteter Felder in der Sonne des Spätsommers und nach Pilzen, die, auf Schnüren aufgefädelt, unter dem Dach trockneten. Der Geschmack von Eiertaschen mit Schweinefleisch und von der Suppe aus Fröschen, die mein ältester Bruder für uns fing.
Ich wäre ein anderer Mensch geworden, wäre ich geblieben.
Ich hätte ein anderer Mensch sein müssen, geprägt von dieser althergebrachten Art zu leben, von den Händen meiner Mutter nach dem Vorbild von Generationen von Mädchen und Frauen in Form geknetet. Trotzdem war etwas an mir so unnachgiebig gewesen, dass ich mich nicht länger biegen ließ, sondern ausbrach.
Und jetzt stand ich hier, auf diesem Hügel, als die, die ich heute war, und zögerte. In einer Art von Furcht, für die ich mich schämte, einer Art von Sehnsucht nach dem Zuhause, das ich einmal gehabt hatte. Nach dem Mädchen, das ich einmal gewesen war.
Größer jedoch und stärker war ein anderes Sehnen, das an mir zerrte. Ich gab mir einen Ruck und setzte meinen Weg fort, hin zu den Gelben Bergen, in Richtung des Sungloshan.
Inmitten der sanften Wellen von Silber und Grün bearbeitete ein Bauer seinen Gemüseacker. Ein noch junger Mann, das sah ich von Weitem, dem die Arbeit gut und flink von der Hand ging.
Ein kleiner Junge, nicht älter als vier Jahre, half ihm dabei, indem er die Steine aufsammelte, die über den Winter in den Ackerboden gewandert waren, und sie an den Rand des Feldes trug.
Wehmut machte sich in mir breit, hinterließ ihren bittersüßen Geschmack auf meiner Zunge: Als ich noch ein kleines Mädchen gewesen war, hatte ich diese Aufgabe auch von meinem nächstältesten Bruder übernommen.
»Verzeiht«, sprach ich den Bauern an, der den Kopf hob. Wie alle Bauern auf dem Feld trug er seinen langen Zopf zu einem Knoten gewunden.
Er war wirklich noch sehr jung, jünger als ich. In seine noch burschenhaft weichen Züge hatten Sonne und Wind jedoch bereits eine unzeitige Härte geritzt. Ich hatte vergessen, wie schnell die Menschen hier verwitterten.
»Ich suche die Familie von Wang, der lange Zeit auf Wanderschaft gewesen ist, in den Städten der Küste. Und den Fremden, der bei ihnen lebt. Xinghua. Ein Riese mit blauen Augen.«
Der Bauer richtete sich auf, rieb mit der freien Hand seinen unteren Rücken und nickte eifrig.
»Jaja, ich kenne die Familie. Auch den Fremden habe ich schon gesehen. Wenn er über die Felder läuft und sich nach jedem Grashalm bückt.«
Seine Worte, sein gutmütiges Lächeln ließen mich schmunzeln.
»Wenn Ihr den Pfad hier weitergeht …« Mit seiner verhornten, erdverkrusteten Hand wies er mir den Weg. »Jenseits des Waldes kommt ihr an ein Dorf. Die Wangs leben oben am Hang. Das zweite Haus ist es, glaube ich. Aber im Dorf kann man Euch sicher sagen, welches Haus es genau ist. Euch auch hinbringen, wenn Ihr wollt.«
»Habt vielen Dank.«
Ich verneigte mich vor ihm und fing einen Blick aus großen Kinderaugen auf.
»Hast du denn keine Angst?«, piepste der Junge, der zuvor mich und vor allem das Schwert auf meinem Rücken ehrfürchtig in Augenschein genommen hatte.
»Wovor?«
»Der Riese …« Er presste den Stein in seinen Händen an sich, wie zum Schutz. »Ich glaube, der beißt.«
Ich musste lächeln.
»Nein, keine Sorge. Ich kenne ihn, der beißt nicht. Ganz bestimmt nicht. – Er hat zu Hause auch einen kleinen Jungen. Einen Jungen wie dich«, setzte ich hinzu, obwohl es mir schwer ums Herz wurde dabei. »Und ein kleines Mädchen.«
Der Junge nickte. Wenig überzeugt, presste er den Stein nur umso fester an sich.
Wohin Fortune in diesem Land auch ging, wie er sich auch kleidete – er würde immer ein Fremder bleiben, der misstrauisch machte oder zumindest neugierig. Der Rätsel aufgab.
Das Lächeln blieb auf meinem Gesicht, als ich weiterging, meine Schritte leicht und wie auf Flügeln. Durch den Wald und auf das Dorf am Fuß des Sungloshan zu. Den hellen Häusern entgegen, die mich an mein Elternhaus erinnerten.
Zurück zu Fortune.